Ian Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte

Neu übersetzt von Sandra Lehmann. Mit Texten von Paul Ricœur und Jacques Derrida sowie einem Nachwort von Hans Rainer Sepp (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1854), Frankfurt a.M. 2010.

Der tschechische Philosoph Ian Patočka und Bürgerrechtler, einer der ersten Sprecher der „Charta 77″ und also solcher infolge von vielstündigen Polizeiverhören zu Tode gekommen, ist in kein Lager einzuordnen. Man kann ihn humanistisch, personalistisch, pazifistisch, existenzialistisch und gewiss auch konservativ lesen, stets aber gehören für ihn Offenheit und bleibendes Fragen zur Würde des Menschen.

Patočka 1971 (Bild: Archív Jana Patočky)

Mit dieser Haltung geriet er auch in Opposition zum Staatssozialismus seines Heimatlandes und dessen totalitären Zugriff auf alle Lebensvollzüge. Der Partei des Sokrates gehörte er also an, und in der Tat wird er manchmal mit diesem großen Athener verglichen, der in Treue zu seinem daimonion in den Tod ging. Von ihm und Platon hat Patočka auch den großen Schwung, heraus aus der Welt der doxa, des Scheins, der herrschenden Meinung, des Sich-Vergrabens in der Welt des Faktischen und empor zum wahren Sein. Diese Bewegung hat er an der Phänomenologie Edmund Husserls und der Ontologie Martin Heideggers und aus großer Kenntnis des deutschen Idealismus vertieft. Mit seiner integren Persönlichkeit, der Tiefe seines Denkens und seinem Lebensopfer für eine freiere Tschechoslowakei ist er einer der großen Europäer und ein Zeuge der Größe des Geistes angesichts eines totalitären Materialismus. Es ist an der Zeit, ihn in gewandelten Verhältnissen, aber nicht minder großen Bedrohungen einer geistlosen Kultur auch hierzulande wiederzuentdecken.

Die sechs Essays

Größe des Geistes, das ist durchaus wörtlich zu nehmen. In Patočkas sechs „Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte“ (Kacírské eseje o filosofii dejin), die ab 1975 im Samisdat des Untergrunds kursierten, als er selbst längst zwangsemeritiert war (seine „Abschiedssonate“ nannte er sie), bricht sich immer wieder die Überzeugung Bahn: Der Geist muss die engen Welten des Gegebenen, des Faktischen überschreiten, muss nach dem Sinn des Ganzen fragen, dann erst fängt Geschichte an und tritt aus ihrem vorgeschichtlichen Stadium heraus. Diese Vorstellung entwickelt Patočka in den drei ersten, grundlegenden Essays („Vor-geschichtliche Betrachtungen“, „Der Anfang der Geschichte“ und „Hat Geschichte einen Sinn?“). Für seine Zeitgenossen im Realsozialismus stellte das natürlich eine doppelte Provokation an die herrschende Ideologie des Dialektischen Materialismus dar – programmatisch lautet das erste Wort des zweiten Essays denn auch „Karl Marx“ (47): Geschichte ist Geist und darum materialistisch nicht zu deuten, und was die Geschichte vorantreibt, ist nicht ein notwendiger Fortschrittsprozess zwischen Herr und Knecht oder Arbeit und Kapital, sondern das Drama von Erinnern und Vergessen der Würde des Geistes angesichts der Mächte dieser Welt. („Glossen“ aus seiner Hand, die er ein halbes Jahr nach den Essays verfasst hat, verteidigen diese gegen die materialistische Geschichtsphilosophie.)

Grundlagen

Der Mensch auf der Suche nach Sinn: Patočka ist überzeugt, „dass menschliches Leben nicht möglich ist ohne ein (sei es naives, sei es kritisch gewonnenes) Vertrauen in einen absoluten Sinn, in einen Gesamtsinn des Universums von Seiendem, Leben und Geschehen“ (78). Naiv, das wäre noch ein wenn auch oft durch beeindruckende Mythen, Riten und Formen gestaltetes, aber doch vorgeschichtliches Seinsvertrauen: „[…] die Sterblichkeitserfahrung oder die Erfahrung von gesellschaftlichen oder Naturkatastrophen erschüttert sie nicht, es genügt für die Sinnhaftigkeit ihrer Welt, dass sich die Götter für sich selbst das beste reserviert haben: Ewigkeit im Sinn von Unsterblichkeit“ (78). D.h. in einer solchen Welt fügt sich der Mensch in Leid, Unglück und Katastrophen, denn alles hat in ihr seinen Platz: Was gilt mir das Leid, wenn die Götter droben noch lachen? In diesem vorgeschichtlichen Seinsvertrauen verharrt der Einzelne in seiner geschlossenen Welt, trotz mancher Not und Erschütterung „kehrt [er] von solchen Abenteuern in seine menschliche Umgebung zurück, zu Frau und Kindern, zu seinen Rebstöcken und seinem Herd, in den eng bemessenen Rhythmus seines Lebens, das in den großen Wogenschlag eingefügt ist, in dem ganz andere Wesenheiten und Mächte herrschen und entscheiden. Die ‚Sache des Menschen‘ liegt in der Sorge für das eigene Leben und das des Nächsten, sie liegt in dem, was dem Menschen seine Einbindung in den ständigen Lebenserhalt suggeriert, sie liegt in der Bescheidenheit, die den Menschen lehrt, sich mit dem Los des Dienstes am Leben und mit der Mühsal nie endender Arbeit zu versöhnen“ (81). Auf zweierlei Weise verwirklicht sich diese vorgeschichtliche Seinsweise: in der Akzeptanz der Wirklichkeit und in der sie gestaltenden Arbeit, d.h. der Bewegung der Selbstverteidigung, im Kampf, der Selbstbehauptung – aber eben innerhalb der Grenzen dieser Welt. „Es handelt sich um ein höchst konkretes Leben, dem (als Zielstellung) nichts anderes in den Sinn kommt als zu leben. Ansonsten ist es so sehr erfüllt von der Sorge um das tägliche Brot und von der Nutzung dessen, was die Umwelt ihm bietet, dass sich sein Alltagsentwurf fast vollständig darin erschöpft, diese Aufgaben zu erfüllen“ (ebd. 33). Wirkliche Geschichte dagegen beginnt für Patočka erst mit der „Erschütterung dieses akzeptierten Sinns“ (82), also im Fragen und damit im Risiko, eine solche schützende, aber auch infantile Einbergung im Schoß „eines gegebenen, zwar bescheidenen, aber zuverlässigen Sinns“ (88), einer sinnhaften, unproblematischen, bruchlosen Gemeinschaft zu verlassen. Wer dies tut, kehrt um und gibt sich an die Verheißung eines größeren und tieferen Sinns hin. Dafür erinnert er an Platons Weltbild, das durch einen „chorismos“, also eine Scheidung zwischen phänomenaler (vor-geschichtlicher) und nooumenaler, wahrer Welt gekennzeichnet ist. Bezeichnenderweise sieht der tschechische Philosoph das Sich-Verlieren in der gegebenen Welt in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft wieder dominant werden. So taucht die Versuchung der Seinsvergessenheit in neuem Gewande von Lebenssicherung und -genuss wieder auf, doch bei ihr geht die „Sorge für die eigene Seele“ unter – wir werden darauf noch zurückkommen.

dass menschliches Leben nicht möglich ist ohne ein (sei es naives, sei es kritisch gewonnenes) Vertrauen in einen absoluten Sinn, in einen Gesamtsinn des Universums von Seiendem, Leben und Geschehen…

Europa, Technik und Krieg

In drei weiteren Essays werden diese Grundüberzeugungen auf drei Schlüsselthemen bezogen: Europa, Technik und Krieg. Beginnen wir mit letzterem. Krieg – hier paradigmatisch der Erste Weltkrieg – wird unter Berufung auf Ernst Jünger und Teilhard de Chardin als Erfahrung einer grundlegenden Erschütterung begriffen, die nicht mit der Logik der Friedenszeiten verrechnet werden darf (Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, als legitime ultima ratio, um den eigenen Status nicht zu verlieren, und als notwendiges Opfer, das um anderer willen gefordert wird). Vielmehr begründet die grauenvolle Fronterfahrung eine neue Existenz und Denkweise, nämlich „die Positivität der Front, die Front nicht als Unterwerfung unter das Leben, sondern als eine rückhaltlose Befreiung gerade von dieser Knechtschaft“ (156). Sie ermöglicht eine „Solidarität der Erschütterten“ (157) jenseits von Freund und Feind, eine neue Gemeinsamkeit derer, die – Patočkas Lieblingsthema – die vorgegebenen Weltauffassungen überschreiten und selbst nach dem Sinn des Seins suchen.

„Europa und das europäische Erbe bis zum Ende des 19. Jahrhunderts“ ist nichts weniger als eine tour d‘horizon der europäischen Geistesgeschichte. Leitend ist die Einsicht, „dass die europäische Einheit einen geistigen Ursprung hat“ (99), nämlich wie für die griechische polis und für das römische Reich geht es hier um die „Idee eines Staates in eigenständiger, von einem ethnischen Substrat, einem Territorium, einer Regierungsform unabhängigen Gestalt“, ganz entsprechend der „stoisch-platonische[n] Idee einer Erziehung, die sich auf das Gemeinwohl richtet, auf Universalität, auf einen Staat, in dem Recht und Gerechtigkeit herrschen und der in Wahrheit und Einsicht gründet“ (101). Diese Ausrichtung auf Gerechtigkeit und Wahrheit beruht aber wiederum auf der Sorge für die eigene Seele (tês psychês epimeleia): „Die Wahrheit ist nicht ein für alle Mal gegeben, und sie ist auch keine Sache der bloßen Betrachtung, die sich nur im Bewusstsein realisierte, sondern eine lebenslange, prüfende, sich selbst kontrollierende, mit sich selbst abgleichende Denk- und Lebenspraxis“ (102). Die engen Welten des Gegebenen zu überschreiten, das also ist die Geburtstunde Europas. Der Kontinent ist somit nicht bloß als ein global player der Ökonomie oder ein Bündnisgefüge, ein Konglomerat von Machtpolitik oder von Interessenvertretung, sondern Patočka erklärt, dass Europa „als einzige unter allen Weltkulturen eine Kultur der Einsicht sei, eine Kultur, in der in allen wesentlichen Lebensfragen, gehe es nun um Erkenntnis oder um praktischen Angelegenheiten, die Einsicht eine entscheidende Rolle spiele“ (103). Dieser geistige Ursprung Europas ist aber seit dem 16. Jahrhundert in die Krise geraten (hier berührt der Gedanke sich in manchen, freilich nicht in allem mit Husserls Krisis-Schrift): Nicht das gute und gerechte Sein wird entscheidend, sondern das Haben, damit auch „die Sorge für die äußere Welt und ihre Beherrschung“ (103). Wissen wird Macht (Bacon), und es neigt dazu, „dem Inhalt das Resultat und dem Verstehen das Beherrschen vorzuziehen“ (106). So werden Staaten bloß „zu Schutz- und Trutzeinrichtungen zwecks gemeinsamer Sicherung des Eigentums“ (105). Die Aufklärung hat die Bedeutung dieser neuen Form des „aktiven, effizienten, an Resultaten reichen und zunehmend reicher werdenden Wissens“ (108) vor allem in Naturwissenschaft und Technik zu schätzen gewusst, gleichzeitig aber auch einzugrenzen versucht – nach Patočka allerdings vergeblich. (Den Gefahren der technischen Zivilisation ist das ganze fünfte Essay gewidmet. Sie bestehen in der Auflösung des Sinns in eine allseits „berechenbare Sinnlosigkeit“ [137], d.h. beständig zu transformieren ohne wirklich zu erkennen; dabei könnte Technik dazu beitragen, erstmals allen Menschen eine geistige Existenz überhaupt zu ermöglichen). Dadurch wachsen die Partikularismen der Nationalstaaten im Kampf um Vorrang und Macht. Untergründig kranken sie jedoch an der „sittlichen Krise“, dass „die staatlichen Institutionen Europas, sein politisches und gesellschaftliches Gerüst, auf etwas basierten, dem die Gesellschaft in der realen Praxis schon längst die Gefolgschaft und jedes Vertrauen entzogen hatte“ (114), und so stürzt Europa einem „dogmatischen Nihilismus“ (95) entgegen, der sich in der mehrfachen Rückkehr in die Barbarei offenbarte. Die Lösung dieser Krise kann aber allein in der Rückkehr zur Sorge um die eigene Seele liegen: „die Seele als dasjenige in uns, das in Beziehung zu jenem unvergänglichen Bestandteil des Universums steht, der die Wahrheit und mir ihr das Sein-in-der-Wahrheit nicht des Übermenschen, sondern eines wahrhaft menschlichen Wesens ermöglicht“ (115).

