Gradus ad Parnassum – Auf dem Weg in mein Büro an der Uni

163 Stufen empor sind es von der Tiefgarage bis zu meinem Büro. Ein Aufstieg. Er beginnt tief unten, wo vor vierzig Jahren auf Anweisung des Staatlichen Bauamtes breit und hässlich in die Erde gewühlt worden und anschließend auch nicht viel schöner ein betonstrotzender Hochschulzweckbau errichtet worden ist, angefangen mit zwei unterschiedlichen Parkdecks, in denen Winter und Sommer nur am mäßigen Schwanken der Kühle zwischen 11 und 16 Grad Celsius erkennbar sind. Beim Verlassen des Autos empfängt mich ein gleichmäßiges Brummen aus dem Nirgendwo, das mich Naivling für Augenblicke vermuten lässt, das atomare Endlager sei insgeheim längst gefunden. Kürze ich den Weg über einen freigebliebenen Parkplatz ab, knistert es unter den Füßen. Mit Sicherheit gibt es aus dem Referat Soundso, Abteilung Irgendwie, eine ältere Dienstanweisung, die angesichts des Sparsamkeitsgebotes der öffentlichen Hand nur eine Reinigung einmal im Jahr vorsieht, mit Sicherheit an einem Tag, da alle Parkplätze besetzt sind. Was übrigens nicht heißt, dass unsere Universitätsverwaltung im Rahmen der unmöglich zu überschauenden Ordnungen und Anordnungen nicht sehr unbürokratisch zu helfen versteht. Jedenfalls scheint das Verbot häufiger Reinigung für das gesamte Parkhaus zu gelten, denn schon seit Wochen steht in einem Durchgang ein ziemlich kleinbürgerliches Servierbrett an die Wand gelehnt, das mich beinahe neidisch an diejenigen denken lässt, die hier im Neonlicht und mit Blick auf in graues Plastik gehüllte und auf dem Putz verlegte elektrische Leitungen auf diesem Brett Sekt serviert bekamen. Nun denn, die ersten 39 Stufen bis zum Tageslicht, vorbei an gewiss von Architekturpsychologen der 70er Jahre verordneten dunkelrot gestrichenen Handläufen und sattblauen Kellerfenstern im Treppenhaus.

In der Tiefgarage des Uni-Parkhauses

Draußen wartet ein sozialpsychologisches Dauerexperiment. An einem Behelfsübergang in der schubweise befahrenen Straße ist eine Fußgängerampel zur unfallfreien Bewältigung der sie überquerenden Studentenmassen eingerichtet worden. Beim Erreichen zeigt sie immer rot, und das mit bemerkenswerter Ausdauer. Wie wird sich die rasch anwachsende Menge der studentischen Jugend, vorsichtig gesprenkelt durch das ein oder andere graue Haupt, verhalten? Wahrscheinlich haben die Physiker im angrenzenden Bau einer psychologischen Sonderforschungsgruppe nicht nur einen Raum mit günstiger Beobachtungslage zur Verfügung gestellt, sondern auch ein Messgerät neuesten Datums, das Zahl, Alter Geschlecht, soziale Position und Qualität der Amalgam-Füllungen der Passanten erfasst, dessen sachgerechte Handhabung die Mitglieder der Gruppe aber bisher noch nicht ausdiskutiert haben. So sind wir bis auf weiteres auf die schlichte Beobachtung angewiesen. Als Einzelne bleiben die meisten bei Rot zunächst stehen, abgesehen von wenigen penetranten Anarchisten, die immer sofort auf die Fahrbahn stürmen, just in dem Moment, da der kräftige Motor eines Professorenautomobils dieses aus der Einfahrt des Parkhauses hervorpreschen lässt. Sobald die Zahl der nichtanarchistischen Wartenden die kritische Masse (wie war das mit dem Atomendlager?) übersteigt, beginnen einzelnen Elemente, wie von unsichtbaren Higgs-Bosons angetrieben, sich aus der Menge zu lösen und dem Rot auf der anderen Seite entgegenzustürmen. Davon zu unterscheiden sind die nicht ganz Gewissenlosen, welche die Fahrbahn so schräg überqueren, dass sie vor einem Gerichtshof auf unschuldig aus Unkenntnis des Verbotes, sprich: der roten Ampel, plädieren können. Auf jeden Fall löst ihre Ordnungswidrigkeit den interessanteren Teil des Experimentes aus, den vorherzusagen mir auch nach monatelanger Beobachtung noch nicht gelungen ist. In Nanosekunden nämlich entscheidet sich, ob die qualifizierte Minderheit der Ordnungswidrigen zu Trendsettern werden und eine Massenflucht ans andere Ufer auslösen oder bloß gefährliche Ausnahme von der Regel bleiben. Am interessantesten aber ist im ersten Fall die Charakterstudie der wenigen bis zum erlösenden Grün Zurückbleibenden: die heimliche Elite pflichtbewusster Deutscher, die wie im richtigen Leben die Selbstvorwürfe darüber, allen erkennbar aus dem Rahmen zu fallen, internalisiert hat und dementsprechend sauertöpfisch vor sich her starrt – Verlierertypen, ganz wie im wirklichen Leben.

