Georg Gänswein, Nient’altro che la verità. La mia vita al finaco di Benedetto XVI, Edizione Piemme 2023. 336 S. Ca. 20,- € (Kindle: 11,99 €).

Am Anfang stand Schweigen, und in Stille vollzog sich das Ende. 19. April 2005, am frühen Nachmittag. Joseph Ratzinger, als Kardinaldekan Wahlleiter im Konklave, begab sich zu Fuß von Santa Marta in die Sixtinische Kapelle, anstatt die anderen Kardinäle im Minibus zu begleiten. Zu voll war der Kopf und zu bang das Herz über das, war sich in den ersten drei Wahlgängen immer deutlicher abzeichnete: Statt des endlich erhofften Ruhestandes wurde ihm die Bürde des Petrusdienstes auf die Schultern gelegt. So gab er auf diesem Weg kein Wort von sich. Zeuge dessen war Georg Gänswein, sein Privatsekretär seit 2003. Knapp acht Jahre später: 28. Februar 2013. Gänswein saß neben Benedikt XVI., als der Hubschrauber in den letzten Stunden des Pontifikates den Apostolischen Palast in Richtung Castelgandolfo verließ. Der Pilot schwenkte eine Ehrenrunde um den Cupulone des Petersdoms und überflog die römische Altstadt, bevor sie das Zentrum der katholischen Christenheit in den römischen Abendhimmel hinein verließen. Die Hauptperson – gedankenverloren, ins Gebet versunken.

Diese bewegenden Stunden werden wach, wenn man Georg Gänsweins Erinnerungsbuch an seine Jahre an der Seite von Benedikt XVI. liest – und es bald nicht mehr aus der Hand legen kann. Denn nicht nur äußere Ereignisse werden vom Kronzeugen dieser zwanzig Jahre wachgerufen, sondern man meint streckenweise gerade auch an das Herz dieses unvergesslichen Menschen, Theologen, Kirchenmannes und Papstes zu rühren. So kann der Privatsekretär des Papstes etwa den von vielen bis heute nicht verstandenen Rücktritt glaubhaft machen: Benedikt habe schon 2005 mit Blick auf sein Alter, seine keineswegs robuste Natur, manche Erkrankung und die Last des Amtes geglaubt, es werde ein kurzes Pontifikat. Ebenso wurde es ihm seit dem Weltjugendtag in Madrid vom Sommer 2012 immer klarer, dass er das Amt in jüngere Hände geben sollte. Gänswein führt die Indizien an, die ihm im Gebet die unerschütterliche Gewissheit zu diesem Schritt gaben – wiederum in der Überzeugung, er habe ohnehin keine lange Lebenszeit mehr vor sich.

Diesen beiden dramatischsten Momenten im Leben des bayerischen Papstes sind viele andere Schlüsselszenen dieser zwei Jahrzehnte beigesellt, gerade auch solche, die in der Öffentlichkeit manchen Staub aufgewirbelt haben:

  • die Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft und die vom „Spiegel“ just in diesen Tagen veröffentlichten Äußerungen von Bischof Williamson, einem der vier, im Sinn einer Leugnung des Holocausts (insgesamt eher ein Beleg für mangelnde Professionalität im Staatssekretariat);
  • „Vatileaks“, die Affäre um die vom Kammerdiener Paolo Gabriele an die Presse weitergereichten Briefe und Dokumente (erhellend die Beziehungskonstellationen, die diesen schweren Vertrauensbruch begünstigte, und bewegend Benedikts Weigerung, einen Sündenbock dafür abzustempeln, vielmehr sein väterliches Mitleid mit dem Übeltäter);
  • die Regensburger Rede, die von vielen zuvor ohne Beanstandung gegengelesen worden war und deren Reaktionen den Pontifex wirklich unvorbereitet trafen (eines der vielen Beispiele dafür, wie sehr schlagzeilenfixiert und wie wenig fähig, auch nur zwei Sätze im Zusammenhang zu verstehen, die Weltöffentlichkeit geworden ist);
  • dasselbe gilt auch für manche andere inszenierte öffentliche Empörung, etwa zu den Kondom-Äußerungen bei der Afrikareise oder natürlich auch zu den absurden Beschuldigungen der Lüge anlässlich der Stellungnahme zum Münchener Missbrauchsgutachten zu Beginn seines Todesjahres 2022 – wie tief ihn der Vorwurf traf, glaubt man dem Buch aufs Wort;
  • die traurige Geschichte der spurlos verschwundenen Emanuela Orlandi und die leider nicht selten eher sensationslüsternen Spekulationen um die Hintergründe werden einfühlsam und sachbezogen auf die Fakten zurückgeführt;
  • natürlich auch das Lieblingskind mancher Kreise, der Antagonismus zwischen Benedikt und Papst Franziskus – dazu gleich mehr.

Bei allem hat Gänswein die Gabe, gerade durch die Nahaufnahme Dinge ins rechte Licht zu rücken, Wahres vom Falschem zu scheiden und nicht zuletzt durch die menschliche Seite des Papstes Vorfälle erst wirklich in ihrem Gewicht zu begreifen. Natürlich nutzt der Autor – nur sehr sparsam und gerade dadurch umso glaubwürdiger – den Bericht auch, um die eigene Person vor ungerechtfertigten Vorwürfen in Schutz zu nehmen. „La mia vita – mein Leben“ heißt es darum ja auch im Untertitel des Buches. In der öffentlichen Meinung ist man niemals zimperlich mit ihm umgegangen, leider auch nach Benedikts Tod, und so dienen manche Ausführungen zu Recht dem Schutz seines guten Rufes.

Was ist nun mit dem Mythos „Benedikt gegen Franziskus“? Auch hier ist es wieder das Menschliche, das unmittelbar überzeugt, etwa Benedikts ehrlicher, in tiefer Überzeugung geleisteter Akt des Gehorsams gegenüber seinem Nachfolger und sein Bemühen, alle Außenkontakte nur in Absprache mit ihm zu gestalten. Seinerseits bemühte sich Papst Franziskus stets redlich um seinen Vorgänger. Sofort nach seiner Wahl rief er in Castelgandolfo an – wo man aber das Telefon abgestellt hatte! Ebenso stand er spontan am Eingang des Klosters „Mater Ecclesiae“, der Bleibe des Papa emeritus, als dieser von Castelgandolfo zurückkehrte. Und nicht anders als ein guter Pfarrer kam Franziskus regelmäßig zu Besuch, etwa zu Geburtstag und Namenstag, und brachte einen argentinischen Wein und eine süße Milchspezialität, „dulce de leche“, mit. Echt und herzlich war dessen Anteilnahme am Sterben seines Vorgängers. Bereits zehn Minuten nach der Todesnachricht am 31. Dezember 2022 stand er am Lager Benedikts, betete und segnete ihn. Dass beim enormen Unterschied der Persönlichkeiten, der Ansätze und gewiss auch der Theologien das Verhältnis auf beiden Seiten auch großmütige Geduld verlangte, braucht dagegen nicht verschwiegen zu werden, und Gänswein tut das auch nicht. So berichtet er, dass Franziskus seinem Vorgänger sein großes „Civiltà cattolica“-Interview mit Antonio Spadaro zugeschickt habe, zu dem Benedikt einige äußerst treffende Klarstellungen notiert habe. Später verzichtete der Papst „feliciter regnans“ dann darauf, ihm solche Dokumente zuzuschicken…

Nicht weniger präzise waren Benedikts differenzierten Vorbehalte zu „Amoris laetitia“ und natürlich zu „Traditionis custodes“. Bei der Zurücknahme der großzügigen Erlaubnis der Alten Messe ist das Befremden des Emeritus mit Händen zu greifen. Zur neuen Sicht auf wiederverheiratete Geschiedene und überhaupt auf gender-Fragen erinnert Benedikt an den Einsatz von Johannes Paul II. für das Leben, der nicht als Moralismus abgetan werden dürfe. Prophetisch hätte er vielmehr erkannt, dass es dabei um nicht weniger als um das Nein zum Schöpfer ging. Dann sei das Mann- oder Frausein nicht mehr vorgegeben, sondern es werde zum beliebigen Produkt der eigenen Wahl. Sich als Papst bei der Verteidigung der Lehre vornehm zurückzuhalten und die Bischöfe vor Ort in Pflicht zu nehmen kann der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation aus langjähriger Erfahrung als illusorisch zurückweisen: Die Bischöfe und Bischofskonferenz hätten solche heißen Kartoffeln immer gerne nach Rom weitergereicht.

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Heftig war die Verstimmung von Franziskus nach der unglücklichen Aktion der Veröffentlichung des Zölibatsbuches. Kardinal Sarah hatte es zusammen mit dem französischen Verlag als Gemeinschaftswerk mit Benedikt tituliert und es im Umkreis der Amazonassynode herausgegeben. Das wirkte auf den Pontifex so, als wollte sein Vorgänger ihm in den Arm fallen. Aus dem Abstand von 1000 km heraus erscheint das Ganze allerdings wie ein Sturm im Wasserglas. Hatte der Papst nicht wiederholt zur offenen Diskussion ermutigt? Sarahs Leidenschaft für den Zölibat verdient jedenfalls allen Respekt. Sie macht auch seinen Übereifer mehr als verzeihlich. Aber dass Benedikt ein langes Erklärungsschreiben aufsetzen musste und dass Gänswein als Folge des Sarah-Buches vom Papst seiner Aufgabe als Präfekt des Päpstlichen Hauses enthoben wurde, ist wohl nur aus der bis heute übersteigerten Papalatrie in der vatikanischen Verwaltung zu erklären. Sie verwechselt Treue damit, vor jedem Satz drei Verbeugungen in Richtung Santa Marta zu machen. Nein, jede Reform der Kurie, die nicht Loyalität und Gehorsam der dort Arbeitenden entmythologisiert, wird immer im Sande verlaufen. Dass Gänswein persönlich von dieser Demission tief getroffen war, erst recht von deren knappen, erklärungslosen Mitteilung, ist verständlich und nachvollziehbar. Da wirkt Franziskus wie ein vorkonziliarer Jesuitenoberer, für den der nackte Gehorsam und eine kräftige Demütigung die beste geistliche Nahrung darstellen. Vor Erscheinen des Buches stand diese Episode ganz im Mittelpunkt der geschürten Erregung, doch sie ist nur ein kleines Detail im Gesamt.

