Elias Canetti, Masse und Macht. Sonderausgabe, Hamburg 1984 (Original 1960)

Anatomie ist nichts fürs empfindsame Seelen. „Masse und Macht“ des aus Bulgarien stammenden jüdischen Schriftstellers Elias Canetti (1905-1994) betreibt eine Anatomie des 20. Jahrhunderts. Tief in die Eingeweide dessen scheidet er ein, was darin an Dämonie aufgebrochen ist. Und er setzt den Schnitt an genau einer Stelle an, dem Phänomen der Masse und ihrer Domestizierung durch die Macht. Masse ist für ihn wie ein dunkler Bann, der sich über den Einzelnen legt und ihn beherrscht. Dessen bis dahin gewahrte Abgrenzung gegenüber dem Anderen, seine „Berührungsangst“ (11), schlägt in einer Masse augenblicklich in ihr Gegenteil um: „Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt“ (12). Von diesem Moment an wird man beherrscht von der Bewegung der Masse. Canetti seziert, er gliedert verschiedene Formen von Massen, er beobachtet ihr Zustandekommen, ihre Macht und ihre Auflösung. Nicht zufällig ist ihm die Flucht eines Rudels vor einem Raubtier das Paradigma einer Masse und ihrer noch archaischeren Form, der Meute, denn stets geht es darin ums Überleben und Töten.
Besonders eindringlich sind dabei wohl zwei Kapitel: „Der Überlebende“ und „Der Befehl“. Zu überleben übt eine eigene Magie aus, denn man ist dem Tod entronnen, der einen Anderen ereilt hat. Das verleiht eine eigene Aura, ja es kann zur „Leidenschaft“ (262) werden ebenso wie zum Gegenstand von Neid, ja Vernichtungswillen anderer. Auch der Befehl als unmittelbarster Ausdruck der Macht stammt aus der Situation der Flucht: Ein Stärkerer diktiert sie einem Schwächeren um den Preis seines Lebens (347). Auch wenn die Flucht gelingt, es bleibt ein Stachel; der Fliehende bleibt auf den Stärkeren fixiert. Denn ein Befehl ist „nichts als ein suspendiertes Todesurteil“ (542). Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass all dies im Subtext der Auseinandersetzung Canettis mit dem Holocaust gelesen werden kann.

Was ist Canettis Methode? Darüber ist viel geschrieben worden. Vordergründig betrachtet ist sie eklektisch. Geradezu manisch trägt er Material aus Ethnologie, Geschichte, Religionswissenschaft, Soziologie und Psychologie zusammen, ohne dass das Vorgehen im Einzelnen reflektiert wird. Mit Vorliebe greift er weit aus in alte Welten und archaische Bräuche, denn darin legt er ohne kultivierte Verschleierung bloß, wie es um den Menschen steht. Insbesondere das Kapitel „Masse und Geschichte“ weist jedoch nach, dass die beobachteten Mechanismen bis heute wirksam sind. Ein übermotivierter Schriftsteller auf Abwegen also? Nein, genauer betrachtet ist seine Methode die seines Metiers, nämlich die Sprache. Nicht umsonst ist seine Autobiographie ja betitelt „Die gerettete Zunge“. Denn er beschreibt, möglichst genau und klar, ja beinahe enzyklopädisch. Damit setzt er dem Irrationalen, Ich-Auslöschenden von Masse und Macht nicht einfach den Appell zur Vernunft entgegen, sondern die Fähigkeit, darüber zu sprechen, es zu benennen.

