Joseph de Guibert, Dokumente des Lehramtes zum geistlichen Leben. Übersetzt, aktualisiert und herausgegeben von Stephan Haering und Andreas Wollbold / Josephus de Guibert, Documenta ecclesiastica christianae perfectionis spectantia, quae transtulerunt, recognoverunt et ediderunt Stephanus Haering et Andreas Wollbold, Freiburg i.Br.: Herder 2012

In dieser Textsammlung wird zum ersten Mal in einer zweisprachigen, sorgfältig übersetzten Ausgabe das Gesamt aller lehramtlichen Dokumente zu Fragen des geistlichen Lebens aus zwei Jahrtausenden präsentiert. Zugrunde liegt das Werk Joseph de Guiberts „Documenta ecclesiastica christianae perfectionis studium spectantia“ von 1931, das aktualisiert wurde. Alle Texte sind originalsprachlich wiedergegeben und in gutes Deutsch übersetzt.

 

Hintergrund
Der Anfang war der Sonderverkauf eines bekannten theologischen Antiquariates in Münster. Ich reiste eigens an und reiste anderntags mit ca. 20 kg Zusatzgepäck wieder ab. Darin befand sich zum einen der Katechismus des hl. Robert Bellarmin und zum anderen eine weinrot eingebundene Textsammlung eines Professors der römischen Gregoriana – meiner Gregoriana von 1979-1983! -, allerdings von 1931 und bereits auf entsprechend nachgedunkeltem Papier. Doch welcher Schatz! Ein Denzinger des geistlichen Lebens mit Texten des Lehramtes aus zwei Jahrtausenden! Doch kein Mensch kannte ihn (pardon: ein so ausgezeichneter Kenner wie Prof. Josef Weismayer in Wien war damit bestens vertraut). Und spirituelle Theologie ohne Vergewisserung der Lehre der Kirche wirkt wie eine Brücke ohne Balken: absturzgefährend. In jugendlichem Leichtsinn machte ich mich mit meinem Kollegen Stephan Haering, dem exzellenten Kanonisten und Rechtshistoriker, an die Übersetzung und Aktualisierung. Leichtsinn, ja, denn etwas privat lesen und etwas nach wissenschaftlichen Standards der Öffentlichkeit vorlegen sind wirklich zwei Paar Schuhe. Es muss schon die Vorsehung gewesen sein, die uns den Mut dazu eingeflößt hatte, denn nach etwa zehn Mal so viel Arbeit wie gedacht konnten wir das Werk schließlich 2012 der Öffentlichkeit präsentieren.

 

Leseprobe

[Im „Guibert“ finden sich große Namen und Kontroversen der Spiritualitätsgeschichte, etwa zu den Montanisten und den Messalianern in der Alten Kirche oder zu Luther, den Alumbrados und den Quietisten in der Neuzeit. Aber es gibt auch Dokumente zu spirituellen Strömungen, die wohl eher Fachleuten vertraut sind. Doch auch bei ihnen wird man manche Parallele zu gegenwärtigen Bewegungen und Denkrichtungen erkennen.]

XXXI. – VERURTEILUNG DER „MENSCHEN VON DER ERKENNTNIS (HOMINES INTELLIGENTIAE)“

  1. – Am 12. Juni 1411 sprach Petrus de Alliaco (Pierre d’Ailly, ca. 1351-1420) das Urteil über eine pseudomystische, freigeistige Sekte in Brüssel namens „Homines Intelligentiae (Menschen von der Erkenntnis)“. Ihr Anführer waren der Laie Aegidius Cantor und der Karmelit Wilhelm von Hildernissen. Das Urteil als Ganzes findet sich bei Baluze-Mansi 2, 277-297, aus Baluze auch bei Du Plessis d’A. 1/2, 201-209, und bei Frédéricq 1, 269-279. Hier sind die das geistliche Leben betreffenden Irrtümer der doppelten Formel entnommen, die im Urteil enthalten ist und die Wilhelm von Hildernissen unterschreiben musste. Zu den „Homines Intelligentiae“ vgl. F. Vernet, Art. Hommes de l’Intelligence, in: DThC 7, 38-40, und H. Haupt, Art. Homines intelligentiae, in: RE 8, 311f.

[12.6.1411]              Petrus von Alliaco (Pierre d’Ailly), Bischof von Cambrai

T: Baluze-Mansi 2, 285-288. – Ü: Eigene.

L: DSp 1, 256-260 (E. Vansteenberghe, „Pierre d’Ailly“); LThK³ 8, 101-103 (J. Miethke, „Peter von Ailly“).

  1. – Es folgen die falschen, irrigen und häretischen Sätze, die in der folgenden Form von Bruder Wilhelm zu widerrufen sind: […]

Drittens sagen sie, es sei nichts, sich willentlich zu verhalten, denn Gott wirke alles; und dass alles, ob gut oder böse, geschehe, weil Gott es will, dem stimmen sie zu. – Ich widerrufe es als falsch, häretisch und die Ohren Eifriger verletzend.

Viertens erwirbt kein reiner Mensch, der sich noch Pilgerstand befindet, durch seine Werke irgendein Verdienst für das ewige Leben, sondern allein Christus, der am Kreuz alle Verdienste erworben hat. – Ich widerrufe es als leicht in einem schlimmen Sinn deutbar, die Ohren Eifriger verletzend und als irrig und häretisch.

Fünftens gereicht das Tun des Menschen diesem nicht zu Verdienst oder Schuld oder zu Heil oder Verdammnis, sondern das Leiden Christi hat für alle Genugtuung geleistet. – Ich widerrufe es als falsch, gefährlich und anstößig, irrig und häretisch.

Sechstens befleckt der äußere Mensch den inneren Menschen nicht. – Ich widerrufe es als falsch und leicht in einem schlimmen Sinn deutbar.

Siebtens wird der innere Mensch nicht verdammt. – Ich widerrufe es in gleicher Weise als falsch und leicht in einem schlimmen Sinn deutbar.

[…]

Zehntens werden die Predigten und Lehren der alten Heiligen und Lehrer vergehen, und es werden neue kommen; die Schrift wird deutlicher geoffenbart werden, als sie bis jetzt bekannt gemacht worden ist; der Heilige Geist wird den menschlichen Verstand heller erleuchten, als er es bisher – die Apostel eingeschlossen – getan hat, denn diese hatten nichts als die äußere Schale; und es steht eine Zeit nahe bevor, in der jenes Gesetz des Heiligen Geistes und der Freiheit des Geistes geoffenbart wird, und dann wird das derzeitige Gesetz aufhören. – Dies widerrufe ich als irrig, vermessen und häretisch.

[…]

  1. Zwölftens habe ich mehrfach versichert: Ich habe eine Offenbarung gehabt und bin in ihr von Gott umfangen und erleuchtet worden; in diesem Moment habe ich die Freude über die Gewissheit gehabt, die Ewigkeit zu erlangen; obwohl diese Freude schnell wieder verflogen ist, ist in mir doch die Gewissheit der Ewigkeit geblieben; und von da an habe ich die Heilige Schrift deutlicher und anders verstanden als zuvor. Aus diesem Grund habe ich auch manchmal behauptet, ich wolle lieber nach der Schrift predigen. – Dies widerrufe ich als gefährliche, anmaßende und für die Ohren Eifriger leicht in einem schlimmen Sinn deutbare Behauptung. Es ist auch wahrscheinlich, dass dies mir Anlass zu weiteren Irrtümern gegeben hat.

Dreizehntens ist Gott überall, im Gestein, in den Gliedern der Menschen und in der Hölle ebenso wie im Sakrament des Altares, und ein jeder besitzt folglich Gott in vollkommener Weise, noch bevor er kommuniziert. – Ich widerrufe es als falsch und abergläubisch. Denn obwohl Gott überall ist und in jedem beliebigen Gegenstand dessen Wesen entsprechend sein kann, so ist er doch im Sakrament des Altares in einer spezifischeren Weise anwesend, nämlich sakramental, in der er in den übrigen geschaffenen Dingen nicht anwesend ist.

Vierzehntens kann keiner die Heilige Schrift vollkommen verstehen, wenn nicht der Heilige Geist in ihm ist. – Dies widerrufe ich als falsch und irrig, weil es feststeht, dass einige Sünder die Heilige Schrift besser verstehen als viele einfache Leute, die den Heiligen Geist und die Gnade des Heiligen Geistes besitzen.

Fünfzehntens werde es nicht eine zukünftige Auferstehung geben, da diese bereits in Christus geschehen ist, weil wir die Glieder Christi sind und das Haupt nicht ohne die Glieder auferstanden ist. – Dies widerrufe ich als irrig und häretisch.

Sechzehntens habe ich behauptet, eine Offenbarung gegen die Priester gehabt und eine Stimme gehört zu haben, die sagte: „Ich bin gekommen, um die Priester zu beschämen.“ – Dies widerrufe ich als abergläubisch und Anstoß erregend.

[…]

Achtzehntens habe eine verführte Frau, wenn sie weder besondere weltliche Aufgaben noch einen Mann hat, dasselbe Verdienst wie eine Jungfrau. – Dies widerrufe ich als falsch, irrig und leicht in einem schlimmen Sinn deutbar.

T: Baluze-Mansi 2, 294f. – Ü: Eigene.

  1. Es folgen die falschen, irrigen und häretischen Lehrsätze, denen ich, Bruder Wilhelm, vor Gericht abgeschworen habe und weiterhin abschwöre; ihretwegen ist mir die kanonische Abbitte [purgatio canonica] auferlegt worden, weil ich wegen dieser Aussagen in der Öffentlichkeit in schlechtem Ruf stand und ich mich durch sie sehr verdächtig gemacht hatte.

Erstens. Vielen ist es von Vorteil zu sündigen, weil sie darin die Gelegenheit finden, sich dem Wohlgefallen Gottes zur Verfügung zu stellen.

Zweitens. Die geschlechtliche Vereinigung könne auf natürliche Weise und mit einer solchen Absicht geschehen, dass sie vor Gott ebenso viel wie das Gebet gelte.

Drittens. Wer sich durch die regelmäßige Praxis von Bußwerken – Fasten, Beten und Entzug dessen, was der Natur angenehm ist – abtötet, bedarf dieser Werke dennoch nicht zu seinem Heil. Vielmehr ist derjenige der Reinste und Vollkommenste, der sich darum nicht kümmert, noch in seinem Gewissen irgendein Reuegefühl erweckt.

Viertens. Ich habe nach einer bestimmten Offenbarung, in der ich nach eigener Aussage von Gott umfangen und erleuchtet worden bin, Folgendes gesagt: Ich war vollständig verändert worden, ich verstand ohne Anstrengung und Studium die Heilige Schrift, und zwar deutlicher als zuvor, ich konnte mich nicht täuschen, meine Predigten überstiegen menschliche Einsicht und darum zog ich meine Rede den anderen vor, indem ich versicherte: Einmal war ich wie ihr, jetzt aber bin ich anders und verstehe auf andere Weise. Wer meine Worte hört, hört die reine Wahrheit. Wer dagegen die Worte anderer hört, wird irregeführt. Denn die anderen predigen den Tod, ich aber das Leben.

Fünftens. Der Mensch kann in diesem Leben so mit Gott vereint werden, dass er durch die äußeren Akte, welcher Art auch immer sie sind, nicht sündigt.

Sechstens. Nicht Pilatus, Kaiphas und Kain sind verdammt, sondern die Sünde.

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