Ein Wort an Katholiken

Wir müssen Klartext reden. Es geht mir um den Nachwuchs für Priester und Orden. Da sieht es nicht gut aus. Gar nicht gut. Dafür kann man tausend Gründe anführen – wirkliche oder nur scheinbare. Aber der entscheidende Grund geht uns alle an: Wir tun zu wenig dafür. Ein bisschen läuft das nach dem Sankt-Florians-Prinzip: „O heiliger Sankt Florian, / verschon‘ mein Haus, zünd‘ andre an!“ Zünd‘ die Jungen und Mädchen aus anderen Familien an mit dem Feuer einer Berufung zum Priester, zur Ordensschwester oder Ordensmann! Natürlich, es wäre prima, wenn wir einmal wieder eine Primiz hätten. Großes Fest mit Freialtar, Blasmusik und Super-Stimmung. Oder wenn aus unseren Reihen eine Ordensschwester käme und wir an der ergreifenden Feier ihrer Profess im Kloster teilnehmen könnten, wo kein Auge trocken bleibt. Aber – jetzt müssen wir ganz ehrlich sein – das wäre schön, solange es uns nicht allzu viel kostet. Nur, eine solche Einstellung ist so wie bei einer Kollekte für die Kirchenrenovierung: Nachher findet die Kirchenverwaltung bloß hundert bunte Knöpfe im Kollektenkörbchen. Damit kann man ein Clownsgewand für den Zirkus bestücken, aber keinen Kirchturm vor dem Einsturz bewahren.

Michelangelo Merisi da Caravaggio 1571–1610), Berufung des hl. Matthäus (S. Luigi dei Francesi, Rom)

Da beißt keine Maus den Faden ab: Wir müssen jungen Leuten klare Prioritäten setzen und vorleben. Die Priorität Nummer Eins lautet: Gott zuerst. Das ist das eiserne Gesetz des Christentums. Gott zuerst, das bedeutet zum Beispiel: Der Sonntag ist heilig, und die heiligste Stunde des Sonntags ist die in der Kirche. Das hat absolut Vorrang. Also nicht: Familienfeier am Samstagabend bis tief in die Nacht, und dann muss der liebe Gott doch einsehen, dass ich am Sonntagmorgen ausschlafen muss. Oder gemütlich brunchen. Nein, wenn ich nicht durch echte Pflichten gebunden bin, z.B. als Krankenschwester im Krankenhaus, dann darf mein Platz in der Bank nicht leer bleiben. Da gibt es auch keine Altersbegrenzung, etwa: „Das gilt erst ab 60.“ Nein, Gott lädt jeden ein zur Sonntagsmesse, und wenn ich nicht komme, dann habe ich seine Einladung eben ausgeschlagen. Das ist dann so wie beim Gleichnis vom Hochzeitsmahl. Einer nach dem anderen entschuldigte sich: Ich habe gerade einen Ochsen gekauft. Ich habe gerade geheiratet. Ich habe… Keine von diesen Entschuldigungen lässt der Herr gelten. Denn nur allzu deutlich zeigen sie: Das sind alles Leute, für die gilt eben nicht: Gott zuerst. Und meistens setzen sie auf die erste Stelle etwas ganz bestimmtes anderes. Das fängt auch mit G an und hat vier Buchstaben. Gott ist es nicht, sondern… Geld.  Geld, das ist auch Erfolg, Ansehen, Mitmischen – große Scheunen und karge Herzen. Beweise?
•    Dass die Kinder in der Schule Erfolge haben, das ist uns wichtig. Dafür besucht man Elternabende, dafür informiert man sich, dafür kann man den Kindern auch schon einmal ganz gehörig den moralischen Zeigefinger zeigen. Dass sie täglich beten – „Mein Gott, man kann sich doch nicht um alles kümmern!“ So kommt es dann, dass manche bei der Erstkommunion oder Firmung mit ein bisschen Hilfe das Vaterunser aufsagen können, vom Glaubensbekenntnis gerade mal irgendwas gehört haben und beim „Gegrüßet seist du Maria“ glatt streiken. Mündige Christen? Na ja, eher müde Christen haben wir da herangezogen!
•    Dass der Nachwuchs gute Freunde findet, vielleicht auch in Vereinen aktiv wird, das ist uns recht. Deshalb erinnern wir sie auch ans Training, an Termine und Verpflichtungen. Das steht rot angestrichen im Familienkalender. Nur bei der Kirche, beim Gottesdienst, da sagen wir auf einmal: „Das muss jeder selbst entscheiden.“ Gewiss, wenn er erwachsen ist, dann wird er‘s selbst entscheiden. Aber entscheiden kann man nur, wenn man etwas gründlich kennengelernt hat. Beim wirklich Wichtigen sagen wir den jungen Leuten doch ansonsten auch, wo es lang geht. Beim Wichtigsten auf Erden, nämlich dem Glauben, da soll auf einmal alles egal sein?
•    Und dass sie dann später einen Partner finden, der ordentlich ist, einen guten Beruf hat, kein Faulenzer und erst recht kein Drogenkonsument ist, das ist uns wichtig. Wenn sie dann aber vor der Ehe zusammenziehen, da ist es einem im Grunde ganz recht: „So ist das eben heute. Hauptsache, der Partner ist in Ordnung!“ Ja, aber das Zusammenleben ist nicht in Ordnung. Da ist vom „Gott zuerst“ nicht mehr viel zu sehen. Und wenn sie ein reiches Freizeitleben haben, spannend, abenteuerlich und auch ein bisschen verschwenderisch, dann sind wir im Grunde stolz darauf: „Die können sich was leisten!“ Aber dass sie über Jahre hinweg die Kirche nur von innen sehen, wenn die Familie eine Messe bestellt hat, dass ihre Werte, ihre Lebenseinstellung, ihr Verhalten sich keinen Millimeter von Gleichaltrigen in Ostdeutschland unterscheidet, die überhaupt nicht getauft sind – welche Rolle spielt dann überhaupt noch das Christentum?
Wir wollen nicht jammern. Ein Großteil des Lebens heute funktioniert eben so, als ob es Gott nicht gäbe. Das ist wie eine ansteckende Krankheit. Am Ende werden wir dann allerdings lauter brüchige Ehen, verwöhnte Kinder, wenig belastbare Persönlichkeiten und ein ziemlich gemütliches, selbstzufriedenes Absinken Europas zu einer Problemregion der Welt haben. Und die Kirchen? Die werden wir schön renovieren, und in 20, 30 Jahren verkaufen müssen – als coole Architektenbüros, als supermoderne Bistros oder… als Moscheen und Gebetsräume für Buddhisten. Wir werden aufschreien, aber dann ist es zu spät.