Gedenkplakette in seinem Geburtsort Turnov (Autor: Ben Skála)

Erträge

Offenheit ist eine Signatur von Patočkas Denken, und so sträuben sich seine Essays auch gegen jegliche Vereinnahmung. Wohl aber werden sie wie Sokrates zum Stachel, der aus der jeder Art von Verfallenheit in die herrschende Meinung aufweckt – sage keiner, dass es das nicht hier und heute gebe! Und was gibt er den Aufgeweckten mit? Ich sehe mehrere Wegweiser, die insbesondere konservativen Denkern hilfreich sein können:
• Es verbietet sich, die Welt und ihren Lauf von bestimmten Ideen aus zu konstruieren. Sie zeigt sich dem menschlichen Geist, und er kann nicht mehr und nicht weniger als sich offen halten für ihre Rätselhaftigkeit, bereit, sie zu erforschen, ohne sie zu beherrschen – unverkennbar zeigt sich in dieser empfangsbereiten Öffnung der Phänomenologe Patočka. Wenn der Konservative von Haus aus allen Ideologien, überhaupt allen Hohenpriestern der Fortschrittsideen gleich welcher Art skeptisch gegenübersteht, wenn er ihnen Demut vor der Wirklichkeit und schrittweises Begreifen (oder auch ein neues Sich-Verschatten der Wirklichkeit) vorzieht, dann ist er bei diesen Essays ganz in seinem Element. Auch begreift er, dass er den Ideologien nicht andere Ideologien entgegensetzen darf, sondern stattdessen dabei bleibt, stets genau hinzuschauen, zu differenzieren, perspektivisch zu denken und letztlich das Geheimnis zu wahren.
Europa gewinnt mit Patočka wieder Glanz – und zugleich begreift man die aktuelle Misere unseres Kontinents. Europa ist eine geistige Wirklichkeit oder sie ist keine. Darum kann es nicht sein ohne seine Ursprünge in Hellas und Rom, nicht ohne das Christentum und die humanistische Tradition, schließlich auch nicht ohne eine Aufklärung, die hier als Scheidung der Bereiche von kausal-naturwissenschaftlichem und auf Sinn ausgehendem philosophischem Denken verstanden wird. Vernunft, Einsicht, Argument und Sprache als Bezugspunkt aller Fragen, das könnte die Einzigartigkeit europäischer Kultur und damit auch seine Aufgabe in der Welt ausmachen – ein Gedanke, den Jean-François Mattéi wieder aufgegriffen hat.
• Ganz platonisch scheidet Patočka scharf zwischen doxa und Wahrheit oder auch heideggerisch zwischen der Seinsvergessenheit des Man und dem nach dem Sinn des Seins fragenden Ich. Letztlich ist das immer ein Scheideweg, der Umkehr und Wende verlangt. Hier darf man fragen, ob der platonische chorismos, die Trennwand zwischen beiden, nicht auch gewissermaßen aristotelisch durch ein Kontinuum zwischen Materie und Geist bzw. zwischen In-der-Welt-Sein und Welttranszendenz ersetzt werden könnte (in seinem Essay zur technischen Zivilisation deutet sich eine solche versöhntere Position kurz an.). Doch auch dann bliebe das kulturkritische Potenzial gegen die Alleinherrschaft einer auf Effekte, Erfolge und Erträge bedachten Welt. Letztlich ist es der biblische Ruf, die eigene Seele nicht zu verlieren, auch wenn man die ganze Welt dabei gewinnen könnte.
• Womit wir beim Christentum wären. Patočka sieht es als Teil der großen Bewegung von der doxa zur Wahrheit, mit einer durchaus größeren Breitenwirkung als die Philosophen. Mit ihm wird die Welt der Wahrheit zur „Idee einer heiligen Gemeinde des wahren Seienden“ (88). Sie fordert nun die Umkehr zu Christus als der Wahrheit, und sie verheißt ewige, welttranszendente Seligkeit denen, die seiner Wahrheit folgen. Freilich, er zeigt sich skeptisch gegenüber seiner Wahrheitsgewissheit. Doch darauf lässt sich erwidern, das Christentum stellt nicht einfach eine höhere Art von Gewissheit da, sondern alle Wahrheit kann nur bestehen im Aushalten der Fraglichkeit und in der bleibenden Suche. Gerade die Geborgenheit in der Zuwendung Gottes schafft hier die Bereitschaft, „auf unmittelbare [sc. d.h. weltimmanente] Sinngegebenheit zu verzichten und sich den Sinn als Weg anzueignen“ (98).

2 Gedanken zu “Jan Patočka (1907–1977)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert