„Der Mensch ist der Schatten eines Traumes“, so sagt der griechische Dichter Pindar. War auch das Jahr 2018 nicht viel mehr als der Schatten eines Traums? Glanzpunkte gab es kaum, und man muss sich schon sehr anstrengen, um sich die wichtigsten Ereignisse des verflossenen Jahres überhaupt wieder vor Augen sich zu führen. Fußballweltmeisterschaft in Russland? Ach, wahrscheinlich sind die Deutschen einmal wieder Weltmeister geworden, oder? Oh nein, weit gefehlt, peinlich! Irgendwie erscheint da alles wie ein schlechter Traum. Kaum jemals war das Wort vom seligen Vergessen so angebracht wie hier. Allerdings nicht nur bei der schönsten Nebensache der Welt. Schauen wir zunächst in die Politik und dann in die katholische Kirche.

der Schatten eines Traumes (Pindar)

Das politische Jahr

Dasselbe Spiel leider auch in der Politik: wie im Traum, unwirklich, in einer eigenen, für andere kaum nachvollziehbaren Logiken kreisend. Kein Wunder, dass viele mit gesundem Menschenverstand nur noch den Kopf schütteln. Beispiele? Nordkoreas 180-Wende, die vielleicht nur eine ausgekochte List ist, steht für vieles. Bleiben wir lieber im eigenen Land; doch redlich nähren können wir uns da nicht. Da war einmal eine Bundestagswahl, und die beiden Hauptverlierer wurden nach endlos sich über ein halbes Jahr hinziehenden Koalitionsverhandlungen in eine Vernunftehe gedrängt (wer drängte da eigentlich?, ein unerleuchteter Bundespräsident oder die Angst der beteiligten Parteien vor einem noch größeren Debakel bei Neuwahlen?). Vernunftehe? Wie sehr in der längst nicht mehr so großen Koalition die Vernunft herrschte, darüber wird man je nach Parteizugehörigkeit unterschiedlich urteilen. Fest steht aber eines: Dass durch diese mésalliance eine kraftvolle, von einer breiten Welle der Wählerschaft getragene Politik hervorgegangen sei, werden selbst Freunde der beteiligten Parteien kaum ernsthaft behaupten können. Deutschland schwächelt vielmehr, und kompensiert wird diese Schwäche gut deutsch wie immer durch Scheckbuchdiplomatie, also indem Probleme durch Steuergelder gelöst werden. Oder auch durch den angeblich goldenen Mittelweg, der aber eher die Quadratur des Kreises darstellt. Was im Falle einer plötzlich eintretenden Wirtschaftskrise passieren würde, darf man sich da gar nicht ausmalen. Dass bei diesem Stil das Profil der regierenden Parteien noch weniger erkennbar ist, stellt eine Hypothek dar, für die der nächste Wahltag vielleicht schon die Rechnung präsentieren wird.

Die Union hätte bei der Wahl des oder der Parteivorsitzenden die große Chance gehabt, aus dieser Konsensfalle herauszukommen, aber sie zog wohl das kuschelige Wir-Gefühl vor. Schon rein rhetorisch konnten die Bewerbungsreden der beiden Hauptkontrahenten Kramp-Karrenbauer und Merz nicht gegensätzlicher ausfallen: hier die Union als Familie, als süße Mischung aus „Weiter so, wir sind stolz auf das Geleistete!“ und „Ich bin nicht die Mini-Merkel“, viel Feeling und am Schluss auch die unvermeidlichen Tränen, die so authentisch machen; dort die überlegene Analyse, das Programm, die Positionierung, ganz ohne Polemik und Selbstempfehlung – Kenner legten Merz diesen kompromisslosen Sachbezug als taktischen Fehler aus, denn wer in der deutschen Politik etwas werden will, darf eben niemals Fraktur reden. Man braucht nicht zu fragen, wie die Abstimmung ausfiel. Arnold Gehlen mit seiner „Moral und Hypermoral“, dem Vordringen des familiären Ethos in den öffentlichen Raum, hätte seine Freude daran gehabt. Dass sie dennoch so knapp war, zeigt, welcher enorme Vulkan unter der Oberfläche dieser einst als Kanzlerwahlverein apostrophierten Partei (nicht weniger als bei ihrer Schwester in Bayern) brodelt. Dass man schon bei der Heimreise von Hamburg eigentlich gar nicht wusste, wohin die Partei sich inhaltlich wenden wird, konnte schon einmal Parallelen zum Martin Schulz-Hype der SPD aufkommen lassen, der ebenso rasch wie gründlich in sich selbst zusammengefallen ist. Man wird sehen.

Feeling statt Fakten, Wir-Gefühl statt Sachbezug – das liebt unsere Zeit, aber damit löst man keine Probleme. Auch nicht in Europa. Da ist die Schwäche Deutschlands angesichts der Krise des Westens kaum zu ertragen. Das gilt umso mehr, als Präsident Macrons Aufbruchsrhetorik nun im eigenen Land wohl endgültig die Flügel gestutzt sind.

Doch es geht nicht nur um die Regierungsparteien in Deutschland. Ja, es geht nicht einmal nur um die Politik, sondern um eine Kultur des öffentlichen Lebens. Das Hamburg der CDU war da bloß ein Symptom. Inzwischen ist jede offene Diskussion, jeder Austausch von Argumenten, jede Begründung aus harten Fakten, jedes Ringen um den klügsten Weg, der nur in den seltensten Fällen identisch ist mit dem idealen Weg in der besten aller Welten, zugunsten einer neuen Zweiklassengesellschaft in Vergessenheit geraten ist: die Mitspieler und die Ausgeschlossenen. Zweitrangig ist, was jemand zu sagen hat, peinlich genau wird dagegen darauf geachtet, ob er (pardon: oder sie oder Ich-weiß-noch-nicht) die Spielregeln der politischen Korrektheit einhält. So sehr man deshalb bei jeder Gelegenheit auf die Menschenrechte pocht, das Recht auf freie Meinungsäußerung – und das ist immer auch das Recht, die eigene Torheit öffentlich bekanntzumachen, ohne andere Folgen zu gewärtigen, als sich schlimmstenfalls bis auf die Knochen zu blamieren -, dieses Recht auf freie Meinungsäußerung ist heute am meisten gefährdet. Da hinterließ auch der Fall Hans-Georg Maaßen ein schales Gefühl, und das bei aller Unklugheit, die er zweifellos an den Tag legte. Am erschreckendsten: Keiner nimmt diesen Verfall wahr, bis es ihn einmal selber trifft. Dabei wäre in einer pluralistischen, immer auch zu Extremen neigenden schönen neuen Internet-Welt „Ruhig Blut!“ die beste Devise. Für strafbare Verbrechen wie Nazi-Propaganda und Volksverhetzung, aber auch für persönliche Beleidigung hat das Strafrecht längst einschlägige Paragraphen geschaffen. Das wahrt die notwendigen Grenzen des Umgangs miteinander. Doch längst haben wir sie weit überschritten und versuchen, unliebsame Meinungen oder auch ganze Anti-Establishment-Bewegungen mundtot zu machen. Das schaukelt deren Einfluss erst richtig hoch, weil es ihnen den kühlen Realitäts-Check erspart und stattdessen die Aura einer APO wie den Linken vor 50 Jahren verleiht – das „Cinque-stelle“-Italien war in diesem Jahr nur das jüngste Beispiel. Anstatt uns also ernsthaft mit dem auseinanderzusetzen, was Millionen Menschen – durchaus auch gut Bürgerliche, Wertekonservative und Nachdenkliche! – dazu bringt, sich im Status quo nicht mehr vertreten zu sehen, anstatt sich also auch unbequemen Wahrheiten zu stellen, greift man dazu, zu diffamieren und zu verdrängen. Die Rechnung geht immer weniger auf, aber das scheint niemanden zu stören.

Philosophisch Interessierte werden dahinter ein epochales Problem sehen. Der herrschende Materialismus, Konsumismus und Sensualismus – Sinnlichkeit ist der neue Götze, nicht nur in der Werbung! – sieht das geistige Leben nur noch wie ein materielles Phänomen an: Die stärkere Kraft verdrängt die schwächere. Ursache und Wirkung eben, also wäre alles ein einziger Holzhammer. Wer darum an den Hebeln der Macht sitzt (auch der Medienmacht), wird alles tun, gegenläufige Kräfte klein zu halten. Geist, Sprache, Argument und Begründung sind da nur so gut, wie sie Wirkung zeigen. Es gibt keine objektive Wahrheit mehr, sondern alles, was gesagt wird, dient nur als Mittel zum Zweck. Darum ist man so beflissen, ständig „Zeichen zu setzen“. Darum bestehen öffentliche Reden (auch von Bischöfen!) inzwischen hauptsächlich aus einer Ansammlung von zitierfähigen catch-words. Überzeugungen, Werten dienen, ihnen gar treu bleiben, ob gelegen oder ungelegen, einfach weil man sie für wahr hält? Nein, das gilt als politischer Selbstmord – siehe oben das Hamburg der CDU. Übrigens folgt offensichtlich auch eine Wertepartei wie die Union inzwischen den Leitsatz: „Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von vorgestern?“

Foto: M. Klees

Das Jahr in der katholischen Kirche

Euer Ja sei ein Ja, oder Nein ein Nein (Mt 7,37)

Kommen wir zur katholischen Kirche. Leider lässt sich, irdisch gesehen, für das Jahr 2018 kein „Te Deum“ anstimmen. Für den Papst war es sicher mit Abstand sein schlechtestes Jahr, ein regelrechtes „annus horribilis“. Einen ordentlichen Anteil daran haben ausgerechnet die „ordentlichen“ Deutschen. Das Hin und Her um die „Orientierungshilfe“ der Deutschen Bischofskonferenz zur Kommunion für Nicht-Katholiken in Mischehen haben wir anderswo bereits in allen Etappen kommentiert. Hier soll nicht mehr an den fragwürdigen Inhalt – wirklich ein eher surrealer „Schatten eines Traums“ – erinnert werden, sondern daran, dass damit nachhaltig die Autorität des Heiligen Vaters beschädigt wurde. „Euer Ja sei ein Ja, oder Nein ein Nein“ (Mt 5,37), das wurde ganz offensichtlich ersetzt durch das Prinzip: Recht bekommt, wer es versteht, am meisten seinen Einfluss geltend zu machen. Wie war das? „Die stärkere Kraft verdrängt die schwächere.“ Materialismus und politisches Spiel der Kräfte also auch in der Kirche? Unterschrieben mit dem päpstlichen „F.“ auf einem Papier mit dem Briefkopf des Vorsitzenden der Bischofskonferenz? Um das Maß vollzumachen, wird die „Orientierungshilfe“ mittlerweile eben doch in verbindliches diözesanes Recht umgesetzt, als hätte es nie die ernsthaften Bedenken der Glaubenskongregation gegeben, ganz zu schweigen davon, dass die „schwerwiegende Notlage“ des Kirchenrechtes unmöglich auf eine Ehe von Katholiken und Protestanten angewendet werden kann. Selbst wenn man das Anliegen der gemeinsamen Kommunion vertritt, muss man feststellen: Die Autorität des Papstes ebenso wie der Bischöfe in Lehre und Jurisdiktion ist dauerhaft beschädigt. Denn sie beruht ja auf der Treue zum Herrn, ob gelegen oder ungelegen, nicht auf dem zufälligen Ausgang eines kirchlichen Power-Plays.

Dass den Papst dann aber ausgerechnet die Missbrauchskrise im Weltmaßstab, aber auch in seiner Heimat einholen würde, war kaum vorhersehbar. Sie traf ihn und seine Leute aber ganz offensichtlich unvorbereitet und legte größte Schwächen bloß. Seine Neigung zum raschen, manchmal treffenden, manchmal aber auch unbedachten Wort kam ihm in diesem Zusammenhang nicht unbedingt zugute. Umso schwerer wiegt das päpstliche Schweigen angesichts heftiger Vorwürfe, die zwar im Brandbrief von Erzbischof Viganò gipfelten, die aber, wie etwa die Enthüllungen des „Spiegel“ belegen, offensichtlich eine breitere Basis besitzen. Hier rächt sich die unbedachte Devise der letzten Jahre, dass neuerdings offensichtlich nicht mehr die Sünden wieder den Heiligen Geist unvergebbar sind, sondern eine wie auch immer geartete Nachlässigkeit im Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche. Wohlgemerkt: Absoluten Vorrang muss der Opferschutz haben. Stattdessen wird alle Kraft in den Nachweis gelegt, selbst mit markigen Worten alles und alle zu verurteilen, die damit in Verbindung gebracht werden (Stichwort „Missbrauch liegt in der DNA der Kirche“). Wohlfeil ist der Generalverdacht gegen den Umgang früherer Generationen mit dem Problem, der recht unhistorisch an heutigen Standards gemessen wird. Älteren Bischöfen oder eben u.U. sogar einem Papst kann das auf die Füße fallen. Denn in früheren Jahrzehnten und erst recht in traditionell katholischen geschlossenen hierarchisch denkenden Gesellschaften war der Umgang mit sexuellem Fehlverhalten und insbesondere Missbrauch einfach ein anderer als heute. Man muss das bedauern; es aber zu personalisieren und mit dem Finger auf einzelne zu zeigen, führt wenig weiter.

Und damit sind wir in Deutschland, genauer dem Abschlussbericht der Untersuchung zu sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland seit 1946 bis 2014, der bei der Herbstvollversammlung der DBK vorgestellt wurde und durch Indiskretionen bereits im Voraus heftig diskutiert wurde. Wer den Bericht als ganzen durchstudiert hat, wird im Großen und Ganzen nicht die große Überraschung erlebt haben, wenn man etwa weiß, dass nach vorsichtigen Schätzungen etwa 4 % der Bevölkerung in unseren Ländern pädophile Veranlagungen aufweisen können. Die Zahlen von insgesamt etwa 4,4 % der Priester, denen ein entsprechendes Verhalten zur Last gelegt wurde, nicht wirklich erstaunen. Gewiss heißt pädophile Veranlagungen keineswegs schon pädophiles Verhalten, aber die Zahl gibt immerhin Anhaltspunkte dafür, dass es sich gesamtgesellschaftlich keineswegs um ein marginales Problem handelt. Die katholische Kirche ist nur die erste Institution, die den Mut aufbrachte, die Fakten lückenlos aufzudecken. Der Bericht selbst hat Stärken und Schwächen; dabei braucht man der sehr prononcierten Stellungnahme von Manfred Lütz nicht einmal in jeder Hinsicht zu folgen. Eine gewisse Ambivalenz ist bei wissenschaftlichen Untersuchungen kaum anders zu erwarten. Was aber befremdet, ist, welche Lehren aus dem Bericht gezogen werden – leider auch von den Autoren selbst. Sie haben darin Forderungen an die Kirche gestellt, die überhaupt nicht oder höchstens in eher assoziativer Form mit den eigentlich wissenschaftlich erhärteten Ergebnissen gedeckt sind. Andere Fakten, die wir auch aus anderen Daten der Weltkirche kennen, etwa der signifikant hohe Anteil von Untaten von Priestern gegenüber Minderjährigen männlichen Geschlechtes, werden entweder verschwiegen oder gar zum Anlass genommen, der katholischen Kirche insgesamt und den Priestern ein Ausleben ihrer gegebenenfalls homosexuellen Orientierung nahezulegen. Kommentar erübrigt sich. Doch dies ist nur ein Beispiel für den Tiefstand innerkirchlicher Diskussionskultur, und zwar auf allen Seiten. Denn je nach kirchenpolitischer Couleur nutzt man das Faktum des sexuellen Missbrauchs für die eigene Agenda: die Rechten für die Generalabrechnung mit der Liberalisierung der Kirche, des Priestertums und der Ausbildung homosexueller Netzwerke in Orden und Seminarien, die sogenannten Reformer dagegen nutzen es als Hebel für ihre altbekannten Forderungen nach Abschaffung des Zölibats Liberalisierung der Sexualmoral und Anerkennung gleichgeschlechtlicher sexueller Aktivität. Das geht so reflexhaft, dass mir die Lippenbekenntnisse dazu, es ginge ja hauptsächlich um den Opferschutz, inzwischen nicht mehr in jedem Fall glaubhaft erscheinen. Dabei böte die Studie gerade dafür viele wertvolle Hilfen, etwa zu den vier Merkmalprofilen der Opfer (B.2.2), zum Geschlecht der Opfer (62,8 % männlich und 34,9 % weiblich, 2,3 % unbekannt, im Teilprojekt 2 und 3 sogar 76,6 % und 80,2 % männliche Opfer) und insbesondere zu den Vorbelastungen und Risikostrukturen der Täter (Überforderung im Amt, Substanzmissbrauch, mangelnde soziale Kompetenz und Reife, Vereinsamung und besondere Belastung wie Pflege von Angehörigen). Man kann zweifeln, ob man mit dem Sturm der Entrüstung, des Stigmas und des raschen Ausschlusses aus dem Klerikerstand potentiell Gefährdete überhaupt erreichen und rechtzeitig präventiv vorgehen kann.

„Der Schatten eines Traums“ – der Gang durch das Jahr 2018 hat unseren Eindruck des Unwirklichen mehrfach bestätigt. Unwirklich ist öffentliches Leben vor allem dadurch, dass es häufig kaum mehr um die Sache, das nüchterne Erkennen, Analysieren und Differenzieren geht, auch nicht um ein Wohlwollen gegenüber Andersdenkenden und einen Vertrauensvorschuss bis zum Erweis des Gegenteils, sondern um ein Verschieben des Kräfteparallelogramms zu den eigenen Gunsten. Doch was ist der wahre, der einzig angemessene Blick auf das, was in diesem Jahr geschehen ist? Allein der weiß es, der auf Herz und Nieren prüft. Und der auch weiß, dass „der Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“ (1 Sam 16,7). Darum ist die wahre Geschichte dieses Jahres immer die, die sich in der Verborgenheit des Herzens eines jeden Menschen abspielt.

Foto: M. Klees

Ein Gedanke zu „Das Jahr 2018 in Politik und Kirche

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