Also, wir müssen Klartext reden. Die Kirche ruft nach Berufungen. Mit Priester- und Ordensleben bietet sie die schönsten Berufe der Welt an: Ein Leben mit Gott und für die Menschen, wo ich am Ende sicher nicht sagen werde: „Wenn ich ehrlich bin, es war nicht viel.“ Wir dürfen nicht weiter die Ohren auf Durchzug stellen. Wir dürfen nicht die kalte Schulter zeigen: „Soll der Bischof sich seine Priester doch selber backen!“ Bei diesen Berufen verlangt Gott viel, aber er gibt noch viel mehr. Darum kommt alles darauf an, den jungen Leuten vom Kindergartenalter an vorzuleben und klarzumachen: Gott zuerst, das ist unsere Devise in Wort und Tat – und nicht bloß ein Lippenbekenntnis.

[Dieser Text kann mit Nennung des Autorennamens „Andreas Wollbold“ auch in Pfarrbriefen, in Kirchenzeitungen oder auf Flyern o.ä. abgedruckt werden. Gerne kann er auch als Anregung für Predigten, Vorträge usw. dienen.]

Wort zum Welttag für geistliche Berufe 2018: „Priester – geistliche Väter“

3 Gedanken zu “Dringender Aufruf – geistliche Berufe

  1. Lieber Professor Wollbold. Mit Ihren Klartext haben Sie mir aus der Seele gesprochen. Passend dazu möchte ich Ihnen eine Predigt schicken, die ich anlässlich des 40. Geburtstages eines Mitbruders in München gehalten habe:

    Sind wir Priester nicht eine aussterbende Art?

    Zumindest die Zahlen in Europa legen eine solche Interpretation nahe. Ich finde es nicht ehrlich, wenn wir heute inmitten der Feier diese Frage tabuisieren.
    Ich halte es in diesem Zusammenhang eher mit dem Leipziger Maler Werner Tübke, der den Thüringern unter uns bekannt ist durch sein Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen:
    „Wenn im Schönen nicht das Gefährliche oder Gefährdete durchschimmert, dann war oder ist der Sensibilisierungsprozess des Künstlers fürs Lebendige noch nicht weit genug fortgeschritten oder er war oder ist lügenhaft.“ (Werner Tübke)

    Sinngemäß möchte ich für das heutige Fest sagen: Wenn in der Freude über 40 Lebensjahre, davon 6 als Priester, nicht auch das Gefährdete durchschimmert, dann wäre das ein abgehobener, verlogener Triumphalismus. Doch so etwas liegt Dir nicht und mir auch nicht. Du bist eher der Vertreter eines geerdeten und durch den Osterglauben verklärten Realismus’.

