Die Büchernase

 

Gelesen habe ich immer mit der Nase, allenfalls nahm ich dann noch meine Hände zu Hilfe. Die Bücher meiner Kindheit riechen nach der kleinen, bis zum Geht-nicht-mehr mit Regalen zugestellten Pfarrbücherei am Ende eines dunklen Flures im Pfarrheim, voll von neuen und alten Schätzen (besonders letzterer liegt mir noch in der Nase), gehütet von meiner Klassenlehrerin alten Schlages (so streng wie nötig, so fördernd wie möglich), dem „Ach, Andreas, du schon wieder?“ in der Tür, (mit dem sie) mich begrüßte. Sogleich verschwand ich zwischen den Türmen von Büchern, am liebsten ganz hinten, wo die Karl May’s im wenig gelüfteten Halbdunkel eine imposante Kulisse aufbauten. Auch wenn mein heimischer Bestand jedes Weihnachten wuchs, thronte hier doch einfach alles, vom „Ölprinz“ bis „Durch das wilde Kurdistan“. Langsam glitt die Hand durch die Reihen und fühlte, bevor ich’s sah, was eine Neuerwerbung war. Wichtig waren die Ausleihzettel auf dem hinteren Buchinnenrücken: Schlug mir der terpentinhaltige Geruch des Stempelkissens entgegen und war der Zettel schon vollgestempelt mit der Ausleihfrist früherer Leser, wanderte das Buch in meinen vorübergehenden Besitz, das war Ehrensache. Auf keinen Fall durfte ich da zurückstehen. Doch noch suggestiver war ein beinahe leerer Zettel, mit der letzten und einzigen Ausleihe bis zum 21. Juni 1956. Das schuf frühe Sucht. Ich befreite Dornröschen aus dem hundertjährigen Schlaf (nun gut, vielleicht löste ich eher Old Shatterhand vom Marterpfahl). Handelte es sich gar um ein Exemplar der alten Reihe, nicht laubfroschgrün mit goldenem Rahmen für das Titelbild wie in der neuen May-Ausgabe, sondern verwaschen, aufgeraut, vielleicht gar in alter Schrift, die mir bald keine Probleme mehr bereitete, jedenfalls einzig angemessen der staubigen Savanne, dem ausgeblichenen Wigwam und der nach vielen Kämpfen längst nicht mehr glänzenden Silberbüchse dessen, dem ich gerade heimlich die Fesseln am Pfahl durchschnitt. War die Wahl des Exemplars dann getroffen, ging ich noch an Ort und Stelle in die Hocke, überhörte das „Andreas, bist du noch da?“ meiner Lehrerin, wog das Buch wohlwollend in der Hand, strich über das Papier (natürlich raues, glatt oder gar Hochglanz wäre Verrat an der Sache gewesen), pfiff dabei unterdrückt durch die Zähne, ganz wie meine Helden ihr Lagerfeuer abdeckten – die feindlichen Horden im Dickicht ringsum sollten nicht vor der Zeit ihre Pfeile spannen können – und trat ein. Ja, es brauchte dieses Portal, in dem das Buch sich zeigte als strenger Geruch unvordenklicher Zeit, als Standort weit abseits der Welt, als enthüllende Verpackung – nur um diese Pforte augenblicklich, ja gierig zu durchschreiten hin zum ersten Satz, zur Innenwelt des Romans, zur Sprache, die nicht bloß wachrief, sondern Bedeutung eröffnete. War so die Schwelle der Sinne durchschritten, erschuf er lesende Geist sich eine neue Welt. Keinen Ort der Erde gab es nun, wohin er dem Text nicht zu folgen vermocht hätte, keine Gefahr, die er nicht tapfer bestanden, keine Blutsbruderschaft, der er nicht die Treue gehalten hätte. Längst versank diese Pforte hinter mir, und doch war sie unumgänglich. Wie anders wären die Sinne meines Geistes sonst angeregt gewesen, durch die dünnen Sohlen der Mokassins jedes Ästchen auf dem Weg zu spüren, bevor es mich durch sein Knacken dem lauernden Feind in der Finsternis verraten hätte.