Marcel Gauchet
Marcel Gauchet avec Éric Conan et François Azouvi, Comprendre le malheur français, Paris: Stock 2016
Kompliziertes einfach zu sagen, Komplexes auf den Punkt zu bringen, kaum Durchschaubares in einprägsamen Formeln auszudrücken ist eine große Gabe. Marcel Gauchet (* 1946), Philosoph, Historiker und einer der bekanntesten Intellektuellen der französischen Republik, besitzt diese Gabe, wie er in diesem umfangreichen Interviewband von 2016 unter Beweis stellt. Das meiste davon besteht in einer durchdringenden Analyse des derzeitigen französischen Pessimismus und seiner historischen U
rsprünge. Outre-Rhin interessiert hier jedoch vor allem das neunte Kapitel (315-359), das die spezifisch französische Situation hinter sich lässt: „Nous sommes toujours dans l‘idéologie“, also „Wir befinden uns immer noch unter der Herrschaft einer Ideologie“, wie man das Leitthema wiedergeben könnte. Das ist nur scheinbar überraschend, denn Ideologie heute meint ziemlich genau das Gegenteil der Überpolitisierung der 30er Jahre, die dadurch zwischen faschistischer und kommunistischer Ideologie aufgerieben wurden; die Ideologie mobilisierte die Massen und drängte zu einem Primat der Politik. Das Heute steht dagegen unter dem Stern einer „Entpolitisierung“ (315), angetrieben von den neoliberalen Wirtschaftseliten und ihrer Auflösung von Klasse, Nation, Familie und Bindungen und Verpflichtungen des Einzelnen („déliaison“, 317) zugunsten eines globalen Flusses von Gütern, Geld und Personen – Primat der Wirtschaft vor der Politik also (bes. 327). „Das Privateigentum mit seiner Vorstellung von privaten individuellen Rechten, die grundlegend von der Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben losgelöst sind, hat nun auch auf die Sitten übergegriffen.“ Menschenrechte beschreiben nun nichts mehr als den Anspruch auf eine ungebundene Existenz, sie sind „droits de désappartenance (etwa: Recht auf Ungebundenheit)“ (345). Politik, bonum commune, ja die ganze Zivilgesellschaft schmilzt unter der Sonne dieser Marktgesellschaft zusammen: „Hier gibt es Resultanten, Kompromisse, sich abzeichnender Interessenausgleich, doch all das steht in niemandes Macht mehr“ (348) – ein Prozess, den man als Sachzwänge, Fortschritt oder Kulturentwicklung schönredet. In Wirklichkeit verliert ein Gemeinwesen dadurch die Fähigkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
An dieser Stelle, aber nur an ihr, möchte man einwenden: Diese Zuschreibung allen Übels an die „Neoliberalen“ ist nun doch wieder gut französisch in ihrem Misstrauen gegenüber dem angelsächsischen Liberalismus. Doch die weiteren Ausführungen zeigen, dass nicht das Misstrauen in den globalisierten Kapitalismus die eigentliche Triebfeder ist, sondern seine ideologische Ausbreitung im Sinne eines universellen Individualismus, der die Menschen nur noch als ungebundene privatiers anzusehen vermag. Und dass Gauchet das Epizentrum des „neoliberalen“ Experiments heute in Europa und nicht in den USA sieht, zeigt, dass es um alles andere als um den französischen Fuchs und die amerikanischen Trauben geht: „Europa ist das Land der Konsumenten und Touristen geworden, das Reich der Rechte des einzelnen und der größeren wirtschaftlichen Freiheit. Ideologisch gesehen ist es in der Welt die neoliberale Zone par excellence geworden“ (336).
Auch die Gestalt dieser neuen Ideologie des Individualismus ist gänzlich anders als in der Überpolitisierung vor 80 Jahren: Soft wird alles auf eine „extreme Mitte“ (Jean-François Kahn, 316) hin gebogen, die ihre „Radikalität ohne augenscheinliche Radikalität“ (318), ihre „stille und gemäßigte Radikalität“ unter dem Anschein des Selbstverständlichen, des Alternativlosen verbirgt. Daher übrigens auch das intellektuell Schwache dieser neuen Ideologie ohne große Denker, für die alles sich auf Fragen der verbesserten Gesellschaftstechnik reduziert (332). Sie kommt nun im Gewand des Realismus daher – der allerdings nur scheinbar die tatsächlichen Probleme angeht. Ganz im Gegenteil, die Eliten erscheinen außerstande, Realität überhaupt wahrzunehmen. Stattdessen sind sie getrieben, die Situation schönzureden, indem sie auf Sachzwänge verweisen (328) und die Illusion verbreiten, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung seien das Entscheidende zum Glücklichsein. Es ist, als habe die Sprache der Werbung mit ihrem Euphemismus, ihrer Stimulation zum Konsum und ihrer sorglosen Weltbejahung sich globalisiert. Und wie die Werbung ist die Gegenwart allein das Paradies („Jetzt noch besser“): „Das Heute zeigt seine Wahrheit, nämlich unsere Freiheit. Das Gestern offenbart seine tödliche Seite, mit der wir nichts mehr zu schaffen haben. Für immer sind wir übergegangen in etwas, was man nicht als Ende der Geschichte zu verstehen hat, sondern als ein Jenseits zur Geschichte“ (331) – dieses Jenseits macht übrigens den latent religiösen Verheißungscharakter der „Religion des Individuums“ (335) aus, nebst einer religiös-fundamentalistischen Unerbittlichkeit: „Unsere Epoche verkörpert das inkarnierte Gute, vergessen wir das nicht! Endlich haben wir die gerechte Norm und die grundlegenden Regeln eines gesellschaftlichen Lebens gefunden, im Vergleich wozu die Vergangenheit oder jede andere Gesellschaftsform einen Abgrund an Verzweiflung darstellt“ (357). Es ist freilich eine Ideologie, die den Menschen nichts mehr wirklich zu sagen hat und sie darum mit dem Schein (Wachstum, Reform, Veränderung, Freiheitsgewinn usw.) abspeisen muss: „Besitzt man nicht die Fähigkeit zu sagen, woher wir kommen, was heute eigentlich vorgeht und wohin wir uns bewegen wollen, verliert die Politik jede Art von Glaubwürdigkeit und selbst auch an Interesse“ (341). Daher auch das Gefühl breiter Bevölkerungsschichten, in Politik, Medien und öffentlicher Meinung nicht mehr vertreten zu sein. Die Welt, wie sie sie wahrnehmen, ist eine völlig andere als die der Eliten. Letztlich erkennen sie deren Verblendung und Illusion der Vorstellung, dass die Gesellschaft nichts anderes ist als der Platz, an dem jeder Einzelne seine Bedürfnisse möglichst ungehindert ausleben kann (331, vgl. 337f. zu den überbürokratischen, den Staat aufblähenden Voraussetzungen des Individualismus). So kommt es zum Paradox: Politik gibt sich unideologisch, pragmatisch, sachorientiert, doch „es handelt sich um einen falschen Pragmatismus: Angeblich beansprucht man, pragmatisch zu sein, ist jedoch unfähig, sich der Wirklichkeit zu vergewissern, was eigentlich in unseren Gesellschaften vorgeht. Es handelt sich um einen Oberflächenpragmatismus, der die Tiefenkräfte des kollektiven Lebens verkennt“ (342).
Der neue Individualismus hat auch nichts gemein mit dem klassisch-liberalen Ideal des unabhängigen, selbstdenkenden und sich so für die Allgemeinheit einsetzenden Individuums (326). Im Gegenteil, er verunsichert und schafft so das unbändige Bedürfnis nach Sinn und Identität, nach Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Auslieferung an das Wir. Politik soll Einzelnen und ihren Gruppierungen genau dies verschaffen: die kollektive Vergewisserung, gerade in ihrer Verschiedenheit dazuzugehören – beinahe als wäre dies eine säkularisierte Absolution. Es ist „die Erwartung der Individuen, im politischen Geschehen als Privatleute zu zählen und als solche anerkannt zu werden“ (346), und zwar paradoxerweise besonders da, wo Menschen der Öffentlichkeit zu erkennen geben: „Wir sind nicht wie ihr“ (347 – wer würde da nicht an den Widerspruch denken zwischen der euphemistisch so genannten „Ehe für alle“ und den schrillen Bildern inszenierter Andersheit einer „Love Parade“?). Umgekehrt hat die neue Ideologie mit ihrem „radikalen Universalismus“ (339, etwa angesichts globaler Migration) nichts mehr in der Hand, dem Anspruch jedes Menschen auf der Welt, an jedem Ort und unter allen Umständen seine privaten Bedürfnisse befriedigen zu dürfen, Grenzen zu setzen: „Auf der Erdoberfläche gibt es nur noch Individuen, die sich entsprechend ihren Interessen dort niederlassen können sollen, wo sie wollen“ (340). Für die neoliberale Ideologie „kann die Immigration kein Problem darstellen“ (341). Hinter dieser „radikalen Destruktion“ (340) alles Überindividuellen und in gewisser Weise Entpersönlicht-Objektiven ist eine Entinstitutionalisierung zugunsten des Marktprinzips mit seinem ständigen Aushandeln von Einzelinteressen auf breiter Linie zu erkennen, wie Gauchet eindrucksvoll anhand der Schule (347f.) und der Familie (329) aufweist: Auch Vater, Mutter und Kinder sind nun einfach nur Individuen mit persönlichen Rechten, die sie einklagen, und Bedürfnissen, die sie miteinander aushandeln. Dass die Familie ihnen einen Rahmen an Rollen, Aufgaben und Identitäten zuweist, ist nicht mehr vorgesehen und wird dementsprechend heftig bekämpft. Unwillkürlich denkt man hier an die katholische Kirche, lange Zeit die Hüterin des Objektiven und Wahren, die sich derzeit auf allen Feldern darin einübt, den Einzelfall zu sehen und dabei Regel und Norm bloß als Pharisäismus und starre Gesetzlichkeit zu missachten.
Bei Gauchet lohnt sich auch das Verweilen bei Nebenbemerkungen, etwa zum Übergang von religiösen Gesellschaften zu „Gesellschaften der Geschichte (sociétés de l‘histoire)“. Erstere bemessen sich an ihrer göttlichen und darum nicht manipulierbaren Gründung und der Vorgegebenheit ihrer Tradition (und lassen sich darin durchaus auch rational kritisieren!). „Gesellschaften der Geschichte“ entstanden im 19. Jahrhundert und zeichnen sich durch ihre stets ideologienährende Vorstellung aus, Geschichte sei machbar (320-324). Oder da liest man Gauchets Rat an heutige Politiker: „Alles in allem ist es besser, die Wahrheit zu sagen und geschlagen zu werden als zu gewinnen, indem man verachtet wird“ (351 – übrigens auch ein guter Rat an Kirchenführer, die doch den Luxus haben, ihre Popularität gar nicht an der Wahlurne bestätigen zu müssen). Oder seine Destruktion des politisch Korrekten mitsamt seines „verpflichtenden Optimismus“ im Namen eines „unbedingten Respektes vor den Personen“ (352) – freilich auf Kosten einer „sanften Intoleranz“, ja „Einschüchterung“ und Selbstzensur (356), die keinerlei Kritik an ihrem Loblieb auf universelle Toleranz und Diversität dulden. Doch ohnehin fügen sich die meisten freiwillig der Einheitslinie: „Das isolierte Individuum sagt sich: Wer bin ich, dass ich anders als die Mehrheit dächte? Demokratische Gesellschaften sind Meinungsgesellschaften. Und die Individuen sind durch Meinungen stark verwundbar. Daher auch das verzweifelte Bemühen um Anerkennung, das die Zeitgenossen auszeichnet und von ihrer Seite aus den hohen Grad an sozialer Konformität bezeugt“ (357).
Gauchet selbst ist alles andere als ein Ideologe. Er bringt Tendenzen auf den Punkt, formuliert Kritik in eindeutigen Sätzen und deckt Scheinselbstverständlichkeiten auf. Wofür er selbst steht? Nur an wenigen Stellen lässt er es ahnen. Es ist eine Gesellschaft, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, doch nicht so, dass möglichst jeder sein plaisir hat, sondern damit eine gemeinsame Vorstellung vom wahren, guten Leben möglich wird.
Mir kommt dabei der Gedanke in den Sinn, daß jener beschriebene Zustand “jenseits der Geschichte” stark erinnert an das mystische Endziel der Geschichte, wie ihn einst der Sozialismus predigte. Auch jener sozialistische Zustand war wohl eher als ein “Jenseits” zu begreifen denn als historische Realität. In anderen Worten, was hier analysiert wird als eine Art atrophierter Neoliberalismus hat erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem – nur scheinbar abgelegten? – Theorem des Sozialismus.
Wenn wir etwa die Analyse ergänzen um einen Blick in die deutsche Steuerwirklichkeit, wird schnell offensichtlich, daß der Sozialismus lebt: Der Spitzensteuersatz greift beim 1,3-fachen des DURCHSCHNITTSEINKOMMENS, also bei 54.000,- €, weiß Gott kein Reichtum. Dabei wird durch eine abstruse Armutsdefinition – in der jeder unterhalb von 60% des Durchschnittseinkommens als “arm” zu betrachten ist – die gigantische Umverteilungsmaschine permanent in Gang gehalten. Selbst wenn sich durch ein Wunder das Durchschnittseinkommen der deutschen Bevölkerung verdoppeln würde, hätten wir demgemäß weiterhin eine Unzahl zu alimentierender “Armer”.
In Summe: Die beschriebene – perverse – “Befreiung” des Individuums wird eingefangen durch vom Staat zugewiesene Wohltaten (deren Kriterien selbstverständlich der Staat und seine Eliten bestimmen). Indem er zusätzlich die Auflösung (aller) anderen Ordnungsprinzipien der COMUNITAS aktiv betreibt oder zumindest passiv geschehen lässt, wird der Staat durch diesen Regelmechanismus zum einzigen Instrument, das den Verfall des Gemeinwesens aufzuhalten vermag, er wird zum Heilsbringer gewissermaßen der Erlösung in der Gemeinschaft, und seine Sprecher – meist ebenfalls vom Staat alimentierte öffentlich-rechtliche Medien – gerieren sich zu seinen Hohenpriestern.
In Essenz hat das sich entfaltende “System” in der Tat wenig gemein mit dem “alten” Liberalismus, sondern ähnelt eher dessen genauem Gegenteil: (einem sanft-perfiden) Totalitarismus.