Wozu studiert man eigentlich? Hat vielleicht gar bereits die höheren akademischen Weihen eines Diplom, Magister, Staatsexamen, Bachelor oder Master erhalten? Um dadurch den Traumberuf zu erreichen? Um sich einem Fach zu widmen, das einem Spaß macht und in dem man schon in der Schule gut war? Um später einmal ein gesichertes, angesehenes und nicht zuletzt gut bezahltes Leben führen zu können? Alles gut, aber alles auch zu wenig. Unterm Strich ist das nicht mehr als die Tüte Pommes, um den Hunger zu stillen: ein Mittel zum Zweck. Doch Studium ist – Bildungspolitiker und Finanzminister weghören! – Selbstzweck. In sich sinnvolles Handeln. Freude an der Erkenntnis. Wahrnehmen und betrachten, denken und erkennen, durchleuchten und entlarven, argumentieren und systematisieren, fragen, wie es wirklich ist, den Dingen auf den Grund gehen und ihr Wesen und ihre Gesetzmäßigkeiten angemessen beschreiben. Studium und akademisches Leben schaffen eine Haltung, die ganz vom Geist bestimmt ist. Diese endet darum auch nicht am Tag der letzten Prüfung (oder wenn man die dann alle Studienbücher bei Ebay losgeworden ist und sich vom Erlös eine dufte Pool-Party in der Karibik leisten konnte). Einmal Akademiker, immer Akademiker. Das verlangt zumindest ihr Berufsethos. Das ist übrigens auch der Grund für die gute Bezahlung ihrer Berufe: Die Gesellschaft erkennt darin an, dass sie auf nichts so wenig verzichten kann wie auf Frauen und Männer, die ganz vom Geist bestimmt leben.

Um jetzt nicht in nebulöse Höhen des Parnass zu verschwinden, gleich die Einschränkung: Natürlich haben Studium und akademisches Leben auch eine Außenseite, also formalisierte Abläufe wie Semester, Lehrveranstaltungen, Prüfungen, Abschlüsse und Gehaltsgruppen. Natürlich dienen sie bestimmten Zwecken, darum müssen sie auch funktionieren und effizient gestaltet werden. Und ebenso natürlich gibt es viele Studenten und Studierte, denen es genügt, einigermaßen ungeschoren durch diesen Apparat zu gehen und dann die Vorteile zu genießen – so als wäre die Universität ein Fitnessstudio des Lernens: Sie kostet manchen Schweiß, belohnt dafür aber mit Stärke, Selbstbewusstsein und Status. Doch was viele tun, ist damit noch nicht richtig (übrigens ein Grundsatz allen geistigen Lebens!). Denn wenn man all diese Zweckmäßigkeiten wegstreicht, bleibt nicht nichts, sondern das Wesen des Studiums: Es ist ein Leben des Geistes. Drei Fragen stellen sich da: 1. Was ist dieses Leben des Geistes? 2. Was fordert es? 3. Wie gestaltet es sich für gläubige Katholiken?

1. Leben des Geistes: Was ist das?

Anima quodammodo omnia. – Die Seele ist in gewisser Weise alles.“ Der Geist ist offen für alles. Er ist nur Geist, wenn er beim Erkennen nirgendwo den Schlussstrich zieht: „Brauch‘ ich nicht, interessiert mich nicht!“ Offen für alles ist er in der Breite und in der Tiefe. Damit „die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen kann“, wie Martin Heidegger es in dem ihm eigenen Pathos sagt.

(a) In der Breite: Mit Staunen und Neugier fing die abendländische Geschichte des Geistes an (vgl. den Blog zu Ian Patoçka und Jean-François Mattéi), und mit eben dieser Einstellung beginnt sie auch bei jedem Einzelnen. Leben des Geistes ist das Gegenteil von Kirchturmdenken, also nicht weiter zu denken als es zur Bestreitung der Bedürfnisse meiner kleinen Welt notwendig ist. Gerade das, was keinen Zwecken dient, was nichts bringt und was bloß Wissen um des Wissens willen ist, hat es ihm angetan. Faktisch erweckt Wissenschaft heute dagegen oft den Eindruck, sie müsse ständig ihren Nutzen unter Beweis stellen, sonst sei sie überflüssig: Die Mediziner müssen endlich Krebs, Alzheimer & Co. besiegen, die Pädagogen die Schule mit dem Nürnberger Trichter erfinden und die Theologen die Zauberformel vorlegen, wie man lustig in der Welt leben und gleichzeitig den lieben Gott einen guten Mann sein lassen kann. Leider ist unser Studium heute fast ausschließlich fachwissenschaftlich ausgerichtet, und auch da spezialisiert man sich rasch in einer einzigen Sparte. Erst recht benötigt man später im Beruf oft nur wenige Prozent des Gelernten. Doch es damit genug sein zu lassen widerspricht der Natur des Geistes. Natürlich kann man nur an einem Punkt ganz vorne mitmischen. Doch das kann nicht heißen, bei allem anderen nicht mehr wissen zu wollen als der Mann auf der Straße. Nein, auch bei allem anderen will man’s wissen. So wird man am Ende eben nicht nur ein „Studierter“, sondern ein Gebildeter, vielleicht gar ein Gelehrter. (Letzteres heißt „doctus“ bzw. „docta“ und zeigt, dass eine Promotion noch einmal höhere Ansprüche an eine solche Allgemeinbildung stellt.) Hier ist übrigens der breite Lernstoff aus der Schule keine schlechte Grundlage. Es lohnt sich, das Gelernte immer einmal wieder aufzufrischen, zu vertiefen und sich für neuere Erkenntnisse in den Fächern zu interessieren.

