Der Einbruch.

Erzählung, Augsburg: Dominus-Verlag 2012

Ein Tag im Leben des Priesters und Caritasdirektors Heinz Thiesen. Ein beliebiger Tag. Und ein entscheidender Tag. In lockerer Folge reihen sich Termine, Begegnungen, Gottesdienst und ein Arztbesuch aneinander. Roter Faden dabei ist ein Skandal, um dessen Bewältigung er sich kümmern soll: Der Dechant der Dompfarrei hat Geld aus Erbschaften unterschlagen, um damit seiner Spielsucht nachzugehen. Unterwegs begegnet Thiesen vielen Menschen der Kirche, vom Generalvikar bis zum Bettler am Dom. Jeder reagiert anders auf den Skandal und zeigt darin sein eigenes Gesicht. Vor allem begegnet Thiesen sich selbst. In seinem Verhalten und seinen Erinnerungen wird er zum Spiegelbild einer Kirche, die ihre Form verloren hat. Ist sie rettungslos verloren? Ein einziger Tag wird ihm zur Reise durch sein Leben in der Kirche. Doch in diese graue Novemberwelt brechen auch Momente der Gnade ein. Und am Abend steht Thiesens Wunsch fest: neu anzufangen.

 

Hintergrund:

Den Durchbruch zum „Einbruch“ hatte ich 1993 in den USA. Ich war „Visiting Scholar“ an der University of Notre Dame. Geschrieben habe ich immer schon gerne, aber meistens mit zu viel Verkündigungsdruck. Auf der anderen Seite des großen Teiches stieß ich auf die Romane von Andrew Greeley, des Priesters, Soziologen und Schriftstellers. So kann man also auch katholisch schreiben: frisch, spannend, lebensnah und gleichzeitig mit großem Thema. Für einen zölibatären Geistlichen vielleicht etwas sexbesessen. Doch beim irischen Katholizismus gehen die Uhren in dieser Hinsicht etwas anders, habe ich mich belehren lassen. Jedenfalls fing es nun in meinem Kopf an zu arbeiten: „Jetzt schreibst du auch selbst wieder. Aber nichts in der Art von Bekennerliteratur. Keine Mission, nur notdürftig in Figuren und Handlungen verpackt. Hinschauen, beobachten, phantasieren, beschreiben und… unterhalten.“ Dass dabei die Erzählung des Krisentages im Leben eines Priesters herausgekommen ist, durchmischt mit Erinnerungen und einer großen Entscheidung, kam wie von selbst. Das Milieu musste ich mir nicht erst erarbeiten, ebensowenig das, was da in den Köpfen vorgeht (innerer Dialog spielt im „Einbruch“ tatsächlich eine große Rolle). Und dass es um Krise ging und nicht um Erfolg und Jubel, war schlicht ein Gebot der Ehrlichkeit. Die große Missbrauchskrise in den Jahren nach dem Erscheinen offenbarte, dass das keine Schwarzseherei war. Da bin ich froh, dass ich eben nicht einen allesverstehenden, tiefgläubigen, attraktiven charismatischen Kaplan geschrieben habe, der am Ende Eintrittsformulare in die Kirche verteilt. Gläubig zu schreiben ist etwas anderes als Werbetexte zu verfassen. Immer wieder gibt es Momente der Gnade, etwa die Musik von zwei Streichern aus einem offenen Fenster, denen die Klavierbegleitung fehlt, die aber deren Stille hörbar machen. So steht am Ende zwar ein Einbruch, aber kein Absturz ins Bodenlose.

Hier eine Online-Rezension.

 

Leseprobe

[Zum Verschnaufen geht Thiesen nach einem gespräch mit dem Generalvikar in den Dom.]