Canetti betreibt eine schonungslose Archäologie des Irrationalen. Er dringt tief vor in die letzten Triebkräfte dessen, was Menschen in Massen bewegt und wie Macht und Befehl einander entsprechen. Bei beidem geht es stets um Leben und Tod, ein weiteres Schlüsselthema Canettis. Dabei entwickelt er keine wissenschaftliche Theorie von Masse und Macht, sondern er zeichnet ein Tableau ihrer Erscheinungen von bedrückender Eindeutigkeit. Er eröffnet einen Blick in die Eingeweide des Verlustes der Humanität im Kampf um das Leben, in Furcht vor dem Tod. Doch er ist kein Fatalist, und darum ist dieser Verlust nicht unvermeidlich. An zwei Stellen ragen Gegenkräfte heraus, die dazu beitragen, die Menschlichkeit des Menschen zu retten.
•    Die erste ist überraschend. Bei der insgesamt deprimierenden Behandlung der Religionen kommt Canetti auf den Katholizismus zu sprechen (175-179). Seinem „Alter und seiner Abneigung gegen alles heftig Massenhafte“ (176) verdankt dieser ein ganzes Repertoire an Formen, mit denen der Masse die Gewalt genommen wird: die Hierarchie, das Priestertum, das Mönchtum mit seiner „Entsagung und Loslösung aus dem gewohnten Verband der Familie“ (179), vor allem aber sein Kult mit seinem Sinn für das Sakrale, für Distanz und Entzug; ein Inbild dessen ist die geordnete, gemessene, langsam dahinschreitende, durchgeistigte Prozession.
•    Die zweite Gegenkraft zur Masse ist das Wort. Es vermag deren Bann zu brechen, die Gesetze von Masse und Macht zu verwandeln. An einer Schlüsselstelle erzählt er von Stendhal, dessen Werk zu Lebzeiten wenig gelesen wurde, der jedoch überzeugt war, in hundert Jahren Leser zu finden, die ihm und seinen Gestalten zuhören würden (318f.). Damit ist die Umwandlung von Masse und Macht gelungen: Nun will nicht mehr einer – der Autor – auf Kosten anderer überleben, sondern er schenkt seinen Gestalten selbst ein Weiterleben im Wort, in der Erinnerung: „Das Überleben hat seinen Stachel verloren, und das Reich der Feindschaft ist zu Ende“ (319; schaut man auf das antiklerikale Ressentiment Stendhals, erscheint diese Deutung allerdings ein wenig schönfärberisch). Doch am Ende steht nicht das Dunkel: „Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muß den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben“ (542f.).

Ertrag

(Quelle: http://www.gahetna.nl/over-ons/open-data)

Canettis Werk ist unerschöpflich. Seine radikalen Analysen verstören, sein Sammeltrieb von menschlichen Verhalten und Missverhalten besticht, seine Deutungen machen betreten. Damit geht er vier Themen an, die Konservative immer wieder bewegt haben:
•    Dämonie und Faszination von Masse, Volk, Kollektiven und einem „Wir“ gegenüber dem Individuum, der Freiheit, dem Dissens und der „Ich“. Canettis Plädoyer ist eindeutig und nachvollziehbar: ohne Wenn und Aber für das Individuum.
•    Altkonservative gelten als machtbewusst, Konservative jüngeren Datums deutlich staats- und herrschaftskritischer. Canetti blendet das wichtigste Prinzip zur Humanisierung der Macht weitgehend aus: das Recht. Respekt vor der Rechtsordnung aber ist im Umkehrschluss das wichtigste Mittel zur Humanisierung der Macht.
•    Religion zeigt sich bei Canetti in ihrer Ambivalenz: Sie kann Massen bewegen, verblenden und fanatisieren, aber auch in Kult, Ordnung und Lehre Gegengewichte schaffen.
•    Bildung ist Distanz zu den vitalen (und nach Canetti allzu oft todbringende!) Kräften des Menschen. Sie tut dies wesentlich durch das Wort. Damit verteidigt er indirekt auch einen Begriff der Kultur, die nicht nur expressiv Stimmungen erzeugt, erregt und konsumieren lässt, sondern die zur vernünftigen Auseinandersetzung anleitet.
Macht und Befehl „den Stachel zu rauben“ ist eine Aufgabe auf Leben und Tod. Sich dafür einzusetzen hat darum Vorrang, doch es ist niemals vergebens.

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