Man muss sich schon gehörig die Augen reiben. Was ist das denn? Ausgerechnet in der katholischen Kirche scheint es seit neuestem kein Lehramt mehr zu geben. Priestertum der Frau, Interkommunion, Zusammenhang von Weiheamt und Leitungsvollmacht, Heiligkeit und Bestimmtheit der Ehe, kurz alles, was das Lehramt seit Jahrzehnten nicht müde wird unmissverständlich vorzulegen, gilt in vielen Theologen- und kirchlichen Kreisen bloß noch als eine angeblich schlecht begründete Meinung, die man nicht weiter ins eigene Kalkül einbeziehen muss. Oder genauer: die bloß ins Machtkalkül einbezieht, wobei man darauf hofft, dass die größere Macht allemal die öffentliche Meinung ist, die dem Lehramt schon Beine machen und vor sich hertreiben wird (was ja leider nicht ganz aus der Luft gegriffen ist). Weshalb der Dissens dann auch sofort die Medienöffentlichkeit sucht, anstatt Papst und Bischöfen mögliche Schwächen in der Argumentation im persönlichen Gespräch darzulegen. Darum übrigens auch das Liebäugeln mit einem Dritten Vatikanischen Konzil. Ein Scherzbold würde wohl eher das erste Konzil von Limburg prognostizieren, weil dann ja die wichtigsten Konzilsmacher mit dem Fahrrad und ganz ohne CO2-Ausstoß anreisen könnten.

Spaß beiseite – leider. Denn das Lehramt nicht mehr verbindlich zu nehmen ist eine ernste Krankheit, eine überaus ernste Krankheit. Für die katholische Kirche ist es eine Krankheit zum Tode. Doch hier soll nicht lamentiert werden. Ebenso wenig sollen die  zahlreichen Lehräußerungen zu den genannten Streitfragen an dieser Stelle wiederholt und eingeschärft werden. Denn die Krankheitsursache liegt tiefer: Der Sinn für die Kirche als „mater et magistra“, als „Mutter und Lehrerin“ (Johannes XXIII.), ist verlorengegangen. Wichtiger als die Schelte ist darum ein neuer Zugang zur Tatsache, dass christlicher Glaube das verbindliche Lehramt braucht. Anders gefragt: Warum muss ich werden wie ein Kind und auf dem Schoß der Mutter Kirche voll Vertrauen auf ihre Worte hören? Um eine geistliche Begründung der kirchlichen Lehrvollmacht soll es also in diesem Beitrag gehen.

Ignatius von Loyola: sentire cum Ecclesia

Allererste Adresse für eine solche Wiedergewinnung der kirchlichen Gesinnung sind die berühmten Regeln des heiligen Ignatius von Loyola „für die wahre Gesinnung, an der wir in der kämpfenden Kirche festhalten müssen“ (Exerzitien nrr. 352-370). Unter den achtzehn kurzen Sätzen ragt die erste Regel hervor. Ganz dicht enthält sie die Antwort auf unsere Frage nach dem Warum des Lehramtes. So wird sie ein Schlüssel zum Himmelreich der wahren Kirche. Das sagt Ignatius:

„Nachdem wir jedes Urteil abgelegt haben, müssen wir den Geist gerüstet und willig halten, um in allem der wahren Braut Christi unseres Herrn zu gehorchen, die da ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche.“

Hier zählt jedes Wort. „Depuesto todo juyzio – Nachdem wir jedes Urteil abgelegt haben“, diese Voraussetzung wird bewusst an den Anfang gesetzt. „Ablegen“ erinnert an die Taufe. Bei ihrem Empfang muss man zunächst das alte Gewand ablegen, um für den Empfang der Neugeburt bereit zu werden – „gerüstet und willig“ sagt Ignatius. Man muss ganz nackt und bloß werden, um so das neue, weiße Gewand von Gott durch die Hand der Kirche zu erhalten. Wer nicht das alte Gewand abgelegt hat, kann mit dem neuen nichts wirklich anfangen. Er schaut sich vielleicht kurz damit im Spiegel an und hängt es dann in den Schrank. Taufe als Sterben und Neugeburt. Schon die paulinischen Schriften verstanden diese Handlung als Sinnbild für das Ablegen des alten Menschen: „Legt den alten Menschen des früheren Lebenswandels ab (deponere), der sich in den Begierden des Trugs zugrunde richtet, und lasst euch erneuern durch den Geist in eurem Denken! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit! Legt deshalb die Lüge ab (deponentes) und redet die Wahrheit“ (Eph 4,22-25a). Ähnlich der erste Petrusbrief, der das Ablegen mit der Bereitschaft, ja dem Verlangen nach der gottgeschenkten Wahrheit verbindet: „Legt also alle Bosheit ab (deponentes), alle Falschheit und Heuchelei, allen Neid und alle Verleumdung! Verlangt wie neugeborene Kinder nach der unverfälschten, geistigen Milch, damit ihr durch sie heranwachst und Rettung erlangt!“ (1 Petr 2,1f.).

