Kurzvorstellungen von Büchern zur konservativen Theorie

Nach und nach sollen hier einige weitere Bücher kurz vorgestellt, die unter verschiedener Hinsicht lesenswert erscheinen und eine Auseinandersetzung lohnen. Fürs erste sind dies zwei Bücher:

  1. Lexikon des Konservatismus: ein wichtiges Nachschlagewerk vor allem zu Personen und ausgewählten Inhalten von einer Gruppe von Mitarbeitern, die seinen Anliegen mit Sympathie entgegenkommen.
  2. Henri de Lubac, Die Tragödie des Humanismus ohne Gott: In dunklen Stunden des 2. Weltkriegs verfasst, wurde dieses Werk wegweisend für die Begründung von Religion und Christentum gerade um der Menschlichkeit des Menschen willen.
  3. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: In seinem letzten Werk von 1936 rekonstruiert der Begründer der philosophichen Phänomenologie, wie es dazu gekommen ist, dass die Wissenschaften zwar gewaltige Einzelerfolge feiern, aber zu den letzten Sinn- und Wertfragen des Menschen nichts zu sagen haben. Auf hohem Niveau stellt er damit die Frage nach der Seele Europas: eine Rationalität, die offen bleibt für die Venrunft, die letztlich Gott selbst in die Dinge gelegt hat.
  4. Alain Finkielkraut, La défaite de la pensée: Das ist das berühmte Essai des jüdischen Intellektuellen von 1987, mit dem er den Menschen daraus befreit, bloß Teil einer Kultur, eines Wir, einer Prägung zu sein – das wäre nichts anderes als die „Niederlage des Denkens.“
  5. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?: Noch ein berühmtes, aber zumeist missverstandes Essay des bedeutenden amerianischen Politikwissenschaftlers, der sich 1993, nach dem Ende des Kalten Krieges, fragte: Was sind die treibenden Kräfte der neuen Konflikte? Liest man den Aufsatz heute, kann man über seine Weitsicht nur staunen.
  6. Jens Hackes wichtige Abhandlung zum Liberalkonservatismus in der Bundesrepublik (Philosophie der Bürgerlichkeit) führt in eine wichtige Spielart eines demokratischen Konservatismus ein. Dabei fallen Namen wie Joachim Ritter, Martin Kriele, Ernst‑Wolfgang Böckenförde, Robert Spaemann, Odo Marquard und Hermann Lübbe.

Marc Aurel (Kapitol, Rom)
Lexikon des Konservatismus. Hg. von Caspar von Schrenck-Notzing, Graz-Stuttgart: Leopold Stocker Verlag 1996

Konservatismus – zumal in Deutschland – gilt als Domäne von Dunkelmännern, Autoren der zweiten und dritten Reihe, magersüchtig in der Theorie und schwindsüchtig in der Realität der Moderne. „Was für ein Vorurteil!“, kann man nur ausrufen, wenn man dieses Lexikon in Händen hält. Der unermüdliche Protektor konservativen Geistes Caspar Baron von Schrenck-Notzing (1927-2009), dessen privater Buchbestand den Grundstock der Berliner „Bibliothek des Konservatismus“ bildet, hat mit einem ihm verbundenen Mitarbeiterkreis ein sechshundertseitiges Nachschlagewerk vorgelegt, das seinesgleichen sucht. Man muss nicht seinen Positionen anhangen, um das Lexikon mit Gewinn aufzuschlagen.
Dieses Nachschlagewerk ist hauptsächlich personenorientiert, und so finden sich unzählige bekannte und nicht wenige eher unbekannte Namen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem deutschsprachigen Bereich, aber auch wichtige Gestalten des europäischen und amerikanischen Konservatismus wie José Ortega y Gasset, Joseph de Maistre, Alexis de Tocqueville oder William Butler Yeats fehlen nicht. Dabei handelt er von konservativen Denkern; Politiker  wie Konrad Adenauer sind nur aufgenommen, insofern sie zur politischen Theorie beigetragen haben.  Ebenso konzentriert sich der Band auf die letzten 200 Jahre, also jenen Zeitraum, in dem von Konservatismus im ausdrücklichen Sinn gesprochen werden kann (Ausnahmen wie Bossuet, Thomas von Aquin oder Platon bestätigen die Regel!). Dazwischen sind teilweise ausführlichere Sachartikel eingestreut, z.B. zu Heimat, Jugendbewegung, Katholischer Soziallehre oder Public-Choice-Theorie oder die wichtigen Überblicksdarstellungen zu einzelnen Ländern und Grundthemen. Die Beiträge sind knapp und konzise, manchmal geradezu stichwortartig, stets aber auch für Nichtfachleute nachvollziehbar und vor allem motivierend. Weiterführender Literatur ist viel Raum gegeben, so dass das Anfangsinteresse rasch vertieft werden kann. Ein Merkmal ist besonders hervorzuheben: Der Kreis des Konservativen ist nicht zu eng gezogen, so dass sich etwa auch ein Eintrag zu Theodor Fontane findet, der wenigstens in seinen späten Jahren deutliche Sympathien für die Sozialdemokratie erkennen ließ. Das Lexikon will nicht „die Pforte einer reinen Lehre mit dem Schwert der Doktrin verteidigen“ (12). Das ist wegweisend, denn eines der Spezifika des Konservatismus ist ja gerade, dass er nicht auf einen feststehenden, übergeschichtlichen Satz von Lehren gegründet ist, sondern die im Grunde innovativste – dadurch allerdings auch störungsanfälligste – politische Strömung ist. Breite konservative Allianzen sind heute angesagt, keine engmaschigen Grenzzäune.
A propos Politik. Das Lexikon verbleibt ausschließlich im Rahmen der politischen Theorie, Konservatismus in Kunst, Kulturschaffen, Religion und Wissenschaft bleiben weitgehend ausgespart – eine im Sinn der Beschränkung kluge Entscheidung, wenn man sich nur vor Augen hält, dass er eine Bewegung ist, die sich in allen Bereichen des geistigen Lebens und nicht nur in der Politik findet. Ein Letztes. Der Autorenkreis ist auch ein Sympathisantenkreis, d.h. in der Regel lassen die Artikel eine Nähe, ja Anteilnahme an den behandelten Personen und Inhalten erkennen. Es ist wohl unvermeidlich, dass sich dabei gelegentlich auch ein wenig Apologie einschleicht. Entschiedenere Worte der Kritik müssten jedoch die Wertschätzung nicht trüben, machten jedoch auf Gefahren aufmerksam, denen die Heutigen nicht ein zweites Mal erliegen müssen. Bedenkt man, dass über nicht wenigen Konservativen das Richtschwert der mainstream-Theorie schwebt, ist jedoch dieser Blick von der anderen Seite wohltuend, oft auch aufschlussreich.