    Deshalb noch einmal die Frage: Sind wir Priester eine vom Aussterben bedrohte Art?
    Und daraus ergibt sich gleich die zweite Frage: Lässt sich dagegen etwas unternehmen?
    Werfen wir doch einmal einen Seitenblick auf den „Deutschen Naturschutzbund“ – oder wie er korrekt heißt: BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V.
    Der Naturschutzbund beschränkt ja seine Tätigkeit nicht allein auf die Beobachtung und Erstellung von so genannten „roten Listen“, auf denen die vom Aussterben bedrohten Tiere aufgezählt werden. Nein, er fragt auch nach den Ursachen für das Aussterben der Arten und er kämpft um entsprechende Maßnahmen, damit seltene Tiere einen ihnen gemäßen Lebensraum zurück bekommen.
    Und da gibt es eine interessante Trendwende:
    Die Wölfe sind zurück!
    Vor ein paar Tagen wurde eine EU-Erklärung veröffentlicht: Nach einer langen Phase, in der sich der Bestand dieser Arten (Braunbär, Wolff, Luchs) fortlaufend verringert hatte, nimmt jetzt die Zahl dieser Tiere wieder zu.
    In Dt.: 1835 Bären ausgerottet / ca. 1850 die Luchse ausgerottet / 1905 der letzte Wolf erschossen.
    In Dtl. leben heute 25 Wolfsrudel in 5 Bundesländern.
    Woran liegt es, dass sich diese Wildtiere wieder ansiedeln konnten?
    Spektakulärstes Beispiel für solche Maßnahmen sind die Grünbrücken bzw. Querungshilfen über neue Bundesstraßen und Autobahnen. 36 wurden bisher in Deutschland gebaut und 41 weitere sind im Bau oder in unmittelbarer Planung. Für mich als Thüringer ist der Neubau der A4, die Nordumfahrung der Hörselberge bei Eisenach, solch ein interessantes Projekt.
    Wir modernen Menschen brauchen neue Autobahnen und neue Bundesstraßen, um den Verkehr besser bewältigen zu können. Wir als Bewegungspatres sind viel unterwegs und sind dankbar, wenn wir auf mehrspurigen Autobahnen schnell und ohne Stau an unseren nächsten Wirkungsort kommen. Aber oft durchschneidet ein Straßenneubau die wichtigen und intakten Wanderrouten von Rothirschen, Baummardern, Fischottern, Dachsen und Wildkatzen. Und wenn die zusammenhängenden Gebiete zu klein werden, dann sterben die Arten aus.
    Der BUND hat im Herbst 2007 für die Zielart Wildkatze einen bundesweiten „Wildkatzenwegeplan“ vorgelegt, in dem etwa 20 000 km Verbundachsen zwischen den verbliebenen großen Waldgebieten Deutschlands auf Grund von artspezifischen Habitatansprüchen modelliert wurden. Die Wildkatze repräsentiert Arten, die große
    zusammenhängende Flächen geeigneten Lebensraums benötigen. Diese dürfen nicht vollständig von stark genutzten Verkehrswegen durchschnitten werden und müssen über Ausbreitungskorridore miteinander verbunden sein.

    Nach diesem Seitenblick auf den Bund für Umwelt und Naturschutz fragen wir uns:
    Worauf muss die Kirche achten, wenn Priesterwerden wieder eine ganz normale Perspektive für einen jungen Mann werden kann?

    Ich habe zwar in den letzten Jahren wiederholte Male darauf hingewiesen, dass ein Priester nie arbeitslos werden kann – eine berufliche Perspektive, von der heute die wenigsten Arbeitnehmer träumen können. Aber ich habe noch nie einen Jugendlichen gefunden, der diese Lebensqualität so zu schätzen wusste, dass er den Weg zum Priestertum eingeschlagen hat.