Depuesto todo juyzio – Nachdem wir jedes Urteil abgelegt haben

„Sein Urteil ablegen“: Der alte Mensch, das ist der Mensch fern von Gott. Das betrifft insbesondere sein Denken und Urteilen. Er kreist um sich selbst, bis ihm schwindelt und er nicht mehr eins und eins zusammenzählen kann. Sein Urteil, also als sein „So und nicht anders sehe ich das“ wankt und schwankt. Es tappt im Nebel, es schaukelt auf den Wogen der Welt. Denn wir können uns noch so viele Gedanken über Gott machen, am Ende kommen bloß vage Ahnungen heraus, vermischt mit viel Irrtum und noch mehr Zeitgeist. „Und sehe, daß wir nichts wissen können!“, bekennt Faust, und das, obwohl er „Philosophie, Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie“ studiert hat. Alles menschengemachte Meinen und Vermuten muss man deshalb entschieden beiseite räumen, muss, wie es in der ersten Regel des Ignatius weiter heißt, seinen Geist „gerüstet und willig“ zum vollständigen Gehorsam machen. Denn der Glaube kommt vom Hören, kommt im Gehorchen, kommt in einer ganz indifferenten, zu allem bereiten, Gottes Wort nicht die geringste Grenze setzenden Offenheit. Denn in der Taufe wird die menschliche Meinung ersetzt durch den Glauben, der sakramental in ihr als eine sogenannte göttliche Tugend eingegossen wird. Dieser Glaube ist das Geschenk der Wahrheit. Denn Glaube als theologische, göttliche, übernatürliche Tugend ist nichts, was der Mensch mit seinem eigenen Nachdenken fabriziert. Er ist das Wort Christi, das immer mehr und immer tiefer im eigenen Denken, Wollen und Tun Gestalt annimmt. Dieser Glaube setzt Empfangsbereitschaft voraus, sowie Maria die wahre Braut des Heiligen Geistes wurde und so das ewige Wort in ihrem Schoß empfangen hat. Die Braut und der Bräutigam – Ignatius sagt: „[…] um in allem der wahren Braut Christi unseres Herrn zu gehorchen, die da ist unsere heilige Mutter, die hierarchische Kirche“.

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Glaube kommt vom Hören

Die Haltung der Offenheit ist das eine. Sie ist Bereitschaft, ist Suche. Doch dann folgt das Staunen. Es bleibt nämlich nicht beim Hineinhorchen in die Stille der Nacht des Geheimnisses. In der Mitte dieser Nacht ist Gottes Wort vom Himmel herabgestiegen, es ist Fleisch geworden. Gott hat sein letztes, sein definitives, sein durch keine weitere Entwicklung mehr zu verbesserndes Wort gesprochen. Jedes Wort aus Jesu Mund ist Gottes Wahrheit. Mehr noch, dieses Wort wollte sich mit der sichtbaren Kirche verbinden wie der Bräutigam mit der Braut. Sie sind darum nicht mehr zwei, sondern eins. Sie leben in Gütergemeinschaft, und darum ist auch die ganze Wahrheit Christi der Braut Christi anvertraut. Dies gilt wiederum in höchster Konkretheit. Die „hierarchische Kirche“, also Papst und Bischofskollegium sowie ihre Helfer, die Priester, sind die Hausverwalter, die den Schatz der Wahrheit hüten und ausspenden. „Um die Kirche in der Reinheit des von den Aposteln überlieferten Glaubens zu erhalten, wollte Christus, der ja die Wahrheit ist, seine Kirche an seiner eigenen Unfehlbarkeit teilhaben lassen“ (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 889).

um in allem der wahren Braut Christi unseres Herrn zu gehorchen

Ablegen des eigenen Urteils, sich voll Verlangen rüsten für das Wort der Wahrheit und es inmitten der Kirche empfangen, diese Schritte des Glaubens gelten für jeden Christen. Für Ignatius schwingt sich diese Dynamik des Glaubens bis in mystische Höhen empor. Denn die mystische Vereinigung mit Gott, die „unio mystica“, verlangt vom Menschen die vollkommene Entblößung seiner selbst. Er muss alles eigene Denken und Wollen ablegen. Das ist der mystische Tod, durch den hindurch Gott erst im Mystiker wohnen kann. Dieses mystische Verständnis der Regeln, mit der Kirche zu fühlen, können wir ausgerechnet in der umstrittensten der ignatianischen Regeln zur kirchlichen Gesinnung wiederfinden, der 13.:

„Wir müssen, ohne um in allem sicher zu gehen, immer festhalten: Was meinen Augen weiß erscheint, halte ich für schwarz, wenn die hierarchische Kirche so bestimmt, weil wir glauben, dass in Christus unserem Herrn, dem Bräutigam, und in der Kirche, seiner Braut, derselbe Geist wohnt, der uns zum Heil unserer Seele leitet und lenkt; denn durch den gleichen Geist und unseren Herrn, der die zehn Gebote gab, wird auch unsere heilige Mutter die Kirche gelenkt und geleitet.“

Selbstverständlich verlangt Ignatius nicht den blinden Gehorsam, dass „sacrificium intellectus“, den gläubigen Fanatismus. In diesen Worten spricht er vielmehr ganz bewusst die Sprache des mystischen Paradoxes. Denn gerade an der konkreten Weisung der Kirche wird die Probe aufs Exempel gemacht, ob das Ablegen des eigenen Urteils, ja der mystische Tod ernsthaft vollzogen oder nur wortreich beschworen wird. Anders gesagt, Gott kann und darf den Gläubigen in seiner Kirche überraschen, überwältigen, herausfordern und gewiss auch einmal demütigen. Ja, schmerzlich muss man angesichts unpopulärer Lehren festzustellen, wie stark man selbst und seine Zeit von allerhand Meinungen, Scheinselbstverständlichkeiten, Moden oder auch Wunschdenken und Verblendung geprägt ist. Oder auch, wie sehr man Rudeltier ist, das Mehrheiten und dem „Das kann man doch heute nicht mehr sagen“ nachläuft. All dies abzulegen ist Nachfolge konkret, denn „Deus semper major“ – Gott ist stets größer als alles, was wir von ihm denken.

Wozu also auf das kirchliche Lehramt hören? Weil der Heilige Geist ihm beisteht, das Wort Gottes authentisch für heute auszulegen und gegen irrige Verständnisse zu verteidigen. Im Hören auf die Kirche konkretisiert sich das Ablegen des eigenen Urteils, das Wachsen des gottgeschenkten Glaubens und letztlich ein neuer Geist. Wenn der Glaube sich tief in unserem Denken ausgeprägt hat, wird auch dieses Denken Flügel bekommen. Es denkt von Gottes unbegrenzten Möglichkeiten her, von seinen ungeahnten Wegen, von seiner törichten Weisheit her – und dadurch sieht alles anders aus: Was allen weiß erscheint, erkennt es als schwarz.

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Die Chancen von „Ordinatio sacerdotalis“ zum Frauenpriestertum

Eine Probe aufs Exempel? Ermutigt von Ignatius‘ Mut zur Provokation, versuchen wir wenigstens andeutungsweise, wie ausgerechnet bei der Streitfrage Frauenpriestertum aus der Treue zur Lehre der Kirche eine große Unabhängigkeit des Geistes und ungeahnte, gottgeschenkte Möglichkeiten erwachsen könnten. Johannes Paul II. hat „Ordinatio sacerdotalis“, das definitive Wort zum Thema, bereits 1994 gesprochen. Er wollte damit eine Diskussion beenden, die in die falsche Richtung ging, um so den Kopf freizubekommen für die konzentrierte Arbeit an einer Kirche und Gesellschaft, in der Frauen und Männer sie selber sein können und gleichzeitig jede Form der Zurücksetzung und Missachtung beseitigt wird. Glaube macht frei vom Zeitgeist, und so können wir bei nüchterner Betrachtung sagen: Wir haben genau diese Chance von 1994 verpasst, kraftvoll und selbstbewusst an dieser Jahrhundertaufgabe zu arbeiten. Statt Avantgarde zu werden, erscheint die Kirche weithin als Nachhut, die dem schon fahrenden Zug abgehetzt nachläuft. Sie ahmt weithin bloß nach, was sich gesellschaftspolitisch durchgesetzt hat, anstatt etwas Eigenes dagegenzusetzen. Heraus kommt ein einfallsloser Kampf der Geschlechter um Macht, dem beim Thema Priestertum nicht mehr einfällt als „Ich will auch mal!“ Letzte Chance: Die Corona-Einschränkungen haben schlagartig die Kehrseite des gesellschaftspolitischen Leitbildes der Geschlechtergleichheit bloßgelegt. Das Haus war immer Ort der Zuflucht in aller Not, sicherer Hafen, wenn draußen die Stürme tobten. Doch jetzt auf einmal brachten geschlossene Kitas und Home-Schooling Familien an den Rand der Belastungsgrenze, und das nicht, weil Eltern und Kinder sich nicht gernhaben, sondern weil arbeitsmarkt- und familienpolitisch Strukturen geschaffen wurden, die in Notsituationen versagen. Wenn das kein Warnsignal ist, dass der Fortschritt an ökonomischer Teilhabe und an Selbstbestimmung auch hohe Kosten hat! Welchen Zauber, welchen Glanz, welchen Reichtum der Verschiedenheit der Geschlechter böte dagegen die Offenbarung! Wie meinte Jeremia? „Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“ (Jer 2,13).


Eine gut lesbare historische Einführung (allerdings ohne Bezug zu Taufe und Mystik) gibt Werner Löser, Die Regeln des Ignatius von Loyola zur kirchlichen Gesinnung – ihre historische Aussage und ihre aktuelle Bedeutung, in: Geist und Leben 57 (1984) 341-352.

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