Weiter geht’s. Nur im Vorübergehen rasch ein Blick ins erste Fenster des Physikums, wo damals, kurz nach meinem Ruf nach München, einige bescheidene Schwarz-Weiß-Bilder den neuen Nobelpreisträger aus diesem Gebäude feierten, einen gänzlich unprätentiösen Professor mit einem Sektglas in der Hand inmitten seiner jubelnden Schüler, ein freundliches Lächeln auf den Gesichtszügen, die den Gedanken verbergen, ob nicht wohl der Nachmittag ungestört für einen überfälligen Artikel zur Verfügung stehen wird. In meinem Hirn bleibt das Bild gegen alle Einbildung ein „Respice post te, hominem te esse memento“, das im römischen Triumphzug zugeflüstert wurde.

Obwohl das Tor zu den Höfen des Hauptgebäudes der Universität weit offensteht, ist die Schwelle nach drinnen doch hoch. Plötzlich keine Massen mehr, sondern einzelne wenige. Die meisten in jedem wunderbaren Alter nach den Wirren der Jugend und vor den Lasten des Lebens, das man Studienzeit nennt. Hier draußen begegne ich übrigens nie jedem Typus des sich durchschlagenden Studenten, dem besonderen und beinahe ausschließlichen Objekt besorgter Bildungspolitiker. Denn hier draußen ist nichts zu holen außer Stille und frische Luft, und wer das zu schätzen weiß, weiß auch recht zu studieren. Das Ganze eine leichtfüßige Erinnerung an das Atrium der römischen Villa, Sinnbild für Zweckfreiheit und Muße in der Mitte des Lebens. Drei solcher Innenhöfe gliedern das Hauptgebäude am Geschwister-Scholl-Platz 1. Die Kirchenväter hätten darin ein Sinnbild des mysterium Trinitatis erkannt, allenfalls etwas verlegen, weil es allzu offenkundig ins Auge springt. Man kann die dadurch wohltuend verwinkelte Anlage auch einfach genießen, zwischen gepflasterten (sic!) Wegen, etwas minimalistischen Grünanlagen, von Trampelpfaden durchzogen, die eilige Vorlesungsbesucher wohl bereits in der guten alten Zeit gebahnt haben, und dem abwechslungsreichen Blick auf Universitätswerkstätten, Lehrstuhlbüros, Labore der Experimentalphysiker, die sich erstaunlicherweise wie Physiksäle einer Schule in strukturschwachen Gegenden ausnehmen, Ausleihe der Universitätsbibliothek und kleinere und größere Vorlesungs- und Seminarräume.