    Womit ich mich als Priester allerdings häufig konfrontiert sah – besonders im Gespräch mit kirchenfernen oder nicht kirchlichen Gesprächspartnern – das war Mitleid: „Der Arme! Der darf nicht heiraten!“ Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich zu DDR-Zeiten einen jugendlichen Tramper mitgenommen hatte. Er wusste fast nichts von der Kirche, aber das katholische Pfarrer nicht heiraten dürfen, dass wusste er. Fast mitleidig fragte er: „Aber eine Freundin dürfen Sie doch haben?“ – Wobei er mit dem Wort „Freundin“ eine Sexualpartnerin meinte. Hinter dieser Beobachtung verbirgt sich eine veränderte Großwetterlage: Und diesen Klimafaktor möchte ich einmal benennen mit:

    1. Vergötzung der Sexualität als unersetzlicher Glücksquelle.
    Unter Vergötzung verstehen wir einen Vorgang, wo eine in sich gute Sache, oder ein Wert verabsolutiert wird und an die höchste Stelle gesetzt wird. Doch dieser Platz gehört Gott. Und zur Vergötzung gehören dann auch die Götzenopfer. Wenn z.B. der Wert Erfolg zum Götzen wird, dann werden ihm Menschenopfer dargebracht. Das haben wir an den Dopingskandalen im Radsport beobachten müssen. Wenn der Wert Reichtum zum Götzen wird, dann wird der Mensch Sklave seiner Gier. Wenn der Wert Macht zum Götzen wird, dann können Politiker zu Diktatoren werden, die über Leichen gehen. Aus dem Wert Sexualität, die ja eine Erfindung des Schöpfergottes ist, wurde in den letzten 40 Jahren ein Götze.
    Die seit den 68’er Jahren immer mehr um sich greifende Grundüberzeugung lautet: Da Sexualität wesentlich zum Leben dazugehört, muss man sie auch ausleben können. Wer vorgibt, es nicht zu tun, ist entweder ein Heuchler oder ein biologisch bzw. psychisch Verkrüppelter. Ein seelisch und körperlich gesunder Mensch muss sich sexuell doch ausleben können.
    Wenn ich von Vergötzung der Sexualität als unersetzlicher Glücksquelle spreche, meine ich die pure Betätigung des Körpertriebes. Was oft gar nicht gesehen wird bei aller sex¬uellen Liberalisierung, ist die Einbeziehung der seelisch-ge¬fühlsmäßigen Komponenten. Hinweis auf eine mangelnde Kul¬tivierung dieses ganzen Sektors ist die erschreckend hohe Zahl von Ehescheidungen in unserem Land, d.h. trotz sexuellen Aus¬lebens werden die Betreffenden nicht glücklicher, ja es entsteht ein neuer Leistungsdruck: Man muss nicht nur in der Produktion, sondern auch im Bett Spitzenleistungen bringen, um den Partner halten zu können.
    Wie viel Langeweile, wie viel Frustration, wie viel schnell erlöschende Faszination!
    Und wie viel Leichtsinn im Umgang mit dieser Energiequelle!
    So wird die Sexualität, die vom Schöpfergott als Energiequelle für eine vitale ganzheitliche Liebesbeziehung gedacht war, häufig auch zum Folterinstrument für Partner, die unter der Untreue ihres Partners leiden.
    Ich möchte einmal die Sexualität vergleichen mit Nitroglyzerin.
    Bis zur Erfindung des Dynamits war der Transport von dem flüssigen Sprengstoff Nitroglyzerin das reinste Himmelfahrtskommando. Zwar war man im Berg- und Straßenbau begeistert von diesem hochwirksamen Sprengstoff, aber die geringste Erschütterung der Flaschen konnte dazu führen, dass der ganze Transport in die Luft flog.
    Da kam Alfred Nobel auf die geniale Erfindung, dass er das flüssige Nitroglyzerin in Kieselgur (ein feiner, griesförmiger Stoff, der Flüssigkeiten absorbieren konnte) schüttete. Nun war aus dem unberechenbaren flüssigen Sprengstoff der berechenbare feste Sprengstoff Dynamit geworden. Da alle Nationen an dem neuen Sprengstoff Interesse hatten, konnte Nobel viele Dynamit-Fabriken aufbauen, auch aus den Lizenzgebühren seiner weiteren Erfindungen konnte er ein großes Vermögen erwirtschaften. Da er kinderlos blieb, gründete er mit diesem Vermögen den Grundstock für die Stiftung, mit der die alljährlichen Nobelpreise finanziert werden.

    Wenn wir jetzt die Sexualität mit Nitroglyzerin vergleichen, dann wird deutlich, was ich meine. Auch in der Sexualität steckt eine unwahrscheinliche Energie. Sie beflügelt den Menschen, sie ist nach dem Selbsterhaltungstrieb der stärkste Trieb, sie ermöglicht die Arterhaltung, sie verleiht der Liebe Leidenschaftlichkeit und Vitalität – aber sie gerät auch leicht aus der Kontrolle und wirkt dann zerstörerisch. Sexualität ohne Liebe verletzt und erniedrigt – zuerst die Anderen und dann einen selber. Sie kann die Menschen auch versklaven.
    Aus diesem Grund gibt es in fast allen Kulturen strenge Regeln, die verhindern sollen, dass Sexualität sich unkontrolliert entwickelt und die Familien zerstört.
    Im westeuropäischen Raum hat mit der 68-er Revolution eine Befreiung von all den überkommenen Normen und Regeln stattgefunden, die zu einem Liberalismus geführt hat, dessen zerstörerische Wirkung viele Jugendliche leider erst viel zu spät erkennen. Das Problem der allein erziehenden Mütter und deren Kinder, die vielen Partner und Partnerinnen, die verlassen worden sind und an der Treulosigkeit des Ex-Partners leiden …und und und.
    Bei Diskussionen habe ich oft erlebt, dass meine Appelle zu mehr Vorsicht und Zurückhaltung fehlinterpretiert worden sind als Angst vor der Sexualität, als Verklemmung, als Prüderie.
    Deshalb ist der Vergleich mit dem Dynamit hilfreich.
    Was für das unberechenbare Nitroglyzerin der Kieselgur, das ist für die Sexualität eine „Kultur des Verzichts und des Neinsagens“. Im Dynamit steckt noch die ganze Kraft des Nitroglyzerins, aber es ist berechenbarer und handhabbarer als das flüssige Nitroglyzerin.
    Wer sich um eine Kultur des Verzichts und des Neinsagens bemüht – sei es beim Essen, beim Kaufen, beim Konsumieren, beim Fernsehen, der entwickelt eine Ich-Stärke und signalisiert seinen Gefühlen und Bedürfnissen, dass nicht sie das letzte Wort im Haus des eigenen Ichs haben, sondern der freie Wille gepaart mit einem Urteilsvermögen, das sich an der Vernunft und an zwischenmenschlichen Werten zu messen gelernt hat.
    Wer diese Kultur täglich trainiert, wird auch dann, wenn ihn die eigene Sexualität in den Bereich des Zerstörerischen zu drängen droht, Widerstand leisten können, ohne den Wert der Sexualität herabzusetzen. Und das ist keine Frage der priesterlichen Existenz allein. Ein verheirateter Mann sagt zu einer Frau Ja und zu 99 – ebenfalls hübschen und sympathischen – Nein. Ein Priester sagt zu Hundert Frauen Nein. So groß ist der Unterschied also nicht.
    Nicht das Verlieben ist das Problem, sondern die Hilflosigkeit, mit Gefühlen verantwortlich umzugehen. Das gilt gleichermaßen für Eheleute wie für Priester.
    Eine neue Kultur des Verzichtes schafft ein Klima, in dem es weniger unglückliche – weil total verwöhnte – Kinder gibt, und in dem sich junge Menschen wieder vorstellen können, auch außerhalb von Ehe und Familie ein erfülltes Leben führen zu können. Und ein solches Klima fördert auch die Fähigkeit zur Treue für Ehepaare. Ein solches Klima wirkt wie eine Grünbrücke über die Autobahn.
    Können Sie jetzt nachvollziehen, dass der häufig gedachte und ausgesprochene Satz, „Lasst doch die Priester heiraten! Dann haben wir wieder mehr Priester.“, nur an Symptomen herumdoktert, aber das Problem nicht in der Tiefe löst? Priestersein ist eine Extremsportart. Und bei Extremsportarten gibt es immer wieder auch Unfälle und Abstürze. Ein kleines Gedankenexperiment: Wenn 2 Bergsteiger abgestürzt sind, könnte man ja sagen: „Verbietet doch das Bergsteigen! Wenn alle mit der Seilbahn auf den Gipfel fahren, dann sind sie auch oben, aber dann kann es keine Abstürze mehr geben.“ Das ist zwar wahr und auch logisch, aber es stellt keine Antwort dar auf die Sehnsucht des Menschen, an die Grenze zu gehen. Und so sind wir Priester durchaus mit Extremsportlern zu vergleichen, der von der Frage innerlich bewegt wird: „Kann ich aus einer ganz großen Liebe zu Gott und den Menschen ein Leben führen, wo ich auf eine eigene Familie verzichte, um verfügbarer für die Menschen zu sein?