Henri de Lubac, Die Tragödie des Humanismus ohne Gott. Feuerbach – Nietzsche – Comte und Dostojewskij als Prophet. Übertragung aus dem Französischen von Dr. Eberhard Steinacker, Salzburg 1950 (Orig.: Le drame de l’humanisme athée)

 

Die Auseinandersetzung des Jesuiten und späteren Kardinals Henri de Lubac (1896-1991) mit dem Atheismus des 19. Jahrhunderts ist aus einer Reihe von Artikeln in der Jesuitenzeitschrift „Cité nouvelle“ von 1942/43 während der Okkupation hervorgegangen, die erstmals 1944 in überarbeiteter Form als Buch erschienen. Es wurde wegweisend für die neuere Einstellung der katholischen Kirche – insbesondere in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ von 1965 – gegenüber den breiten humanistischen Strömungen, die meinten, um des Menschen willen Gott leugnen zu müssen. Der Jesuit beschränkt sich nicht auf die Widerlegung, sondern versucht, das Anliegen echter Menschlichkeit und einer Verbesserung der Verhältnisse zu würdigen, gleichzeitig aber nachzuweisen, wie die Ablehnung Gottes letztlich auch zur Negation des Menschen führt. Diese positive Auseinandersetzung mit den wenn auch dramatisch fehlgeleiteten Atheismen soll gleichzeitig zu einer Selbstreinigung des Christentums führen. – Dafür sind die drei von de Lubac gewählten Gestalten paradigmatisch zu verstehen:
•    Feuerbach (und auf ihn aufbauend Marx) steht für das „tragische Mißverständnis“ (21), nach dem der religiöse Mensch sich selbst ohnmächtig, Gott aber allmächtig verstehe. In Wirklichkeit aber gehörten alle Attribute von Gottes Vollkommenheit der Menschheit. Das ist die Pointe Feuerbachs: Nicht der einzelne Mensch tritt an die Stelle Gottes, sondern die Menschheit als Ganze. Denn nur sie ist allmächtig und unsterblich. Gott wird also gar nicht mehr bekämpft, sondern er soll als eine Illusion, als ein überwundes Studium der Geistesgeschichte endgültig ad acta gelegt werden. Aus dem Glauben an Gott wird Liebe zur Menschheit,
•    Nietzsche steht für den Übermenschen, der seine Stärke, seinen Lebenswillen und seine Ungebundenheit durchsetzen will und den ein Wesen über ihm, vor dem er sich verantworten muss, nur stört. Der „Tod Gottes“ nimmt bei ihm die Gestalt einer willentlichen  Tötung Gottes an: Der Übermensch, seiner eigenen Stärke bewusst, will Gott und seine Ansprüche beseitigen. Dabei versteht de Lubac auch die inhaltlich ganz anders gelagerte Position Nietzsches als Weiterentwicklung Feuerbachs. Er schließt mit Kierkegaard als Gegenpol – „eher ein aufrüttelnde Mahner als ein sicherer Führer“ (89) -, der mit Nietzsche gegen Hegel und den Geist des Systems für das Individuum kämpft, aber eben beim Glauben endet: „der wirkliche einzelne steht gegenüber einem wirklichen Gott“ (84f.). Schlüssel dazu ist ihm das Paradox der Inkarnation, dem man nicht gerecht wird „durch Lesen von Büchern, […], sondern durch Vertiefung in das Existieren“ (91).
•    Comte, dem sich de Lubac ausführlich im zweiten Teil widmet, steht für eine positivistische Wissenschaftsgläubigkeit, die – übrigens weitgehend nach dem Muster des Katholizismus – eine neue Religion des Fortschritts erschafft. Sein bekanntes Dreistadiengesetz (Mythologie, Metaphysik und positive Wissenschaft) übersetzt wiederum Feuerbachs Idee der Religion als Illusion in das Modell eines notwendigen Verlaufs der Geistesgeschichte. Der „geistliche Despotismus“ (193), das wohlgemeinte Besserwissen der Experten gegenüber dem zu lenkenden und aufzuklärenden Volk, ist von ungeahnter Aktualität. Die soziale Heilsreligion der Weltverbesserung macht aus den Intellektuellen die neuen Priester, wie es 1975 Helmut Schelsky für unsere Zeit so brilliant aufgezeigt hat.
Im dritten Teil stellt de Lubac Dostojewskij als „Propheten“ dar, insofern dieser in seinen Romanen mit einer Welt ohne Gott beginnt und ihre Ausweglosigkeit dramatisch beschreibt, um schließlich neu zur Erfahrung Gottes und der Erlösung vorzustoßen. Alle berechtigten, aber irregeleiteten Hoffnungen des atheistischen Humanismus sind erst in dieser Wiederentdeckung aufgenommen: Ein Individualismus der Freiheit, die Utopie eines sozialen Fortschritts und eine  radikale Diesseitigkeit werden zu einem christlichen Personalismus, dem Einsatz für das Los der Menschen und einer weltbejahenden Spiritualität.