Im Lichthof des Hauptgebäudes

39 Stufen sind erst bewältigt, 124 stehen also noch an. Langjährige Erfahrung und kluge Einschätzung der Kräfte verteilt sie auf zwei Etappen. Die erste ist grandios. Sie führt durch ein furchterregend schwerblütiges Steinportal direkt in den Lichthof, das Herzstück des gesamten Baus und Schauplatz der geschichtsträchtigen Flugblattaktion der „Weißen Rose“. Durch eine unscheinbare Türe betrete ich seinen Säulenumgang und muss gleich alle Mühe aufbringen, die hier nun wirklich flutenden Studentenmassen zu durchqueren, um an den Stufen des Prachtaufgangs noch einmal Luft zu holen. An dieser Stelle ist nun alles klassisch, von den kapitellbewehrten Säulen bis zur Lichtkuppel, die an das römische Pantheon gemahnt, unübersehbar natürlich auch die togagewandeten Dioskuren links und rechts des Aufgangs, König Ludwig I. und Prinzregent Luitpold. Da wird so schamlos das Rad zurückgedreht, dass es einem im Herzen nicht anders als lachen kann. Und los geht’s empor, auf halber Treppe mit dem Fotomotiv der Uni, dem Blick auf den römischen Brunnen draußen, flankiert von den beiden herausragenden Seitenflügeln – ein Ensemble, das proseminarhaft eindeutig den Petersplatz imitiert und das die Botschaft des Universitätssiegels nachdrücklich bekräftigt, das die Mitte des Eingangs ziert: Maria, sedes sapientiae, Sitz der Weisheit – die Muttergottes, die alles in ihrem Herzen bewegt und darüber nachsinnt. Was fordert mehr als Maßstab heraus, drinnen das „In tyrannos“ der „Weißen Rose“ oder hier die Weisheit der rosa mystica?

„Piano nobile“

93 Stufen und ein langer, lichtdurchfluteter Flur, entlang an den Dekanaten mit prächtigem Blick auf den Geschwister-Scholl-Platz und die Ludwigstraße. Vom Herz des Hauses führt der Weg nun wieder weg in die Extremitäten, genauer den Theologentrakt. Schritt um Schritt werden auch die Gedanken handfester: Welche Punkte sind gleich zu besprechen? Was steht in der Vorlesung nachher an? Wann ist Zeit für einen Imbiss und wo nehme ich den Kaffee ein? Doch nicht immer erlaubt der Gang über den Flur solche stillen Betrachtungen. Gern wird er auch zu Präsentationsständen für Teilnehmer einer Konferenz oder für Versicherungen, Anwaltskanzleien und Warenhausketten bei der Veranstaltung „Student und Arbeitsmarkt“ genutzt, neulich sogar für ein kostenloses „Shooting“ für Bewerbungsfotos (das ist übrigens schlechtes Englisch, denn um eine Schießerei handelt es sich Gott sei Dank ja nicht). Es war eindrucksvoll, wie sympathische Studenten, die einem eben noch mit einigen freundlichen Worten die Tür aufgehalten haben könnten, sich vor der Kamera in lächelnde Masken nach DIN Nummer soundso verwandelten, offensichtlich um unter Beweis zu stellen, dass die bei Jobs im höheren Dienst so gesuchte Persönlichkeit offensichtliche hauptsächlich in der Fähigkeit besteht, verlässlich nicht aus dem Rahmen zu fallen. Oder trifft das auch schon für das Studium zu? Jedenfalls konnte ich mir die Typen vor der Kamera nicht recht in einem meiner geliebten drei Innenhöfe vorstellen.

Die letzten 70 Stufen sind ohne barmherzige Zwischenflure zu bewältigen – ein echter Konditionstest. Jede Stufe füge der Lebenszeit drei Sekunden hinzu, heißt es. Nach einer Überschlagsrechnung müsste ich dann etwa 124 Jahre alt werden. Sollte ich da nicht lieber mit dem Aufzug fahren? Wahrscheinlich habe ich mich sowieso nur verrechnet und für Sekunden Tage eingesetzt. Ohnehin steigt auf dieser letzten Strecke die Theologendichte enorm und damit auch die Wahrscheinlichkeit eines kurzen Zwischenhalts, sei es für Plausch und Gruß, sei es für eine Nachbesprechung der letzten Sitzung. Wohl dem, der hier noch nicht außer Atem ist! Der Aufgang zum Theologentrakt wurde vor wenigen Jahren rundumerneuert, doch die frisch verputzte Wand wurde schon wieder aufgerissen und zeigt Handwerkerstriche und -zahlen. So hat es wohl auch damals im gerade erst errichteten Parkhaus angefangen. Und in 40 Jahren… doch dann werde ich längst einen anderen an meiner Stelle diese Stufen zum Parnass emporsteigen lassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert