Adalbert Stifter, Bunte Steine. Vorrede

in: Gesammelte Erzählungen in drei Bänden. Bd. 1, Leipzig 1954, 1-8

„Spielereien für junge Herzen“

1853 arbeitete der böhmisch-österreichische Dichter Adalbert Stifter (1805-1868) an einer kleinen Neuausgabe von sechs seiner Erzählungen, die er allesamt mit Namen von Steinen umbenannte: Granit, Kalkstein und Turmalin (Band 1) sowie Bergkristall, Katzensilber und Bergmilch (Band 2). Dazu verfasste er im Herbst 1852 ein Vorwort, das zu einem seiner bekanntesten Texte avancierte. Gelegentlich findet es sogar den Weg bis in die Schule. Doch wie immer arbeitete Stifter minutiös an jedem Wort, und so muss man auch seine Vorrede mit großer Liebe zum Detail lesen, sonst wird man sie missverstehen. Denn beim ersten Lesen erscheint sie als Hoheslied des Kleinen, Bescheidenen, Pflichttreuen und Ordentlichen. Wie viele seiner Texte kommt die Vorrede leicht, angenehm und vielleicht sogar ein bisschen hausbacken daher, und so hat man sie auch oft gedeutet: als biedermeierliche Stubenphilosophie. Und das nicht erst seit der Literaturwissenschaft im 68er-Gewand, der alles Unpolitische als Verrat galt.

Sehen wir aber genauer hin. Auslöser der Vorrede war die penetrante Kritik an Stifters so ganz unspektakulären Gestalten und seinem undramatischen Stil, am spektakulärsten durch den Dramatiker Friedrich Hebbel (1813-1863), auf den er im ersten Satz anspielt: „Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde, und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien.“ Dies richtigzustellen nimmt den ersten Teil der Vorrede ein, ironischerweise durch Unterbietung: Seine sechs Erzählungen – gedacht als Jugendbuch – böten sogar „noch Kleineres und Unbedeutenderes […], nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen“. Biedermeierlicher Krimskrams also? Man liest diesen Anfang der Vorrede ein zweites Mal, ein drittes Mal, und immer mehr drängt sich der Eindruck auf: In jedem Satz tun sich immer neue Ebenen auf, Themen, Einsichten und Anspielungen, so dass das mit den „Spielereien für junge Herzen“ nichts als Ironie ist, eine späte Reminiszenz an Stifters spätromantische Anfänge. Oder vielleicht sogar viel mehr, nämlich das „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ des Evangeliums (Mt 18,3)? Gewiss, doch völlig unaufdringlich: „Es soll sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, wie es gebräuchlich ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind.“ Die „Bunten Steine“ bieten somit keine pädagogisch wertvolle, moralisch einwandfreie Jugendlektüre, wie sie damals wie Pilze aus dem Boden schoss, sondern sie erzählen aus dem Geist der Kinder (und zwar durchaus für Erwachsene!). Kinder reflektieren noch nicht ständig auf sich selbst, sondern sie sind einfach, was sie sind, und, geb‘s Gott!, sie sind gut und strahlen darum Gutes aus.

… sie sollen nur durch das wirken, was sie sind

Damit ist Stifter schon ganz mühelos auch bei dem großen Thema Kunst und Leben. Große Kunst, Kunst von erwachsenen, selbstreflektierten Wesen, stellt nach Stifter „Dichtung“ dar. Sie beschreibt das Erhabene – bei Friedrich Schiller bekanntlich Ausdruck des frei gewählten Guten sittlicher Helden -, doch das gelingt selten, endet dagegen allzu oft im Zertreten des Guten, denn „falsche Propheten aber gibt es sehr viele“. Das Erhabene der Sittlichkeit und das Schöne der Natur – philosophisch Interessierte werden da nur wissend lächeln. Doch auch zu dieser Lieblingsunterscheidung der Ästhetik wird Stifter einen ganz eigenen Beitrag liefern. Zunächst aber fragt er sich bescheiden: Was aber, wem dieser hohe Ton eines Dichter-Priesters nicht vergönnt ist? Etwa ihm selbst, Adalbert Stifter? Er gibt sich ganz bescheiden. (So richtig nimmt man ihm, dem Sprach­asketen und sublimen Erzähler, diesen Bescheidenheits-Topos allerdings nicht ab.)

„Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen, ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht bei meinen Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht erreicht hätte.“

Auch dies hört sich wieder ganz nach trautem Beisammensein am warmen Kamin an. Doch auch dies ist wieder ironisch, genauer selbstironisch. Denn Kinder-Spielerei kennt keine Zwecke und Absichten, das gute Herz redet und tut Gutes, und sein Erkennungszeichen ist die Freude, die sich auf andere überträgt. Der gute Baum bringt gute Früchte hervor“ (Mt 7,17). Eine solche Kunst braucht „gleichgestimmte Freunden“ als Hörer – ein abschließender Hieb auf Hebbel und die Phalanx der Kritikaster, denn Gleiches wird nur durch Gleiches erkannt. Wenn diese Gegner dagegen „Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar“ suchen, dann wird ihnen der Wert solcher Erzählungen für immer verschlossen bleiben. Mit dem Wort vom Hass und Neid sind wir aber schon ganz am Ende der Vorrede angelangt, und damit ist schon klar, dass dieser erste Teil, der nur Vorspiel zu sein scheint, eine Ouvertüre ist, die bereits alle Themen anspielt.

Schulpforta (Thüringen; alle Bilder: M. Schulze)

Das Gesetz der Natur

Im zweiten Teil wird es nun wirklich ernst, und Ironie und Spiel scheinen weit entfernt. Die Frage ist nun: Was ist wirklich groß, was klein? Dabei wiederum zwei Teile: Groß und Klein in der Natur und unter den Menschen. Das war doch eben schon einmal aufgetaucht, nicht wahr? Eben, im Unterschied des Naturschönen und des sittlich Erhabenen. In der Tat, der springende Punkt der weiteren Seiten der Vorrede ist gerade dies: Wahre Sittlichkeit – Stifters viel zitiertes und selten verstandenes „sanftes Gesetz“ – besteht gerade im Leben im Einklang mit der eigenen Natur! Kein spektakuläres Gestikulieren mit der eigenen Existenz, kein Zelebrieren der Einmaligkeit, kein Geniekult und nicht einmal die Apotheose eines „höheren Menschentums“, überhaupt nichts ist zu tun, um damit die eigene „Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen“ (Mt 6,1), sondern… Oh, auch Nichttheologen können beim „sanften Gesetz“ dieses Schülers der Benediktiner von Kremsmünster die Anklänge an das Evangelium nicht überhören, an das „sanfte Joch“ der Weisung Jesu oder die Entlarvung der Pharisäer als Heuchler, weil sie ihre Taten vor den Menschen groß erscheinen lassen, ganz zu schwiegen von der „lex naturae“, die den Menschen in eine große Schöpfungsordnung einbindet und in die Pflicht nimmt. Aber alles Reihe nach! Zuerst als Groß und Klein in der Natur:

„Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor, und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen.“

Groß also ist die Ordnung der Natur, das hinter den noch so unbedeutenden Erscheinungen waltende Gesetz. Das ist Platon mit seinem Streben von den Erscheinungen (doxa) zur Wahrheit der Ideen (und letztlich bis zum einen Gott hinter und in allem). Aber mehr noch ist das christliche Schöpfungsfrömmigkeit. Und zwar eine, die ihre Nahrung gerade aus der Naturwissenschaft zieht! Beeindruckend etwa, wie Stifter die „Spielerei“ (da ist das Wort wieder) einer Kompassnadel weiterführt bis zur Entdeckung von Veränderungen im Magnetfeld der Erde infolge von vielen Einzelbeobachtungen. Noch beeindruckender, wie er die Naturwissenschaft als prinzipiell unabgeschlossene Erforschung der großen Ordnung hinter allem versteht und „Gott also die Freude und die Glückseligkeit des Forschens unversieglich gemacht hat“, wie er aber gleichzeitig ihre Grenzen darin begreift, dass „wir auch in unseren Werkstätten immer nur das Einzelne darstellen können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die Schöpfung“. Gott und die Wissenschaft so zusammenzuführen, das wäre selbst für einen Theologen bemerkenswert, nicht zuletzt durch Stifters Sinn für wissenschaftlichen Fortschritt als Vertiefung und Reinigung des religiösen Staunens: „[…] aber als ihr [sc. der Menschheit] Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu.“

Das sanfte Gesetz der Sittlichkeit

Doch auch diese Überlegungen zum Naturgesetz sind nur Vorspiel. Denn nun schreitet Stifter von der Natur zur Sittlichkeit des Menschen voran. Seine Pointe, die sich von Anfang an wie selbstverständlich einstellt: Auch hier entsteht wahre Größe aus dem Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur:

„So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben.“

Wie schön gesagt – und wie selten gemacht! In der Kunst, im Roman, auf der Bühne oder heute auf der Leinwand oder im Internet, da lieben die Menschen eben dieses Andere: große Gefühle, einsame Helden, Paradies auf Erden und Weltuntergangsszenarien. Das war wohl immer so, doch in spezifischer Weise war es nach dem revolutionären Jahr 1848 angesagt. Als faszinierend galt und gilt bis heute, was Ordnung zerbricht, Hergebrachtes verachtet und sich einen Dreck schert um Treue, Bindung und selbstlose Hingabe. Anders Stifter – verkörpert er da nicht gerade jenes Prophetentum, das er eingangs als zu hoch für sich zurückgewiesen hat? In der Kunst eine radikale Alternative zum revolutionsfreudigen „jung­en Deutschland“ von Heine, Börne, Gutzkow, Laube, Wienbarg und Mundt, und im Leben ein Lebemeister, kein bloßer Lesemeister (Meister Eckhart, Sprüche 2). An dieser Stelle ist er allerdings oft missverstanden worden. Man legte ihm eine Ethik der Entsagung, der Selbstverleugnung und der Unterwerfung unter gesellschaftliche Ordnungen bei, die jeder auch nur flüchtige Blick in seine Werke Lügen strafen würde. Nein, er vertritt vielmehr eine Ethik des Maßes. Selbsterhaltende, ichbezogene Kräfte werden durchaus anerkannt: „Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller.“ Doch diese Kräfte brauchen Maß und Ziel:

„Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem andern bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken.“

„[E]twas Höheres in uns“, das ist das Gewissen, und zwar unverkennbar das katholisch verstandene Gewissen als Mit-Wissen des Gesetzes Gottes, das dieser in die Schöpfung gelegt hat und das alle bindet und verbindet, so dass sie ihre Individualität überschreiten und sich „als ganze Mensch­heit fühlen“. Im Gewissen fühlt jeder Mensch die Verpflichtung, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, und hat auch eine Kenntnis der Grundgesetze dieser Pflicht, die Stifter schön umschreibt als

„[…] das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der Ehegatten zu einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zu einander, in der süßen Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden, in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die Ferne, für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen.“

Dieses Gesetz entspricht also ganz und gar der Natur des Menschen. Wer sich daran hält, kommt zu sich selbst und verwirklicht sich selbst, viel mehr als jemand, der rücksichtslos und ungebunden seine eigenen Interessen verfolgt. Diese Gewissheit war übrigens auch für den Pädagogen und Schulaufseher Stifter leitend. So ist dieses Gesetz nicht schwer, es ist „sanft“ – unverkennbar eine Anspielung auf das vielzitierte Schlüsselwort Jesu: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“ (Mt 11,30). Das ist das „sanfte Gesetz“, ebenfalls vielzitiert: „Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.“ Es führt die Menschen über ihre Privatinteressen hinaus, öffnet sie für das Ganze, so dass wir uns „als ganze Menschheit fühlen“. Dieses sanfte Gesetz ist keineswegs sozialkonservativ, es setzt wie jeder Rückgriff auf das Naturrecht ja unverrückbare Maßstäbe setzt „in der Ordnung und Gestalt, womit ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen“. Es relativiert soziale Unterschiede. Wer als Dichter auf dieses Gesetz schaut, von dem gilt: „Er sieht es eben so gut in der niedersten Hütte wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der Hingabe eines armen Weibes und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland und die Menschheit.“ Auch darin kann man einen Rückgriff auf christliche Ethik erkennen: Was einst Schafe von Böcken scheiden wird, wona­ch ausnahmslos jeder Mensch einmal gerichtet wird, das ist nicht sein äußerer Erfolg, seine materielle Stellung oder seine Ehre unter den Menschen, sondern allein seine Treue zum Gesetz Christi. Ja, Stifter sieht sogar gut christlich einen Vorzug der Armen, Unscheinbaren und Opfer. Wenn sie unter die Räder der Geschichte geraten und besiegt werden, „so fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen sie als triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das Gute größer ist als der Tod […]“ Natürlich ist das auch Herder, Goethe und deutscher Humanismus, aber eben doch mit einer unverkennbar Stifter‘schen Wendung:

„Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens.“

der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes.

Dem geschichtsbewussten Geist seiner Epoche verbunden, weist Stifter dabei durchaus auf einen Fortschritt in der konkreten Gestalt der Sittlichkeit hin, von körperlicher Stärke über „Tapferkeit und Kriegesmut“, weiterhin „Stammeshoheit und Familienherrschaft“, aber es wurden „inzwischen auch Schönheit und Liebe sowie Freundschaft und Aufopferung gefeiert“. Doch all dies ist nur ein Vorspiel der Geschichte hin zu einem christlichen Humanismus von Recht und Gerechtigkeit, von Mäßigung und Frieden, von Wissenschaft, Kunst und Religion, die „zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet“.

Zuletzt also ein fortschrittsgläubiger Stifter, ganz wie Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“? Nein, wohl eher ein Dramatiker aus christlichem Geist. Hebbel ist nichts dagegen! Denn so wie jede individuelle Existenz im Kampf steht zwisch­en Ichsucht und Bindung, so ist die Geschichte der Menschheit eingespannt zwischen Aufstieg und Selbstgefährdung. Diese Gefährdung geht nicht primär von von außen andrängenden Barbaren aus, nicht von ökonomischer Unterlegenheit oder militärischer Schwäche, sondern sie ist wesentlich sittliche Dekadenz. Abschließend wird Stifter nun in der Tat zum konservativen Mahner, doch auch hier in einer unverkennbar eigenen Tönung:

„Untergehenden Völkern verschwindet zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen sich mit kurzem Blicke auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Bedingte über das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das Sinnliche, sie suchen Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar, in ihrer Kunst wird das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkte Gültige, dann das Zerfahrene, Unstimmende, Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, Aufregende und zuletzt die Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren Feindes.“

Stifter als Prophet? „Der Leser begreife!“ (Mk 13,14).

Stifter war auf dieser Homepage bereits zu Gast im Sommerrätsel 2018 und seiner Auflösung

Ein Gedanke zu „Adalbert Stifter (1805-1868)

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