Wappen von Kardinal de Lubac (Autor: Alekjds)

De Lubacs Buch ist wie viele seiner späteren nicht zuletzt dadurch brauchbar, dass es die vertretenen Positionen selbst ausführlich zu Wort kommen lässt. Die vielen Originalzitate sind dabei oft sehr sprechend und können durchaus zur Ersteinführung in die Autoren dienen. Andererseits war eine systematische, thesenorientierte Gedankenführung nie die Stärke des berühmten französischen Jesuiten, so dass seine belesenen Ausführungen eher eigenes Nachdenken anregen als klare Schlüsse zulassen. In einem solchen Verfahren kann man recht gut Stärken und Schwächen der „nouvelle théologie“ erkennen, deren bedeutendster Vertreter de Lubac ist. Die deutsche Übersetzung ist bisweilen etwas gewunden, macht die Lektüre manchmal schwieriger als nötig. Wer das Original sucht, greift am besten zur im zweiter Teil der „Œuvres complètes“ 1998 erschienen Ausgabe („Première section: L‘homme devant Dieu“).

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie,in: Philosophia 1 (1936) 77-176

„Ich versuche zu führen, nicht zu belehren, nur aufzuweisen; zu beschreiben, was ich sehe“ (95)

Edmund Husserl (1910)

Dieses unvollendete Werk Edmund Husserls (1859-1938) geht auf Vorträge von 1935 in Prag zurück und erschien 1936 als Summe seines eigenen Denkweges (94). Man könnte es als eine problemorientierte Einführung in die Notwendigkeit und Bedeutung des phänomenologischen Ansatzes bezeichnen. Entsprechend dem Spätwerk dieses bedeutenden jüdischen Philosophen will dieser das konsequent weiterentwickeln, was Descartes in den ersten beiden seiner „Meditationen“ seiner Meinung nach geahnt, aber dann selbst wieder verdrängt habe: das Subjekt als Ausgangspunkt der Philosophie ernstzunehmen, aber als eines, das intentional auf die Welt hin ausgestreckt ist: „Ego cogito – cogitata qua cogitata“ (152; §§ 16-21 zu Descartes bilden das denkerische Herzstück der Schrift, vgl. auch Husserls „Cartesianische Meditationen“). Mit etwas anderen Akzenten als in seinen früheren Werken ist hier also nicht der Weckruf „Zurück zu den Sachen!“ leitend, sondern gewissermaßen „Hinein in das Subjekt und seine Weltoffenheit!“ Das „Transzendentale“ an der Phänomenologie ist somit voll entwickelt.
An dieser Stelle soll aber weniger diese Weiterentwicklung der Phänomenologie selbst stehen als Husserls Rekonstruktion der Krisis der europäischen Wissenschaften – „Krisis“ meint nicht Krise, sondern Scheideweg bzw. Ruf zur Wiederentdeckung der eigenen Ursprünge. Husserl weist darin die Probleme in der Praxis der Wissenschaft auf, die seiner Ansicht nach zu der Lebensnot geführt haben, in der die Menschheit der Gegenwart sich befindet. Es ist die Krisis einer Wissenschaft, die zwar enorme Erfolge in der Ergründung von Tatsachen aufweise, aber ihre „Lebensbedeutsamkeit“ (81) verloren habe, d.h. das, was „Wissenschaft überhaupt, dem menschlichen Dasein bedeutet hatte […]: Blosse Tatsachenwissenschaften machen blosse Tatsachenmenschen“ (82). Dadurch lasse sie ungerührt die Menschen der Gegenwart – die tief verstörenden 30er Jahre aus der Sicht eines Juden! – „in der skeptischen Sintflut […] versinken“ (90). Durch diese Abkehr von den Sinn- und Wertfragen des Menschen, durch diese Ausschaltung „aller wertende[n] Stellungnahmen“ (83), letztlich durch den Verzicht auf jede Metaphysik sei aber „ihre echte Wissenschaftlichkeit […] fraglich geworden“ (80): Sie verrate ihre Aufgabe, „[d]ie latente Vernunft zum Selbstverständnis ihrer Möglichkeiten zu bringen“ (91), genauer „die Möglichkeit einer universalen Erkenntnis“ (93). „Der positivistische Begriff der Wissenschaft in unserer Zeit ist also […] ein Restbegriff“ (85). Damit fordert Husserl nicht einfach nur verstärkte Ethikforschung, auch nicht bloß die Berücksichtigung ethischer Standards der Forschung, z.B. des Tierschutzes. Er erkennt vielmehr grundlegend die Idee der Renaissance und damit der Ursprünge des neuzeitlichen Europa in einer Auffassung von Wissenschaftlichkeit, die selbst tief wert- und sinnstiftend ist: die Überzeugung von der durchgängigen Rationalität der Welt, die von einer absoluten Vernunft geformt ist und darum der Geschichte, dem Menschsein und der Freiheit einen Sinn verleiht (89, die „Idee eines rationalen unendlichen Seinsalls mit einer systemtisch es beherrschenden rationalen Wissenschaft“, 96), sowie der daraus folgende Anspruch auf ein vernunftgemäßes, selbstbestimmtes Dasein mit seinem Ideal des Menschen als des „sich in freier Vernunft einsichtig Formende[n]“ (84). Man darf hinzufügen, dass dies keine „revolutionäre Umwendung“ darstellte (84), sondern nicht weniger die Überzeugung des christlichen Altertums mit seine Logoslehre und der Scholastik mit der Ablehnung einer doppelten Wahrheit des Glaubens und der Vernunft bei Thomas von Aquin war. Mehr noch: Husserls Anliegen einer sich intentional auf die Welt hin öffnenden Vernunft  wird am überzeugendsten aus der Abkünftigkeit des geschöpflichen Geistes aus dem Geist Gottes hergeleitet.

Kiepenheuer Institut für Sonnenphysik in Freiburg i.Br., wo Husserl bis zu seinem Tod wirkte (Quelle. Eigenes Werk; Urheber: user:Joergens.mi)

Der Hauptteil von Husserls Abhandlung besteht im Nachweis, wie dieses Ideal einer universalen, die Letztfragen vernünftig lösenden Philosophie im Verlauf der Wissenschaftsentwicklung der Neuzeit verlorenging, so dass deren faktischen Erfolge diesen Verlust nur umso besser kaschierten. Die Durchführung stellt einige Ansprüche an philosophisches Denken; hier soll sie nur knapp in ihren Thesen skizziert werden. Am Anfang steht die umfassende Mathematisierung der neuzeitlichen Wissenschaft, mit deren Hilfe der Anspruch einer universalen Erkenntnis eingelöst werden soll, ausführlich dargelegt an der Gestalt Galileo Galileis (97-135). Unbemerkt kam es dabei zu einer Ablösung forscherischer Verfahren als einer bloßen handwerklichen, auf konkrete Lösungen und Erfolge abzielenden Technik vom dahinter stehenden Sinn der Antizipation von Rationalität in der Welt der Erscheinungen. Anstatt im einzelnen Forschen die Welt und ihren Sinn zu entdecken, beginnt man, Ergebnisse vorweisen zu wollen. Dadurch wird die „Lebenswelt“ (124) – ein Schlüsselbegriff Husserls – vergessen und damit das ursprüngliche Fragen nach Sinn, das mit dem konkreten Leben selbst gegeben ist. Anders gesagt, beginnt man spezialisierte Sonderwelten der Wissenschaft ohne darüber hinaus reichende Relevanz zu bilden oder „dass wir für wahres Sein nehmen, was seine Methode ist“ (127). Husserl setzt dagegen das Leben als Intentionalität (so etwa 157) oder, wie er es schön bezeichnet, „Voraussicht“: „Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion beruht alles Leben. […] Sehen, Wahrnehmen ist wesensmäßig ein Selbsthaben ineins mit Vor-haben, Vor-meinen“ (126). Dahinter erkennt der Freiburger Begründer der Phänomenologie den verhängnisvollen Dualismus einer „real abgeschlossenen Körperwelt“ mit einer „in sich geschlossene[n] Naturkausalität“ und dem erkennenden Subjekt, also die Aufspaltung „in zwei Welten: Natur und seelische Welt“ (135). Daraus leitet sich die Aufspaltung in einen „wissenschaftlichen Objektivismus“ und einen „transcendentalen Subjektivismus“ (143) ab, der die weitere Entwicklung beherrscht. Der weitere Gang der Abhandlung wird nun eher fachphilosophisch, wenn er die unerkannten Möglichkeiten von Descartes offenlegt (148-159), den Weg der Psychologie bei Locke, Berkeley und Hume (159-165) bis zum „‚Bankrott‘ der Philosophie und Wissenschaft“ (161) nachzeichnet und das wenn auch unvollkommen durchgeführte Konzept einer Transzententalphilosophie bei Kant entwirft (165-176), mit dem diese Schrift abbricht, bevor sie zur eigentlichen Lösung gekommen wäre. So bleibt sie am Ende mehr Postulat als Durchführung.
Ertrag
Vor allem Husserls Einleitung zur Krisis selbst ist ein Vermächtnis, das nach 80 Jahren nur noch dringlicher geworden ist. Es ist der Kampf um den Menschen als Vernunftwesen gegen alle „Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.), damit auch der Kampf um die Seele Europas gegen all jene, die – vielleicht gut gemeint gegen einen kolonialistischen Eurozentrismus – behaupten, dass der Anspruch der Vernunft „ein blosser historisch-faktischer Wahn ist, ein zufälliger Erwerb einer zufälligen Menschheit inmitten ganz anderer Menschheiten und Geschichtlichkeiten“ (91). Was kann – bleibend! – Europa der Welt mitteilen? Bloß seinen Wohlstand? Oder ist hier etwas zum Durchbruch gekommen, was der Menschheit aller Kulturen insgesamt verbindliche Maßstäbe zu setzen vermag? Natürlich nicht aufgrund einer faktischen Überlegenheit, sondern aufgrund der Universalität der Vernunft, die hier zur Herrschaft gekommen ist, weil also „das europäische Menschentum eine absolute Idee in sich trägt und nicht bloss ein empirischer anthropologischer Typus ist wie ‚China‘ oder ‚Indien‘. Und wieder ob das Schauspiel der Europäisierung aller fremden Menschheiten in sich das Walten eines absoluten Sinnes bekundet, zum Sinn der Welt gehörig und nicht zu einem historischen Unsinn derselben“ (92). Danach ist Europa als Idee das, was Europa als Weltregion überschreitet – und nur als solches kann und muss es den Anspruch auf Universalität und Vorbildlichkeit erheben. Diesen Anspruch wiederum kann es nur erheben, wenn der Einzelne sich nicht hinter wissenschaftlichen „Ergebnissen“ versteckt, sondern in Wissenschaft um Selbstbildung und die letzte Vernünftigkeit der Welt angesichts scheinbarer Absurdität ringt, also „Existenzdenker“ ist, wie es der Moraltheologe Klaus Demmer genannt hat. Welche enorme Bedeutung diese Überzeugung in Multikulturalismus, Dekonstruktion, banalem Individualismus und „Anything goes“ besitzt, liegt auf der Hand. Dass das Heilmittel jedoch nicht in bloßer Denunziation der Krisis besteht, sondern im geduldigen Entdecken und Aufzeigen von Sinn, das ist das Ethos einer Wissenschaftskultur, ohne die Europa in der Tat nicht mehr als eine asiatische Halbinsel wäre.