Thiesen trat durch das Seitentor aus der Ummauerung des Ordinariates heraus, sah auf die Uhr und überlegte, ob er sich unverzüglich in die Geschäftsstelle des Diözesancaritas­verbandes begeben sollte. In diesem Moment fielen ihm seine hochgezogenen Schultern auf. Das war ein sicheres Anzeichen einer inneren Verspannung, und allein dass er es bemerkte, galt ihm als Fortschritt, hatte er doch in den letzten Jahren überhaupt erst gelernt, auf seinen Leib achtzugeben. Junge, du musst mal tief durchatmen. Vielleicht mit einem Psalm aus den Laudes. Ihn meditativ beten, im Atem des Lebendigen, nicht so rubrizistisch ein Gebet nach dem anderen herunterleiern wie damals in deinen ersten Priesterjahren. Die „Todsünde als Versäumnisfolge“, die Todsünde, die also auf das Versäumnis folgt, saß einem damals noch im Nacken. Damals, das hieß vor dieser Geschichte, die ihn binnen weniger Monate völlig verändert hatte. Damals war vieles zerplatzt, was bis dahin nur seine Gewissenhaftigkeit zusammengehalten hatte. So auch sein Breviergebet. Über Jahre standen seine schwarzen, kunstledernen Bände dann unbenutzt im Schrank, die neue deutsche Ausgabe hatte er sich gar nicht mehr angeschafft. Sie wurde ihm dann aber von listigen Mitarbeitern zum 50. Geburtstag geschenkt: „Sie sind in der letzten Zeit ja wieder so brav geworden!“ Versuche mit Yoga waren gefolgt, dann Centering Prayer, aus Kursen und Büchern gelernt. Doch es war stets dasselbe Muster, das sich wie ein klebriges Netz über die Wirklichkeit legte: zuerst die Begeisterung, jetzt hast du‘s endlich gefunden, dann die Mühe, anfangs verbissen, du bist ja ein Arbeitstier, dann halbherzig, und irgendwann das ermattete Bekenntnis, um das du doch schon lange vorher gewusst hast, dass auch hierbei nichts als Leere bleibt. Dann deutsche Mystik und dieses vage Leitwort von der Losigkeit, ein bisschen wie Zen, nur noch einfacher. Das brannte nicht aus wie die anderen Versuche vorher. Gefunden, was du gesucht hast, hast du zwar nicht, aber wenigstens tat dir es gut: kommen lassen, gehen lassen, alles darf sein, Woge werden, Bilder sich formen und zerfließen lassen, Leben ist dieses Zwischen, koste die Momente aus, in denen es dir durch die Haare weht, dann bist du nicht fern vom Reich Gottes, es ist in dir, ganz tief in dir, sei dir selbst ein Segen. „Wohin wogt weiche Welle?“ Was dir am Wogen der Losigkeit gefällt, ist einfach das Regelmäßige. Ganz wie dein Herz. Ja, wenn du seinem Schlag nur trauen könntest. Nicht darüber nachdenken müssen. Du könntest wahnsinnig werden.

So hatte er sich nach sechs Priesterjahren erlaubt, ohne jede Selbstverpflichtung täglich bloß einen Psalm aus einer Tagzeit zu beten, der ihn besonders ansprach. Natürlich nur wenn ihm danach war. Nun trat er in den Dom, dessen Seiteneingang vom Ordinariat aus mit wenigen Schritten zu erreichen war. Noch während sich die Tür hinter ihm unmerklich und sanft gepolstert schloss, lächelte Thiesen, denn es war noch „Sommerdom“. So hatten sie im Konvikt gesagt, wenn das Gemäuer bis nach Martini Sommerwärme in sich abstrahlte. Während der nicht enden wollenden Domdienste hatte Thiesen, das verzärtelte Musterkind, oft kalte Füße. Da zählte er die Kniebeugen des Zelebranten, coram sanctissimo waren es 75, aber schon bei Nummer 30 konnte er seine Zehen kaum mehr bewegen. Die metallbeschlagenen, doppelt besohlten Sonn­tagsschuhe von zuhause trug er nur ungern, vor allem nachdem er zu Ostern von seiner „Stadtfamilie“ ein Paar italienische Halbschuhe geschenkt bekommen hatte. Jungkonviktuale nämlich ver­brachten den Ostertag nach dem Pontifikalamt in einer Familie der Stadt, er im Haus eines Schuhhändlers, wo er nie wusste, was er der Dame des Hauses, die das Gespräch in der Hand hatte, antworten sollte. Wieder zurück im Konvikt, hatte er Absatz und Spitze gegeneinander gebogen, dann in das Fußbett hineingerochen und gewusst: Das sind jetzt deine Sonntagsschuhe, und es war ihm jedesmal, als müsste er sich bei etwas Verbotenem gut zureden. Einmal hatte er beichten müssen, sich 20 Minuten lang in Talar und diesen Schuhen mit ungeordnetem Wohlgefallen im Spiegel betrachtet zu haben. Die Kälte des blanken Steins im Dom dagegen konnte sich durch die dünnen Sohlen in wenigen Minuten bis in die Waden ausbreiten. Darum auch war er so gerne den anderen Konviktualen zum Domdienst vor­ausgelaufen, um bei Sommerdom einige Momente unbeobachtet seine Stelle zu genießen. Seine Stelle, das war die sand­steinerne Basis des dritten Pfeilers des linken Seitenschiffs, auf die morgens die erste Sonne fiel. Während der knappen Frist des Alleinseins, mit Keuchen und etwas Schweiß erkauft, winkelte er dann zuerst den linken und danach den rechten Fuß nach hinten, bis er den warmen Stein durch die Sohle hindurch fühlen konnte. Später, wenn sie nicht gerade knieten, ver­suchte er dann, die Füße durch Erinnerung warmzuhalten.