(b) In der Tiefe: Beschlich da eben jemanden das Gefühl, Offenheit in der Breite sei nur ein vornehmerer Name für ADHS, also wie ein Grashüpfer auf jedes sich gerade bietende Thema zu springen? Nun, Offenheit des Geistes heißt nicht bloß „Alles Mögliche“, sondern allem auf den Grund gehen. Es ist wie in Platons berühmten Höhlengleichnis. Viele sehen nur die Schatten an der Wand, und das genügt ihnen. Doch Geist bedeutet, dieses hin und her huschende Höhlenwesen zu verlassen und nach dem wahren Wesen zu suchen. Wer die überschaubare, warme, gemütliche Höhle der Gewohnheit, das „Man sagt“ und „So wird das schon stimmen“ verlässt, vor die Höhle tritt und sich dem weiten Horizont der Welt öffnet – unsere „Breite“ aus (a)!-, der muss auch vom Meinen zum Begründen, vom Schein zur Wahrheit, vom oberflächlichen „So ist das eben“ zum hinter-gründigen „Darum ist das so, wie es ist“ kommen. Nicht umsonst tragen viele Fachbezeichnungen der Wissenschaft „logie“ in ihrem Namen: Philosophie, Psychologie, Philologie, Theologie usw. Denn Wissenschaft sucht den logos, die ratio, die Vernunft, die Gesetzmäßigkeit, vielleicht gar die mathematische Struktur hinter den Erscheinungen. Diese Wendung von den Erscheinungen zu den Gründen vollzieht ein Mensch des Geistes in allem, gerade auch im Alltäglichen. Wenn sein Arzt ihm eine Krankheit diagnostiziert, will er verstehen, was sich in seinem Körper gerade abspielt und nicht nur Geheimtipps in Gesundheits-Foren zur ultimativen Therapie erhalten. Bei tagespolitischen Streitthemen will er wissen: Was geht da wirklich vor? Was steht alles noch auf dem Spiel? Was sagen die nüchternen Zahlen? Im Gespräch bleibt er nicht bei dem stehen, was cool ist, prickelnd oder gar vulgär, sondern er lenkt die Aufmerksamkeit auf Unbekanntes, Ungedachtes und… Unzeitgemäßes.

2. Was fordert das Leben des Geistes?

In die Breite und in die Tiefe, beides verlangt viel vom Akademiker, sonst wird er ein Schwätzer, ein Neunmalkluger, halbgebildet und vor allem eingebildet. (a) Um in der Breite nicht zu versanden, also bloß ein paar Spezialbegriffe aufzuschnappen, mit deren Hilfe er mitreden will und gescheit tun kann, benötigt er einige Tugenden:

  • Sorgfalt, Strenge, Skepsis, aber zuerst und vor allem gegen sich selbst. Prüfen, wer was warum und mit welchen Mitteln behauptet. Vorurteilen nicht auf den Leim gehen (sagt sich so leicht, aber wenn es doch so süß und leicht ist, ihnen zu folgen…). Sitzfleisch entwickeln und einer Frage wirklich nachgehen, anstatt sie schnell mal zu googlen. Schließlich Askese, also abstreifen dessen, was in den Verstand einschießt und die Erkenntnis trübt: Wünsche und Begehrlichkeiten, Menschenfurcht und Gefallsucht, Bequemlichkeit und handfeste Interessen. Endlich ganz schlicht: Überstunden in Bibliothekstürmen zu verbringen, wenn andere längst mit hochgelegten Beinen und der Tüte Chips den Fernsehabend genießen.
  • Dazu gehört auch die sokratische Demut des „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. „Ich hab‘ dazu mal ‚was gelesen“ oder „Das gefällt mir, deshalb ist es wahr“, das hat vielleicht in groben Zügen mit einer Thematik bekannt gemacht, es gibt einem aber noch lange nicht die Berechtigung, vollmundig ein „So ist es!“ zu verkünden. Darum muss man auch der Versuchung widerstehen, eine flüchtige Erstinformation mit echter Kenntnis zu verwechseln (insbesondere nicht das, was sich einem als erstes bei Suchen im Internet oder OPAC in die Arme wirft).
  • Er behält den Unterschied zwischen der Bildung als Lebensweise und einer Intellektuellenkaste vor Augen. Kaste, das ist nämlich eine bestimmte Art, sich zu geben, zu reden, sich zu kleiden und selbst politische Parteien zu wählen. Also soziologisch vorhersehbar zu werden. Und das ist heute nicht einmal der Bildungsbürger (das hat den Deutschen immerhin einmal den Ruf eingebracht, das Volk der Dichter und Denker zu sein), sondern eher Schelskys Priesterkaste der Intellektuellen mit ihrem Hang, andere zu bevormunden, verbunden mit einem seltsam antielitären Gehabe.
  • Auch wenn man wohl nur auf einem oder einigen wenigen Gebieten wirklich ganz beschlagen sein kann, wird man das dort erworbene methodische Vorgehen auch auf anderen Feldern voraussetzen, also etwa das Wissen um überraschende Funde, die alles auf einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen, die Grundstrukturen dieses Gebietes und nicht zuletzt das Wissen um bleibende weiße Flecken auf der Landkarte.
  • Das wichtigste Mittel der Allgemeinbildung ist eine gepflegte Sprache. Pflege, das meint nicht „Gesichtserker“ statt „Nase“, erst recht nicht ein Dutzend Fremdwörter als Nebelwerfer anstatt prägnant und klar zu sagen, was man meint. Wohl aber die Suche nach dem besten Wort anstatt dem Daherplappern des nächstbesten. Das Auseinanderhalten von Sprachebenen (gelegentliche gezielte Regelverstöße und ein saftiges, kraftvolles Reden durchaus eingeschlossen). Vor allem aber wissen: Sprechen heißt, sich verständlich zu machen, nicht sich in Szene zu setzen. Endlich: Sprache heißt Sprachen im Plural. Wenigstens zwei bis drei andere Sprachen sollte man flüssig beherrschen oder zumindest lesen können.

(b) Besonders das In-die-Tiefe-Gehen zeichnet das Berufsethos des Akademikers aus wie nichts anderes.

  • Das heißt etwa, die Welt nicht nach Parteizugehörigkeit einzuschätzen (Partei nicht nur im politischen Sinn!) und den einen blind die Daumen zu drücken, den anderen dagegen keinen Stich zu geben, sondern das „Audiatur et altera pars“ so selbstverständlich zu üben wie das Atmen.
  • Offenheit für alles ist Vorurteilsfreiheit von allem. Überall erkennt man Zwischentöne, Nebenaspekte, Komplexitäten. Rosarote Brillen verschmäht man ebenso wie dunkelgrau gefärbte.
  • Das heißt keineswegs, auf Grundsätze, Überzeugungen und klare Linien zu verzichten. Doch es sind eben Grund-Sätze, über die er sich und anderen Rechenschaft geben kann und zu denen er Gegenargumente nicht verachtet, sondern prüft und ggf. in sein Selbstverständnis integriert.
  • Bei allem ist man überzeugt: Wer sich vorbehaltlos der Wirklichkeit öffnet, wer ihr nicht vorschreibt, wie sie zu sein hat, sondern sich von Indizien und Beweisen leiten lässt, kommt zur Wahrheit und verschmäht Ideologie.

Schließlich etwas sehr Grundsätzliches. Geist ist Offenheit, Breite und Tiefe, Ausschwärmen ins Unendliche. Ohne diese Haltung gibt es keine Wissenschaft. Doch nach der Wissenschaft kommt die Weisheit, nach dem Ausschwärmen ins Viele das Wissen ums Eine Notwendige. Weisheit, das heißt einfach werden, sich festmachen in Grundwahrheiten, klare moralische Maßstäbe haben, nicht zu korrumpieren zu sein (auch nicht durch die Hoffnung auf Drittmittel oder Beteiligung in angesehenen Kommissionen) und… Lebenserfahrung gewinnen. Kurz, Lebensmeister, nicht Lesemeister sein, wie Meister Eckhart sagt.