A propos Kurie. Manche Namen fallen, auch bedeutende, und nicht selten werden deren Schwächen, Defizite und Fehlentscheidungen sichtbar. Das ist um der Glaubwürdigkeit willen unverzichtbar, wird aber in keinem Fall persönlich verletzend. Bei alldem gewinnt man eine Vorstellung von dem, was es heißt, zwanzig Jahre lang an herausragender Stelle in der vatikanischen Verwaltung zu arbeiten. Fazit des Lesers am Ende: Alles eigentlich ganz normal und ziemlich menschlich. Und um mit eben diesem Menschlichen zu schließen: Was wäre ein Erinnerungsbuch ohne das Alltagsleben?

  • Etwa die Geschichte der schwarzen Strickjacke, die Benedikt am Abend des 19. April 2005 auf der Benediktionsloggia unter dem Talar trug. Beim wortlosen Gang von Santa Marta in die Sixtina – „der längste und mühseligste Spaziergang meines Lebens“ – wollte Gänswein wohl irgendwann das Schweigen brechen und bemerkte an der stets zugigen Passage hinter dem Petersdom, dass es recht frisch sei. Daraufhin zeigte Ratzinger ihm die Strickjacke, die er angezogen hatte, weil es morgens in der Sixtina empfindlich kalt gewesen sei. Nach der Wahl war der Sekretär alarmiert und bat den Zeremoniar Marini, ihn unbedingt daran zu erinnern, die Jacke abzulegen, bevor er sich der Öffentlichkeit zeigte – was dieser natürlich prompt vergaß.
  • Einfach nett ist die Geschichte um die eine und einzige Stimme, die Kardinal Giacomo Biffi bis zum letzten Wahlgang des Konklaves von 2005 erhielt. „Wenn ich herausbekomme, wer das war, bekommt er eine Ohrfeige!“ Nun, vieles spricht dafür, dass er dann dem neugewählten Papst eine Watschen hätte verpassen müssen!
  • Ein Trost für alle Theologiestudenten, die sich mit den alten Sprachen schwertun, sind die Lateinfehler bei Benedikts Abdankungserklärung, vor allem durch das Presseamt, wonach Benedikts Amt am 28. Februar um 29 (!) Uhr endete. Wenn man das wörtlich genommen hätte!
  • Oder dass Pfarrer und Bürgermeister von Brescello zu Besuch kamen, um dem großen Don Camillo-Fan Benedikt die gesammelten DVD’s der Filme mit Fernandel zu überreichen.
  • Dass ihnen beim ersten Besuch in den päpstlichen Gemächern nach der Wahl ein penetranter Geruch von Krankenstation entgegenwehte – eine schmerzhafte Erinnerung an die letzte Lebensphase von Johannes Paul II.
  • Dass Josephs Schwester Maria einen Schlaganfall erlitt, kurz nachdem dies Joseph selbst im September 1991 zugestoßen war. Nur dass dieser sich bald und restlos davon erholte, während Maria noch am selben Tag daran verstarb. Das bewegte ihn tief, und es war ihm, als hätte sie ihm ihr eigenes Leben geschenkt.
  • Bewegend auch der letzte Besuch beim so innig verbundenen Bruder Georg in Regensburg kurz vor seinem Tod am 1. Juli 2020, trotz eigener Gebrechen und aktuell schwerer Schmerzen aufgrund einer Gesichtsrose.

All das sind nur wenige Einzelheiten aus einem inhaltsreichen, flüssig geschriebenen und von tiefer, aber nicht blinder Verehrung geprägten Buch. Wer Benedikt XVI. und sein Pontifikat ebenso wie die Zeit als Emeritus näher kennenlernen will, sollte unbedingt zu ihm greifen. Eine deutsche Ausgabe (vielleicht bereichert um ein kleines Namensverzeichnis) ist dringend zu wünschen. Und dem Autor selbst, einer kraftvollen, erfahrenen, integren und klugen Persönlichkeit, ist nun eine neue Aufgabe als Erzbischof zu wünschen, die ihm selbst und nicht den verbreiteten Klischees angemessen ist. Er ist gereift in einer Aufgabe, die er zwanzig Jahre in selbstloser Treue erfüllt hat, obwohl 2003 nur von einem vorübergehenden Provisorium die Rede war. Daraus entstand eine Bindung, ja Beanspruchung der besten Jahre seines Lebens, wie sie sonst nur Menschen aus Liebe zu ihren alten Angehörigen kennen. So gilt für ihn sicher das petrinische Wort: „Ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18).

Ein Gedanke zu „Georg Gänsweins Erinnerungsbuch über Papst Benedikt XVI.

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