Dom zu Trier (Urheber: Berthold Werner)

Noch etwas anderes war an dieser Stelle. Thiesen ging jetzt langsam an der Basis des Pfeilers vorüber und blickte schräg aufwärts ins rechte Querschiff. Heute war dort alles weiß übermalt, abgesehen von einem etwas verloren wirkenden Ornamentalband, das die Bögen umspielen sollte. Doch sein Fixstern dort, hoch oben, war die heilige Agnes, ein Teil jener recht anämisch anmutenden Gesamtausmalung aus dem Jahre 1877. Der Auftrag hatte einen Maler, Bohèmien und Konvertiten, an dem der damalige Bischof von Stand einen Narren gefressen zu haben schien, ein halbes Leben lang finanziell über Wasser gehalten. Der Ausmalung hatte dann aber die liturgische Kommission, die mit der Einführung des neuen Messbuchs eingesetzt worden war, rasch den Garaus gemacht. Sie schien, wie so manch anderes, nicht mehr recht in die Gegenwart passen zu wollen. Thiesen wusste sich damals vehement für die Weißfassung einzusetzen, mag sein selbst mit einer Unter­schriftenaktion im Dekanat, wie sie damals in Mode gekommen waren.

Nur seine Agnes hätte er gerne von diesem Verdikt ausgenom­men gesehen. Denn Agnes, das war ja seine ältere Schwester. Das Haar zu einem Kranz geflochten, nur ein wenig Gekräu­sel darunter, das sich in den Nacken verlief, den Kopf etwas zur Seite geneigt, so dass sie dem Lämmchen, das sie wie ein Neugeborenes in ihren Armen wiegte, in die Augen schauen konnte, genau so hatte Agnes zuhause geschaut, als die Eltern den Geschwistern eröffneten: „Unser Heinz soll einmal Pfarrer werden. Wir müssen uns jetzt alle noch ein wenig mehr absparen, das Konvikt kostet viel Geld. Aber wenn der Herrgott es so will. Und du, Agnes, kannst ja auf alle Fälle direkt nach der Schule Hauswirtschaft lernen.“„Ak-nes“, so hast du sie immer aufgezogen – hast ja selber nichts gewusst von der Mädchenangst vor Akne – vielleicht noch am selben Nachmittag, während deine Schwester ihre Schulauf­gaben eilig hinter sich bringen wollte – sie musste ja Nachmittag für Nachmittag in den Laden, zwischen drei und fünf, wenn nur einmal jemand für ein Stück Kernseife kam oder für eine Falle gegen Wühlmäuse -, du hast sie gerne wütend gesehen, vor allem im Augenblick, da sie ihre Nasenflügel gegeneinander presste und die Augen weit öffnete, und dann natürlich, wenn sie dir eine Ohrfeige verpassen wollte, aber doch noch einen Moment vor dem Bruder mit seiner geistlichen Berufung zögerte, gerade lange genug, ihr den Arm festzuhalten, ihn an dich zu drücken und sie dann brüsk von dir zu stoßen. Nein, in der Beichte hast du nie die fällige Zerknirschung aufbringen können, schien doch der Pfarrer ganz zufrieden, wenn du ihm diese Kindersünden bekannt hast. Auch hat die Mutter dem Vater nichts von deinem Benehmen als Bruder gesagt.

Am selben Nachmittag also kam der Pfarrer. Du hast für ihn ein frisches Hemd anziehen müssen, es war ja wie ein Sonntag, und vorher, da solltest du noch eine Flasche Wein kaufen, so etwas führte der elterliche Laden nicht. Du warst selber gar nicht so aufgeregt, gingst da ja schon zweimal die Woche ins Pfarrhaus zum Lateinunterricht und hattest den Eltern auch schon berichtet, dass der Pfarrer nicht viel vom Kleinen Seminar der holländischen Volks­missions-Patres hielt. „Euer Heinz hat das Zeug zu Großem“, hatte er dann den Eltern gesagt, „mit dem Rektor im Konvikt habe ich auch schon gesprochen. Er nimmt ihn, und der nimmt ja längst nicht jeden.“ In den stürmischen Nachkonzilsjahren waren sie in ihrer Priestergruppe einmal ihrer Berufung nachgegangen und hatten Mechanismen von Klerikalismus und Über-Ich analysiert. Das Ergebnis war oft so elend eindeutig. Viele aus der Gruppe sind ja auch bald aus dem Amt geschieden. Du konntest auch manche Begebenheit beisteuern. Nur deine Empörung über die Strenge des Heimatpfarrers war gespielt. Dessen Schläge für die Rohesten in den ersten Kirchenbänken bei der Christenlehre waren das, was du ihnen sowieso gewünscht hattest. Für dich dagegen gab es im Pfarrhaus jedes Mal den süßen, süßen Kakao, so viel du wolltest, die Kanne mit dem goldenen Rand war derart gefüllt, dass das Fräulein Margret nur ganz vorsichtig in die Stube eintrat. Gleich darauf entfernte sie sich. Nein, gezwungen hat dich keiner, und seltsam, selbst mitten in dieser Geschichte in St. Joseph kam dir nie auch nur der Gedanke, du könntest den Beruf aufgeben.