3. Wie gestaltet sich ein Leben des Geistes für gläubige Katholiken?

Welche Frage, natürlich nicht anders als für alle Sterblichen. Alles bisher Gesagte gilt für sie ohne Abstriche. Alles und noch viel mehr. Denn der Glaube öffnet zu mehr als der weiten Welt, er eröffnet den Blick in das Geheimnis Gottes. Das ist nicht einfach ein zusätzlicher Kontinent des Wissens, von dem man auch noch Kenntnis erhält, worauf manche aber auch gut und gerne verzichten zu können meinen. Nein, die ganze Welt sieht im Licht des Glaubens noch einmal anders aus. Wieso? Nennen wir drei solcher neuer Sicht- und Verhaltensweisen.

(a) „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Glaube übersteigt die Vernunft, man erlangt ihn durch Hören und nicht durch Nachdenken. Vertrauensvoll, aufmerksam und mit ganzer Hingabe zu hören, das kann man eben von den Kindern lernen. Ihre Haltung bleibt erstes Gebot auch für den Gläubigen, der ein Gelehrter geworden ist. „An meinen Glauben rühre ich nicht,“ ist steht felsenfest. Man muss das so deutlich sagen, denn die Intelligenzija ist ja gewohnt, alles ihrer „Kritik“ zu unterwerfen und vom Glauben nicht viel mehr übrig zu lassen als ein bisschen Toleranz, vermischt mit einer Prise Seelentrost. Kein Wunder, dass Akademiker die größte Rate an Glaubensfernen haben. Dabei gehört die Religionskritik fast ausnahmslos zu den eher dürftigen bis ausgesprochen bornierten Stücken der „Gelehrsamkeit“, gleich ob bei Feuerbach oder bei Dawkins. Denn auf einen Punkt läuft sie fast immer hinaus, nämlich „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. Also nicht Offenheit des Geistes bis hin zum Mysterium, sondern Fenster und Türen dicht, um Herr im eigene Hause zu bleiben. Umso wichtiger ist der Beitrag gläubiger Gelehrter, die zeigen, wie man die Welt tiefer, wahrer und staunenswerter betrachtet, wenn sie sich im Licht des Glaubens darbietet.

(b) Traditionell erkennt man einen Katholiken auf Anhieb, gerade auch als Frau oder Mann des Geistes. Woran? Zum Beispiel am guten Essen und Trinken in den Pausen eines Kongresses. Zum Beispiel daran, dass sie sich meistens nicht allzu viel Mühe geben, die regionale Färbung des Sprechens zu verbergen. Zum Beispiel an einer gemäßigt konservativen Grundeinstellung, die einem eine zweitausendjährige Kirchengeschichte verleihen, allen Extremismen und Maßlosigkeiten abhold. Kurz, am berühmten „et-et“, dem „Sowohl-Als auch“. Also am ehesten daran, was die Briten als „ladylike“ oder „gentlemanly“ bezeichnen: nichts nur „much brains, but no muscles“, sondern von allem das richtige Maß, zusammengehalten von einem klaren, geordneten Geist. Eine solche Einstellung tritt besonders an einem Punkt zutage, nämlich in der Wertschätzung des Leiblichen und einer (allerdings durchgeistigten) Sinnlichkeit. Also etwa auch Handarbeit (labor mannum), wie die Mönche es praktizieren: nicht sich hinter Bücher verkriechen, wenn andere Geschirr spülen. Oder Sport (und sei es der tägliche stramme Spaziergang). Natürlich Sinn für Kunst, und zwar klassische Kunst und nicht das, wo bloß Kunst draufsteht, darinnen aber hauptsächlich Pop, Kommerz, Sinnenreiz und Effekt zu finden ist. Darum leidet ein gebildeter Katholik auch unter dem rapiden Sittenverfall in Sachen Musik im Gottesdienst, „Kunst“ in der Kirche und Sprachverrohung.

(c) Katholisch heißt kirchlich. So sehr der Akademiker seinen Geist in eigener Verantwortung gebraucht, er kappt doch nicht alle Seile zu gewöhnlichen Menschen. Im Gegenteil, er freut sich an ihren oft erfrischenden, erfahrungsgetränkten, wirklichkeitsnahen Auffassungen und Kenntnissen und schneidet sich davon immer einmal wieder eine Scheibe ab. Hier haben übrigens junge Leute im Studium, die aus nicht-akademischen Elternhäusern kommen, einen großen Vorteil. Sie verschließen sich nicht so schnell in intellektuellen Scheinwelten. Sie wissen, wie gewöhnliche Menschen mit gesundem Menschenverstand reden, denken und empfinden. Sie behalten einen Sinn für die Realien des Lebens. Sie heben nicht so schnell ab oder verfallen Ideologien. Vorausgesetzt natürlich, sie bleiben ihren Wurzeln treu, bleiben mit ihren Leuten in Verbindung und können da vor allem gut zuhören und müssen nicht ständig andere belehren.

Ein Gedanke zu „Ein Leben des Geistes – Berufsethos für Akademiker

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