    2. spirituelles Wachstum statt Folklorechristentum
    Einige Zitate im Originalton mögen den Klimafaktor beschreiben:
    „Jetzt zahle ich, seitdem ich 18 bin, Kirchensteuer; dann will ich aber jetzt auch zur Hochzeit eine erhebende Feier in der Kirche mit Glocken, Orgel und schönem Blumenschmuck.“
    Eine andere Momentaufnahme: Ein Junge hatte sich zur Firmung angemeldet, war aber in der ganzen Vorbereitungszeit nie zu einem Sonntagsgottesdienst und zum Firmunterricht gekommen; am Tag vor der geplanten Firmung erschien er im Pfarrhaus und fragte, wann denn morgen diese Feier sei. Der Pfarrer erklärte ihm geduldig, dass es für ihn morgen keine Feier gäbe, weil er an der Vorbereitung überhaupt nicht teilgenommen hätte. Der Junge zog schweigend ab, aber nach 20min kam seine erboste Mutter und beschimpfte den Pfarrer mit den Worten: „Sie können doch meinem Sohn nicht den würdigen Abschluss des Glaubens verweigern!“ – was für ein Bild von Kirche, was für eine Vorstellung vom Glauben verbirgt sich hinter einer solchen Kritik!
    3. Zitat: „Weihnachten ohne Christmette – da fehlt mir was an Weihnachten. Aber im Jahr über besuche ich den Gottesdienst, wenn mir danach zumute ist.“
    4. Zitat, das mir mal in Österreich gesagt wurde: „Herr Pfarrer! Ich bin katholisch, aber net so arg!“
    Das waren jetzt mal 4 Beispiele für die Haltung, die ich mit „Folklorechristentum“ umschrieben habe.

    Lieber XY, wenn wir uns nach einem Zeltlager oder einem Lebensschulwochenende, das du gehalten hast, treffen, erzählst Du ganz begeistert, wie die Teilnehmer mitgegangen sind. Ich kann es ebenfalls bestätigen: Es gehört mit zu den Vorteilen unserer Art der Seelsorge in der Schönstatt-Bewegung, dass wir immer mit Menschen zu tun haben, die etwas wollen. Und wenn sie große Probleme haben, dann wollen sie Hilfe. Und gerade Sie, liebe Schwestern und Brüder, die Sie heute mit P. Hans Martin feiern und sich die Freundschaft mit Gott und mit P. Hans Martin Zeit und Aufwand kosten lassen, beweisen ja, dass es mehr gibt, als Folklorechristen. Denn Sie sind ja nicht gekommen, weil es Schnitzel und Freibier gibt.
    Ich habe in meinen 8 Jahren als Pfarrer oft darunter gelitten, dass viele Katholiken nur eines wollten: in Ruhe gelassen werden. Ich habe das damals als junger Priester nicht verstanden. Ich habe diese abgestumpften Menschen genervt und mich frustriert, aber nichts bewegt.
    Als der jetzige Kardinal Sterzinsky von Berlin noch Pfarrer in Jena war, meinte er einmal auf einer Priesterkonferenz: „Die beste Seelsorge an einem Pfarrer leistet eine Gemeinde, die ihn als Priester fordert.“
    Der jetzige Bischof von Münster, Felix Genn sagte: „Christus braucht keine Mitglieder, sondern Zeugen.“
    Und Zeugnis hat etwas zu tun mit Entscheidung, mit Wissen, mit Liebe.
    Egal ob es sich um Deine Tätigkeit in Thüringen oder in Bayern handelt. Du hast das Charisma, Deine Botschaften auf der Wellenlänge auszusenden, dass Dich die Menschen wirklich als Seelsorger und Priester auch gerne in Anspruch nehmen.
    Paulus sagt: Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. (1Kor 9,22) So bist Du den Jugendlichen ein Jugendlicher geworden, hast Dir die Nächte auf Luftmatratzen und Isomatten um die Ohren geschlagen, bist auf Berge gekraxelt und in Kirchmöser durch den See geschwommen. Du hast beruflich stark engagierten Vätern wieder Mut gemacht, mit ihren eigenen Kindern zu spielen und mal nicht auf Zeiteffizienz zu achten, sondern da zu sein. Denn die kleinen Probleme der kleinen Kinder sind für diese genau so groß, wie die großen Probleme für die Erwachsenen. Und so konntest Du in ganz vielen Menschen die Sehnsucht nach dem je größeren Gott wecken, wach halten und zur Erfüllung dieser Sehnsucht beitragen. Du hast in vielen Fällen dazu beigetragen, dass Traditionschristen aus dem „man glaubt, weil das hier so üblich ist“ hineingefunden haben in ein Entscheidungschristentum und Freude daran gefunden haben, Zeuge zu sein. Sie können ehrlich sagen: „Ich glaube!“ (und nicht: „Man glaubt eben.“)
    Wie die Autobahnen und Bundesstraßen die Lebensräume der Wildtiere durchschneiden, so hat die Unterhaltungsindustrie mit ihren vielfältigen Angeboten die Verbindung zu Gott abgeschnitten. Wir könnten uns heute viel leichter mit allem möglichen Irdischen voll stopfen und trösten. Wir sind nicht gezwungen, eine gewisse Leere auszuhalten und in dieser Leere die Frage nach Gott wieder neu wachsen zu lassen. Und weil viele Zeitgenossen sich mit dem Vollstopfen der Seele mit Irdischem begnügen, sind wir Seelsorger mit unserem Angebot nicht so sehr gefragt.
    Zum Glück gibt es aber genügend Menschen, die erkannt haben: Unsere auf Unendlichkeit hin angelegte Seele wird sich nie mit rein Irdischem zufrieden geben. Es gibt genügend leidenschaftliche Gottsucher in unserem Land – und die wissen den priesterlichen Dienst zu schätzen.
    Und solche Zeugen wissen auch den priesterlichen Dienst eines Seelsorgers zu schätzen.