(https://sdvigpress.org/dox/108124/108125.pdf; auch in: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel, Nachdruck der 2. verbesserten Auflage [= Husserliana Bd. 6], Den Haag 1976)

 

Alain Finkielkraut, La défaite de la pensée. Essai, Paris: Gallimard 1987

Alain Finkielkraut bei den „Journées de Strasbourg“ – Le Nouvel Observateur ( 14 juin 2013, Foto:
Claude TRUONG-NGOC)

Der bekannte französische jüdische Philosoph und Zeitkritiker Alain Finkielkraut, mittlerweile auch einer der „Unsterblichen“ der Académie Française, hat mit diesem Essai 1987 den Nerv der Zeit getroffen. Bald nach seinem Erscheinen entwickelt sich daran eine breite Diskussion. „La défaite de la pensée (dt. Die Niederlage des Denkens, Reinbek: Rowohlt 1989)“ handelt von der Kapitulation des Denkens vor der Kultur, genauer: der Auffassung, der Mensch werde als Ganzer durch seine Herkunftskultur bestimmt und könne nicht durch Vernunft deren Grenzen überschreiten. Demnach gebe es nicht den Menschen, dessen viele kulturelle Spielarten eher zum Vergleich und zur überraschenden Verwandtschaft reizen denn unüberwindliche Barrieren des Verstehens schaffen. Der Kosmopolit Goethe etwa berichtet an Eckermann von einem chinesischen Roman, in dem er eine erstaunliche Nähe zu seinem Epos „Hermann und Dorothea“ feststellen durfte (46-53). Welche Brisanz in dieser scheinbar eher fachphilosophischen These steckt, enthüllt Finkielkraut wie ein guter Dramatiker erst am Ende seines Vierakters. Im ersten Akt führt er vehement die Sache der Aufklärung gegen die der Romantik. So stehen Vernunft, Naturrecht, die eine Menschheit jenseits aller Nationen und die Würde jedes Menschen unabhängig von Rasse, Kultur und Religion gegen Herders „Volksgeist“, den Nationalismus und „die mütterliche Wärme des Vorurteils“ (31). Wie in jeder guten Exposition wird diese Gegensatz hier beinahe in reinem Schwarz-Weiß entwickelt. Das lässt das erste Kapitel nur auf den ersten Blick mit viel Schwung überzeugen, während es genau besehen der politischen Romantik nur unzureichend gerecht wird. Der Autor versöhnt uns jedoch mit einem instruktiven Überblick über die deutsch-französischen Argumente zur Elsaß-Lothringen-Frage nach 1870. Der zweite Akt beginnt 1945 und mit unendlich viel gutem Willen in den Vereinten Nationen, die Barbarei des rassistischen Nationalismus der Nazis für immer hinter sich zu lassen. Doch Finkielkraut konstatiert im Lauf der Zeit einen Umschlag: Argumentierte man anfangs noch gut aufklärerisch mit der Überwindung der nationalen und kulturellen Vorurteile, so wird später im Rahmen der Dekolonialisierung das Recht jeder Kultur auf Differenz zum Grunddogma. Paradoxerweise rückt dadurch der Ungeist des Volksgeistes wieder ins Zentrum der internationalen Politik, dieser „Rassismus ohne Rasse“ (110): Dem Außenstehenden wird schlicht das Recht abgesprochen, den Anderen zu verstehen, geschweige denn an ihn allgemeinverbindliche Maßstäbe anzulegen – man kennt die Diskussion um die Universalität vs. Kulturgebundenheit der Menschenrechte. Damit raubt man dem Einzelnen die Freiheit, sich aus seiner Gruppe zu lösen. Bei Immigranten etwa kennt man nur noch die Zugehörigkeit zur Herkunftskultur, -nation und -religion und lässt die Betroffenen durch entsprechende Kulturvereine vertreten sein. Damit sind wir schon mitten im dritten Akt, und da hält man bisweilen den Atem an ob der Aktualität des vor 30 Jahren Gesagten. Denn präzise gelingt es Finkielkraut an dieser Stelle, den Multikulturalismus und sein intransigentes Pochen auf den bedingungslosen Respekt vor dem Anderen, verbunden mit einem Generalangriff auf den „Eurozentrismus“ und mit einem schlechten Gewissen für die Erbschuld des Kolonialismus, zu demaskieren: als eine diktatorische „Pädagogik des Relativismus“ (115) ohne die Bereitschaft, die eigene Bedingtheit kritisch zu hinterfragen. Längst bestimmt das Dogma der Differenz, des Relativismus und der intoleranten Toleranz das gesamte öffentliche Leben – nicht zuletzt die schulischen Lehrpläne und Didaktiken. Letzter Akt: Die eigentliche Niederlage ist nach unserem Autor die der bürgerlichen Erwachsenenwelt vor der Jugend-„kultur“, die für ihn nichts anderes ist als die schrankenlose Ausbildung des Konsumismus, der Befriedigung der vor allem sinnliche Bedürfnisse. Höhere Bildung, Hochkultur und geistiges Leben lässt sie durchaus bestehen. Ihr Gift besteht aber darin, keine Unterschiede mehr zu kennen: Alles ist Kultur, alles ist gut, wenn es nur Menschen mögen. Eine solche Einstellung macht den Menschen grenzenlos manipulierbar, denn erwachsen zu werden würde eben die Mühe mit sich bringen, ein Selbst-Denker zu werden, indem man durch Bildung „ein Gedächtnis erhält, das die eigene Biographie überschreitet“; damit wird einem zugemutet, sich aus dem Wir abzusondern und „dazu verurteilt zu sein, Ich zu sagen“ (157). Alte Menschen gelten nicht etwas aufgrund ihrer Weisheit wie in traditionellen Welten, aufgrund ihrer Ernsthaftigkeit wie in der bürgerlichen Gesellschaft oder auch nur aufgrund ihrer Gebrechlichkeit wie in jeder zivilisierten Welt, sondern nur insoweit, „wie es ihnen gelungen ist, geistig und körperlich jung geblieben zu sein“ (158). „Der Bürger ist tot, es lebe der Jugendliche!“ (159).
Ein Konservativer als Verteidiger der Aufklärung? Ja, längst haben die Fronten gewechselt, und ein aufgeklärter Konservativismus gehört zu den faszinierendsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Ein Essai arbeitet mit dem Meißel des Steinmetzen und lässt die Geistesfunken sprühen. Finkelkraut schreibt nicht fürs Lehrbuch, sondern für eine Zeit, die taub geworden ist für das Argument. Ob er nicht heute noch lauter gegen diese Taubheit anschreiben würde?

 

Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72, H. 3 (Sommer 1993)  22-49

Samuel P. Huntington auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos (25. Januar 2004;
Quelle Samuel P. Huntington – World Economic Forum Annual Meeting Davos 2004
Urheber: World Economic Forum [www.weforum.org], swiss-image.ch/Photo by Photo by Peter Lauth)
„Kampf der Kulturen“ hat der deutsche Übersetzer den Titel des bedeutenden amerikanischen Politikwissenschaftlers übersetzt. Wie irreführend! „Traduttore traditore – der Übersetzer ist ein Verräter am Text“, so möchte man da ausrufen. Denn „clash“ ist nicht Kampf, sondern Aufeinanderprall und

schlicht Verschiedenheit, die sich nicht reibungslos ineinander fügt. Noch viel weniger ist Huntington neokolonialistischer, gar suprematistischer Anwalt eines Kampfes um Vorherrschaft der westlichen Kultur. Für „Krieg der Sterne“-Apokalypsen taugt der umsichtige Gelehrte wirklich nicht. Was er in seinem Schlüsselaufsatz zeigt, ist, dass nach 1989, also nach dem Ende der ideologischen Vereisung der Weltpolitik im Aufeinanderprallen von Sowjetkommunismus, freier Welt und Dritter Welt, ältere, tiefer verwurzelte Verschiedenheiten das Weltgeschehen bestimmen könnten, nämlich die der Großkulturen. Das schließt wirtschaftliche Konkurrenz oder nationalistisch begründete Auseinandersetzungen nicht aus, weist jedoch darauf hin, dass die Kultur ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Herausbildung einer Welt nach dem Ende des Kalten Krieges darstellen könnte. Damit steht Huntington übrigens in bester Tradition einer verstehenden Soziologie nach Max Weber, die kulturell-religiösen Prägungen und ihren Säkularisierungen einen entscheidenden Einfluss im Werden der modernen Welt einräumt.
Konflikte waren in vormoderner Zeit die zwischen Königen, dann seit den Napoleonischen Kriegen die zwischen Nationen, seit der russischen Oktoberrevolution 1917 die zwischen Ideologien, und nun – so die These – eben die zwischen Zivilisationen. Denn diese werden nicht mehr kolonialistisch durch die Dominanz europäischer Mächte und der USA niedergehalten, sondern sie treten zunehmend selbstbewusst und mit wachsender Macht als Akteure auf. Zivilisationen, das sind letzte kulturelle Einheiten, die nicht mehr durch ein gemeinsames Band an Werten, Anschauungen, Bräuchen, Institutionen und Denkweisen zusammengehalten werden. Innerhalb ihrer gibt es zwar auch noch viele Unterschiede und Schattierungen, z.B. zwischen einem sizilianischen Dorf und einer skandinavischen Hauptstadt, und doch sind sie miteinander verwandt. Huntington sieht derzeit hauptsächlich sieben oder acht solcher Zivilisationen als weltpolitische Akteure: der Westen (Europa und Nordamerika), die konfuzianische Welt (China), Japan, die islamische und die hinduistische Welt, die slawisch-orthodoxe Zivilisation, Lateinamerika und (erst im Wachstum begriffen) die afrikanische Kultur.

Natürlich ist diese Einteilung weder umfassend noch weist sie die gleiche Stringenz auf, denkt man etwa an die Unterschiede zwischen dem arabischen und dem nicht-arabischen Islam oder an die geschichtliche Nähe zwischen dem Westen und Lateinamerika. Auch diskutiert Huntington kaum, warum er der religiösen Orientierung den entscheidenden kulturprägenden Einfluss zubilligt. Schließlich reflektiert er nicht, wie die bestehenden politischen Organe, die ja zumeist staatlich verfasst sind, mit diesen staatsübergreifenden Zivilisationen interagieren (oder sie gewiss auch machtpolitisch instrumentalisieren). Das ist oft kritisiert worden, gewiss nicht ohne Grund, es stellt aber die These nicht grundsätzlich in Frage. Denn Huntington geht nicht primär von seiner These aus, sondern von sechs Beobachtungen, die empirisch die Kulturen als konfliktgenerierend erweisen. Alle sechs erweisen sich im zeitlichen Abstand als äußerst weitsichtig. Dabei räumt er ein: Zu Konflikten kann es selbstverständlich auch innerhalb einer Zivilisation kommen. Doch zwischen Kulturen herrscht eine größere Spannung, und die Lösung kann nicht im gleichen Maß auf gemeinsame Grundüberzeugungen zurückgreifen; sie schafft die Achse „Wir“ vs. „die Anderen“. Was führt ihn zu dieser Überzeugung?
1. Die anthropologisch grundlegende Bedeutung von Kultur, die er mit dem „kin-country syndrome“ begründet, d.h. eine entwicklungsgeschichtliche Nähe von staatsübergreifenden (oder auch wie etwa in Syrien und im Irak die staatliche Einheit potenziell zerstörenden!)  Ethnien, die sich im Konfliktfall leichter zusammenschließen,
2. die Globalisierung und damit das Anwachsen von Berührungsflächen zwischen den Kulturen,
3. die wirtschaftliche Modernisierung und der mit ihr einhergehende soziale Wandel mit einer Schwächung des Nationalstaates und der lokalen Identität, was vielerorts durch ein Erstarken der Religion als identitätsstiftendem Faktor kompensiert wird,
4. die Besinnung auf die eigenen Wurzeln in nicht-westlichen Kulturen als Antwort auf die Dominanz des Westens (oft auch in Form einer westlichen Konsum- und Popkultur in der eigenen Bevölkerung),
5. die Stabilität von Kulturen im Unterschied zum raschen politischen und sozialen Wandel sowie
6. die Ausbildung wirtschaftlicher Großregionen der Erde mit intensivem Handel.
Damit erlangen die jahrhundertealten Bruchstellen zwischen den Kulturen eine neue Bedeutung: insbesondere die zwischen West- und (slawischer) Ostkirche, die zwischen christlicher und islamischer Welt, die zwischen der arabisch-islamischen und der animistischen, inzwischen zunehmend christlichen Welt von Schwarzafrika (Sudan, Nigeria, Horn von Afrika), die zwischen Islam und Hinduismus (Indien und Pakistan!) und schon damals zunehmend zwischen China (und unter allerdings sehr anderen Bedingungen Japan) und den USA. Der „clash“ an diesen Bruchstellen gestaltet sich jedoch typischerweise verschieden: vorwiegend als ökonomische Konkurrenz oder gewalttätig bis hin zu „ethnischen Säuberungen“.
An einer entscheidenden Stelle verlässt Huntington jedoch selbst seine Vorstellung einer Weltkarte, die nach den sechs Großkulturen eingefärbt ist. Denn er erkennt, dass der Westen eine Kultur sehr eigener Art ist. Sein Anspruch ist der einer „universal civilization“, und dessen Begründung beruht nicht auf entwicklungsgeschichtlicher Verwandtschaft, sondern auf den Ideen von Individualismus, freiheitlicher Ordnung, Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Demokratie, Marktwirtschaft und der Trennung von Kirche und Staat. Dies ist einzigartig und prallt auf das Selbstverständnis der anderen Kulturen, das einfach auf Selbstbehauptung in der eigenen Partikularität beruht. Dieses geschichtlich einmalige Selbstverständnis des Westens hat aber bereits weite Teile der Welt erfasst – freilich oft nur partiell, also insbesondere im Ideal einer konsumfreundlichen, gesicherten Mittelschicht-Existenz ohne die in Jahrhunderten gewachsenen Wertgrundlagen des Westens: „Nichtwestliche Kulturen versuchten sich zu modernisieren, ohne westlich zu werden. […] Nichtwestliche Kulturen werden sich auch weiterhin darum bemühen, Wohlstand, Technologie, Fertigkeiten, Maschinen und Waffen  zu erlangen, die zum Modernsein gehören. Sie werden sich aber auch darum bemühen, diese Modernität mit ihrer traditionellen Kultur und ihren Werten zu versöhnen.“ Damit wird deren Macht wachsen, aber gleichzeitig die fundamentalen Unterschiede in Grundfragen an Brisanz zunehmen. Huntington schließt darum mit einem Plädoyer für einen stärkeren Zusammenschluss von Europa und den USA. Sie sollen anderen Kulturen nicht feindlich begegnen, wohl aber tiefliegende religiös und kulturell bedingte Unterschiede nicht ignorieren. Nur so kann eine friedliche Koexistenz gelingen.
Ertrag
Der Aufsatz taugt sicher nicht für Kulturkämpfer und weltpolitische Scharfmacher. Wohl aber öffnet er die Augen für die tieferliegenden Probleme der Weltgesellschaft. Die oft selbstverständliche Annahme des Westens, die Menschheit orientiere sich im Wesentlichen an den gleichen Prinzipien wie er selbst, erweist sich als zu naiv. Dasselbe gilt von der Vernachlässigung kultureller und nicht zuletzt religiöser Prägungen, eine freilich gerade für eine Integrationspolitik angesichts der Massenmigrationen unverzeihliche Naivität. Doch 25 Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes stellt sich auch die Frage: Inwieweit sind auch im Westen selbst die Triebkräfte noch vital, die zu unserer „universal civilization“ geführt haben (siehe dazu die luziden Mahnworte Jean-François Mattéis!)? Ob die fast generelle Ablehnung der These Huntingtons (zumeist ohne sie überhaupt studiert zu haben), ja nicht selten eine regelrechte Häme gegenüber dem Autor nicht gerade dies unter Beweis stellt?

 

Huntington hat diesen Aufsatz später zu einem Buch ausgebaut: Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 5/1997. Doch darin gerät manches in der Einzeldarstellung etwas spekulativ und gewollt. Darum tut man gut daran, den Originalaufsatz zu lesen, in dem Huntington seine These sehr konzentriert und in souveräner Übersicht über die neue geopolitische Unübersichtlichkeit nach dem Ende des Kalten Krieges entfaltet.

 

Kulturblöcke der Erde nach Samuel P. Huntington (selbst erstellt, München/Wien 1996)

 

Jens A. Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik (= Bürgertum. NF. Studien zur Zivilgesellschaft 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.

Viele Doktorarbeiten haben ein gespanntes Verhältnis zur Lesbarkeit. Nicht so die immerhin 2008 in zweiter Auflage erschiene, mehrfach preisgekrönte Dissertation des Politikwissenschaftlers Jens Hacke. Sie liefert eine allgemeinverständliche, klare und gut informierte Einführung in eine staatswissenschaftliche Strömung liberalkonservativen Denkens, die zur Begründung, Stabilisierung und Akzeptanz von Grundgesetz, Bundesrepublik und ihrer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung wesentlich beigetragen hat, gleichzeitig aber tragende Denkmuster bürgerlichen Denkens der letzten Jahrzehnte in Alternative (allerdings auch in wachsender Annäherung und Assimilation) zum linksliberalen Denken geprägt hat. Dabei konzentriert sich Hacke zunächst in „Ausgangspunkte“ auf die wichtigste liberalkonservative Richtung, die aus dem Münsteraner „Collegium Philosophicum“ von Joachim Ritter (1903‑1974) hervorgegangen ist und die so einflussreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hervorgebracht hat wie Martin Kriele, Ernst‑Wolfgang Böckenförde, Robert Spaemann, Odo Marquard und Hermann Lübbe (eigentlich besonders die beiden letzteren). Wie alle guten Konservativen einigt sie nicht ein Manifest, eine Leitidee oder ein Begriff, sondern eine Tradition, hier die liberale Hegelauslegung (in gut aristotelischer Denkweise der Tugend als Mitte und Ausgleich), die Freiheit sagt und gerade um ihrer selbst willen nach starker, verlässlicher Institution und Staatlichkeit als „Ordnungsrahmen“ (157) verlangt. Denn Gesellschaft ist hegelianisch Entzweiung, und darum müssen Institutionen in ihr kompensieren, was aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dadurch verzichten sie auf die große Gesellschaftstheorie wie in linksliberalen und neomarxistischen Schulen und treten vielmehr gerne als Ideologiekritiker auf. Darum wehren sie auch der Versuchung, dass Staat und Politik in jedem Gesellschaftsbereich alles neu machen sollen. Und dadurch gelingt es ihnen, belastete Leitbegriffe des Konservatismus wie Volk, Nation, Erbe und Obrigkeit abzurüsten. Stattdessen wird die Begründung der öffentlichen Ordnung formaler und pragmatischer auf deren Gelingen und Stabilität hin ausgerichtet.

Von den „Ritterianern“ aus kann Hacke dann auch andere wichtige Impulsgeber konservativen Denkens berühren, so insbesondere Gehlen und Schelsky. Er behandelt sie in „Bausteine einer politischen Philosophie“, genauer der Institutionentheorie. Anschließend behandelt er eine typische Denkfigur, den pragmatischen Dezisionismus, bei dem sogar Carl Schmitt gewissermaßen demokratisch gezähmt wird. Er besteht in einer erkenntnistheoretischen Skepsis gegenüber der totalen Durchschaubarkeit gesellschaftlich-politischer Prozesse. Infolgedessen gelangt man früher oder später stets an den Punkt, wo einfach entschieden werden muss. Dabei unterstreicht Hacke noch einmal die Bedeutung angemessener Institutionen und Prozeduren der Entscheidungsfindung, weil dadurch Letzt- und Universalfragen vermieden werden, die immer in der Gefahr stehen, ideologisch aufgebläht zu werden. Ähnlich sind die „Orientierungen: Common Sense und Zivilreligion“ erstaunlich wenig substanzial an bestimmten Werten und Grundüberzeugungen ausgerichtet und bilden eher die Option für Fortschritt mit Tradition, Augenmaß und breit getragenen Konsensen (der von den Angelsachsen so geschätzte common sense). Außerdem werden Entscheidungen getragen von nüchterner Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Minimalkonsensen mit Hilfe einer insgesamt doch sehr ausgedünnten Zivilreligion (bezeichnend etwa, dass Lübbes Religionsphilosophie eher den Anschein einer funktional verzwecklichten Religionssoziologie macht). Die „Bausteine“ werden abgeschlossen durch die „Philosophie der Bürgerlichkeit“, einer großen Ideologien aversen, skeptisch-aufgeklärten Wirklichkeitssinn und Verantwortung stärkenden Lebensweise.

Zwei Anmerkungen zur Dissertation selbst. Sie ist beeindruckend und erhellend, tut dies allerdings um einen doppelten Preis: Zum einen werden die genauen philosophischen Gründe der Autoren eher großflächig paraphrasiert als genau analysiert, und zum anderen behandelt Hacke  die „Ritterianer“ wie eine Schule mit einem Kern gemeinsamer Überzeugungen, was wiederum das Eigenprofil jedes Einzelnen von ihnen nicht durchgängig herausstellt.

Am Ende stellen wir eine Frage, und sie geht deutlich über Hacke hinaus. Das liberalkonservative Denken wurde Establishment, bürgerliche Staatsphilosophie, elastisch genug, manche politische Volte erstaunlich leichtfüßig zu nehmen. Wie ein roter Faden zieht sich bei Hacke ja ihre Ablehnung absoluter Wahrheiten und Ideen durch, ihr Festhalten am Bestehenden (allerdings nur „bis auf Weiteres“) und ihr Respekt vor den rechten Prozeduren der parlamentarischen Demokratie, deren Entscheidungen man dann aber vielfach nicht mehr von unbedingten Maßstäben her hinterfragen kann. Das alles ist seitens der Liberalkonservativen sehr klug und bedacht, aber doch auch erstaunlich relativistisch und beinahe nonchalant. So fragt sich: Wie viel substanziale Liberalität (etwa im Sinn des Rechts auf Privatheit und damit dem Schutz vor Eingriffen des Staates z.B. in Familie, Schule und Hochschule) ist dabei noch geblieben, erst recht wie viel Konservatismus? Stellt dieses Denken heute noch viel mehr dar als ein gut funktionierendes Getriebeöl für ein politisches Perpetuum mobile? Wäre es darum nicht an der Zeit, Liberalkonservatismus neu, sprich: substanzialer an bestimmten nicht verhandelbaren Grundüberzeugungen zu begründen, etwa indem man konsequenter hinter Hegel auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgreift? Gewiss, damit würde man vielleicht bald aus der staatstragenden Mitte verbannt. Aber wie lautet ein goldenes Wort Robert Spaemanns, der mir unter den Ritterianern sicher am nächsten steht: „Eine Ethik, die nicht bereit ist, auf der Verliererseite zu stehen, verdient diesen Namen nicht. […] Sie kann vielleicht nichts verhindern, aber sie kann aufhalten. Aufhalten heißt Zeit gewinnen“ (131). Und vielleicht ist die Zeit ja wirklich reif, ganz grundlegend umzudenken.

 

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