    3. Wir glauben an einen menschgewordenen Gott und nicht an die Idee Gottes.
    Lieber XY
    Dir bedeutet der Bibelvers viel:
    „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!“ (Joh 15,9) Wir glauben nicht an einen Gott, der sich in seiner himmlischen Glückseligkeit selbst genügt. Weil er die Liebe ist, wollte er Geschöpfe, die an seiner Fähigkeit lieben zu können, Anteil haben. Er wollte Wesen, die er lieben kann, und die ihn wiederlieben können.
    Kleine Kinder spüren es intuitiv: der schönste Platz ist da, wo die Liebe fließt. Deshalb kommen sie so gerne ins Bett der Eltern und legen sich zwischen die Eltern. Oder auf der Couch drängeln sie sich zwischen Papa und Mama. Dort, wo die Liebe fließt, ist der schönste Platz.
    Genau diesen Platz bietet uns Christus an: dort, wo die Liebe zwischen ihm und Gottvater fließt, dort hält er uns einen Platz bereit. Und das ist der schönste Platz.
    Und doch muss ich vor einem Missverständnis warnen. Das „bleiben“ vermittelt einen Eindruck der Ruhe, der so auch leicht missverstanden werden kann als Passivität.
    Wenn Christus uns sagt, bleibt in meiner Liebe, dann meint er das in dem Sinne: Wenn du in der Spitzenreitergruppe der Tour de france bleiben willst, musst Du ordentlich in die Pedale treten.
    Oder wem dieser Sportvergleich nicht gefällt, kann aus der Weltraumfahrt sich ein Beispiel nehmen: Das Spaceshuttle und das Weltraumteleskop Hubble waren zueinander in Ruhe. Deshalb konnten die Astronauten Reparaturen durchführen. Aber beide künstlichen Himmelskörper rasten mit 27.000km/h um die Erde.
    In der Liebe Christi bleiben hat etwas mit einer seelischen Dynamik zu tun, die eine Ruhe ausstrahlt und doch keine Friedhofsruhe ist.
    Pater Kentenich hat mit 80 Jahren nach seiner Rückkehr aus Milwaukee ein Arbeitspensum geschafft, dass auch einem gut bezahlten Manager zur Ehre gereicht hätte. Auf die Frage, wie er das denn schaffe, meinte er: „Ich arbeite ohne Nebengeräusche.“ Und er meinte damit, dass es ihm nicht mehr um ihn selbst, sondern um die Wünsche Gottes ging. Weil Pater Kentenich so ganz in das Werkzeugsbewusstsein hineingefunden hatte, konnte er sich emotional unabhängig machen von Erfolg oder Misserfolg. Er konnte ganz im Heute leben und dieses Heute als Geschenk von Gott entgegennehmen. Für Pater Kentenich war die Gottesmutter die große Lehrmeisterin in christlicher Lebenskunst. Sie sprach nicht nur in der Verkündigungsstunde ihr „Mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ Dieser Satz war die Grundhaltung, die ihr ganzes irdisches Leben geprägt hat.
    Und auch du hast in der Schule Pater Kentenichs und damit auch in der Schule Mariens diese Werkzeuglichkeit gelebt. Und du durftest erleben: „Wenn wir dorthin gehen, wo ER uns haben will, dann empfängt er uns mit offenen Armen.“ Dein Wirken im Osten war sehr gesegnet.

    Lieber Pater XY
    Von den Zahlen her müssen wir feststellen, dass das Priestertum in Westeuropa zu den bedrohten Arten zählt, weil sich die Lebensumstände drastisch gewandelt haben.
    Wenn aber alle die Christen, die begriffen haben, worum es geht und worauf es ankommt, an einem Klimawandel in der Kirche und Gesellschaft arbeiten, dann kann bald der Priesterberuf von der roten Liste der bedrohten Arten gestrichen werden.
    Wichtige Klimafaktoren in den Gemeinden, die jeder einzelne von uns beeinflussen kann, die förderlich für Priesterberufe sind:

    1. dass wir diesem Zeittrend der Vergötzung der Sexualität als unersetzlicher Glücksquelle Widerstand leisten
    2. dass wir immer wieder deutlich machen: Christsein hat mit persönlicher Entscheidung zu tun und ist nicht allein eine Frage der Geburt, der Tradition oder der Folklore. Wo wir in unseren Gemeinden eine Entscheidungskultur und damit eine Freiheitskultur fördern, dort leisten wir einen Dienst an einem Förderlichen Klima für Berufe.
    3. Christsein ist nicht primär eine Weltanschauung sondern eine Liebesgeschichte mit dem persönlichen Gott. Abstraktionen brauchen keine Mütter, aber Jesus ist Mensch geworden und hat uns seine Mutter geschenkt. In ihrer Nähe und in ihrem Klima gelingt Christsein besonders gut, und können Berufungen wachsen.

    Wenn wir uns um diese 3 Klimafaktoren in unseren Gemeinden bemühen, dann tun wir auf seelischem Gebiet das, was die Grünbrücken über die Autobahnen für die Wildtiere darstellen.
    Ich wünsche Dir für die nächsten 40 Jahre Gottes reichen Segen und ein fruchtbares Wirken. Und uns allen wünsche ich eine neue Freude am Christsein.
    Die Wölfe sind zurück. Wir Patres werden mehr, wenn es uns gelingt, in unseren Netzwerken die erwähnten Klimafaktoren zu klimaprägenden Faktoren werden zu lassen.

  2. Eigentlich finde ich den Artikel gut. – Eben nur eigentlich. Die Überschrift fängt so schön an, von den geistlichen Berufungen – und dann ist da eben nur die Rede von den Priestern und Ordensleute. Kein Wort von den neuen geistlichen Bewegungen, von Frauen, die Jungfrauenweihe oder Witwenweihe haben. (Lezteres können auch Männer haben, von Eremiten, Säkularistituten oder sonstigen geistlichen Berufungen. Schade, sehr schade, dass immer so kurz gedacht wird.
    http://christi-braut.blogspot.de/2014/10/jungfrauenweihe-und-witwenweihe.html

    Was anderes ist mir aufgefallen, da ich nebenberuflich für Tageszeitungen als freie Journalistin arbeite: Alle Vereine haben Mitgliederschwund. Schlimmer als die katholische Kirche betrifft es übrigens die evangelische Kirche. Und: Freikirchen wachsen, besonders diejenigen, die fundamentalistisch denken oder Krationisten sind.

    Ein weiterer Punkt, der Ihnen bestimmt bekannt sein dürfte: Es gab in der Kirchengeschichte schon wesentlich schlimmere Zeiten.

    Außerdem stimmt es eben nicht, dass die Berufungen der katholischen Kirche zurückgehen:
    http://christi-braut.blogspot.de/2016/08/es-gibt-immer-weniger-berufungen.html
    http://christi-braut.blogspot.de/2015/02/beten-fur-priester-und-ordensleute.html

    Aber es stimmt schon, es ist wichtig, für geistliche Berufungen zu beten. Ich selbst schließe immer eine Bitte bei Laudes und Vesper an.

    Übrigens: Für meinen Blog suche ich seit ein paar Tagen Menschen, die eine geistliche Berufung leben und deren Zeugnis ich abrucken darf. Es wäre schön, mich zu kontaktieren.

    G. R.

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