Pierre Manent, La loi naturelle et les droits de l’homme, Paris: puf 2018.

Pierre Manent 2011 (Quelle: http://www.ssf-fr.org/album_56_220.html)

Es gibt weniger Bücher gegen den Strom als man denkt. Zumindest solche, die auch wirklich lesenswert sind. Die Sammlung von sechs Vorträgen im Pariser „Institut Catholique“ von 2017 des bedeutenden Politikwissenschaftlers Pierre Manent (* 1949) gehört zu diesen Büchern, auch wenn, das sei gleich eingeräumt, die Sprache dicht und die Lektüre der 131 Seiten bisweilen etwas anstrengend, da recht abstrakt gehalten ist. Gegen den Strom, das ist seine kraftvolle Verteidigung des Naturgesetzes („loi naturelle“ oder wie wir Deutschen lieber sagen, des Naturrechts) in einer Zeit, wo das Gros der Moraltheologen zumindest rechts des Rheins lieber auf Derrida und Foucauld als auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgreift. Und noch mehr gegen den Strom ist Manents scharfsichtige Kritik – nein, natürlich nicht an den „droits de l’homme“, den Menschenrechten selbst, wohl aber an Staat, Politik, Gesetzgebung und vor allem einer Lebenseinstellung, die sich allein darauf beschränkt, uns „all das sein zu lassen, was wir sein wollen“ (86). Und so abstrakt ist Manent auch wieder nicht, dass man nicht leicht erkennen könnte, wogegen er denkerisch Front macht: die „Ehe für alle“ (17-19) und die Zerstörung der klassischen Familie in ihrer natürlichen Ordnung von Mann und Frau, aber auch die Gleichmacherei des Multikulturalismus (nichts verurteilen, nichts für besser oder schlechter halten, selbst da, wo Kulturen eklatant etwa Frauenrechte missachten, 4), die Gleichmacherei von Geschlechtern, Generationen oder Begabungen, die inflationäre Ausweitung von sozialen Rechten und Ansprüchen (etwa beim sogenannten Bürgergeld, wenn dieses signalisiert, man habe Anspruch auf Lebensunterhalt ohne zugleich die Pflicht, nach Kräften selbst etwas dazu beizutragen, 91f.), das laissez-faire, laissez-passer als geradezu totalitärem Anspruch, der Verdacht gegen Nation, staatliche Autorität, Schule und Universität, insofern diese bindende Leistungen erwarten und nicht jedem den Erfolg garantieren, und überhaupt gegen jede Form von Gebot und Gehorsam. Er zeigt, wie unter Berufung auf die „Werte der Aufklärung“ ein Bild vom Menschen propagiert wird, das Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit von objektiven Bindungen absolut setzt. Dies kann sich nur deshalb so ungehindert durchsetzen, weil die Maßstäbe aus der Natur des Menschen, die jeder persönlichen Lebensführung ebenso wie sozialen Ordnung vorausliegen und an denen sie gemessen werden, verlorengegangen sind, ja bewusst missachtet werden. Ein Symptom dafür ist der veränderte Umgang mit dem Tod: Er führt nicht zu Selbsterkenntnis, Selbstbesinnung und Würde, sondern er wird zum großen Hindernis und lässt alle Gefährdung von Leben und Gesundheit obsessiv vermeiden (99-103).

Der Schüler des großen Politologen Raymond Aron und Vertreter eines moderaten Liberalismus erkennt einen epochalen Umbruch im Verständnis des Staates seit Macchiavelli, Luther und Hobbes. Der Mensch als „zoon politikon“ nach Aristoteles, also die auf Gemeinschaft hin angelegte konkrete Menschennatur wird nun ignoriert und an ihre Stelle der Mensch als „ein Wesen, das Rechte besitzt“, gesetzt, also als unbestimmtes, ungebundenes Individuum (57-60). Während der Staat bis dahin versuchte, mit seinen Gesetzen und Institutionen das abzubilden, was eine vorgegebene natürliche Ordnung vorgab („gute Gesellschaft“, „beste Staatsform“, 13), wird er nun zur Maschine, die Millionen unbestimmter Freiheiten von Bremsen befreit und am Laufen hält (vgl. 24f. zur Mechanisierung des Staatsapparates, der die Menschen behandelt, als hätten sie keine Vernunft und moralische Verantwortung, sondern handelten wie blinde Bedürfniswesen). Das führt zum Paradox, dass staatliche Autorität nicht mehr im eigentlichen Sinn Gehorsam einfordern darf, sondern sich dadurch legitimieren muss, dass er den einzelnen von Bindungen („Diskriminierungen“, „sozialen Abhängigkeiten und Zwängen“, Sachzwängen und finanziellen Einschränkungen usw.) befreit. Das Individuum wird dadurch nicht mehr als Handelnder verstanden, der sich an Regeln des guten Handelns ausrichten muss, sondern als Subjekt, das sich gerade dadurch als Subjekt beweist, dass es sich stets alle Optionen offen hält und frei und unbestimmt bleibt („sich selbst ohne Regel und Kriterium hervorbringen“, 6). Vor allem darf es keinen Gehorsam oder eine vorgegebene Ordnung kennen („tamquam dissoluta“, d.h. wie in ihre einzelnen Elemente zerlegt, 59, vgl. 61); nur funktionale Sachzwänge etwa am Arbeitsplatz lassen zweckgerichtete Funktionsweisen akzeptieren. Das führt die Gesetzgebung in einen Selbstwiderspruch, in eine „loi contre elle-même“ (77).

„Garten der Menschenrechte“ im Moorbad Harbach (Quelle: Hans Steiger per OTRS)

Damit geht eine radikale Umwertung der Natur des Menschen einher: nicht mehr als Schöpfung Gottes, die ihm ein Wesen mit bestimmten Eigenschaften und Aufgaben verleiht und die Selbstverwirklichung als ein Leben „secundum naturam“ begreift, sondern als grundsätzlich unbestimmte, da zu allem freie Natur ohne Natur („dénaturalisation“, 12-17). Zu allem frei, dieses „ius in omnia“ (Thomas Hobbes, 53), genauer „das Recht, alles zu sein, was wir sein wollen“ (86-91), ist der archimedische Punkt, der den Staat der (ideologisierten) Menschenrechte konstituiert. Ein solcher Staat stützt nicht wie in der antiken Polis des Aristoteles einfach das, was an Werten und Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens vorgegeben ist, er gewährt nicht mehr den Rahmen für ein gutes Leben, d.h. dafür, dass jeder einzelne in seinen vielfältigen Verbindungen mit der Gemeinschaft seinen Platz, seine Aufgaben und Pflichten hat und das gute Leben durch persönliche Tugend verwirklicht. Mehr noch, er zerstört diese planmäßig: Je weiter sein Arm ausgreift, umso mehr verdrängt oder zumindest überlagert er alle natürlichen Ordnungen. Unwillkürlich kann man hier etwa an die Ausweitung der staatlichen Erziehung auf Kosten der familiären denken. Ja, ein solcher Staat beweist seine raison d’être in moralisch hoch aufgeladenen Maßnahmen wie der „Ehe für alle“, die wie ein Fanal allen zeigen sollen: Hier gilt nichts anderes als das, was jeder einzelne sein will. Dissens wird als „Vorurteil“ und mangelnde Akzeptanz abgetan (90). Freiheit ohne vorgegebene Bindungen des Naturrechts, ja, da kennt ein solcher Staat kein Pardon und lässt darum auch die Einschüchterung jedes Dissenses als „Gesinnungsdelikt und Verbrechen der Häresie“ (90) zu. Das führt zum Paradox, dass ein allein auf den Freiheitsanspruch des Individuums gebauter moderner Staat gleichzeitig sehr dominant und intransigent, machtvoll und einschüchternd auftreten kann („domination“, 129, vgl. Kap. 2 zur staatsbegründenden Rolle der Furcht), nun aber nicht mehr zur Verteidigung einer bestimmten sozialen Ordnung, sondern zu ihrer Destruktion.

Das alles ist scharfsichtig beobachtet und aus profunder Kenntnis der politischen Philosophie durchgeführt. Manent liefert rationale Argumente und nicht bloß Polemik für die dringend benötigte intelligente Kritik an neuen Ideologisierungen und versteckten Totalitarismen. Zwei Fragen zum Weiterdenken bleiben. 1. Wohin führt die Alternative zwischen Naturgesetz und Menschenrechten? Schnurstracks ins ancien régime, in Autokratie und Zwangsstaat? Bereits der Titel des Buches gibt die Antwort: Zwischen beiden steht ein „und“. Manent macht Front gegen ein totalitäres, alles andere verdrängendes Überziehen der Menschenrechte, während die Freiheit des Individuums doch immer die Freiheit des konkreten, von seiner Natur geprägten Subjekts bleibt. Gebunden und frei, begrenzt und kreativ, unvertretbar persönlich und gleichzeitig eingebunden in die großen Gesetze des Lebens und Sterbens – nur ein solches Menschenbild weist dem Staat auch seine rechte und gleichzeitig begrenzte Aufgabe zu. Nebenbei zeichnet Manent damit auch die Grundlinien eines echten Liberalismus vor. 2. Sind die Menschenrechte nicht gerade deshalb zur Grundlage des demokratischen Rechtsstaates avanciert, weil die Berufung auf vorgegebene natürliche Ordnungen stets dazu neigen, die Freiheit des einzelnen zu beschneiden oder gar ungerechte Herrschaft zu stabilisieren? Anders gefragt: Ist die wirkliche Naturordnung nicht immer wieder überdeckt worden von nur scheinbaren Ansprüchen etwa einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, die in Wirklichkeit bloß auf kulturellen Bedingtheiten beruhen? Ist Natur nicht oft bloß verschleierte Kultur? Manent deutet hauptsächlich erst im letzten Kapitel vorsichtig an, dass er Naturrecht nicht gewissermaßen als eine Sammlung von Dogmen über die Menschennatur und ihre Regeln von Gut und Böse versteht, sondern eher wie eine regulative Idee: den Menschen in seiner vollen Natur von Geist, Seele und Leib nehmen und die Trias der Motivationen durch das Edle bzw. Ehrenhafte, das Nützliche und das Angenehme berücksichtigen, das Gewachsene und Bewährte beachten und dann die eigene Lebensführung respektvoll und verantwortlich bestimmen. So vermeidet das Naturrecht gerade die „Tyrannei des Expliziten und des Erschöpfenden“ (124) der ideologisierten Menschenrechte, es verlangt Klugheit, Selbstbesinnung und Wirklichkeitssinn (128). Anders als es das Klischee will, ist somit das Naturrecht der Tendenz nach liberal, die Ideologie der Menschenrechte dagegen totalitär, denn das eine ist praktisch und überlässt die konkrete Ausgestaltung (z.B. der Rollenverteilung in einer Ehe) den Betroffenen, während das andere theoretisch und immer ganz grundsätzlich ist (z.B. weltweit das Recht auf bezahlten Urlaub einzuführen, auch dort, wo die Sprache nicht einmal ein Wort dafür bereithält, 124) – und so immer der Gefahr steht, intolerant und fundamentalistisch zu werden (124-126). Das Naturrecht hilft ihnen, Sinn und Bedeutung, Ordnung und Gesetzmäßigkeiten in ihren verschiedenen Lebensbereichen zu finden, es setzt Grenzen, determiniert aber keineswegs das einzelne Handeln, sondern inspiriert es. Deshalb ist das Naturgesetz vom politischen Gesetz untrennbar; nur so orientieren und strukturieren Gesetze auch das Leben der Menschen und leisten ihren Beitrag zur Humanisierung der Welt. „So gibt es zwischen Sein und Sollen keinen Sprung, Graben oder Abgrund, sondern einen sanften Schritt, den man mit einer ausreichenden Gewissheit bewältigen kann“ (120). Ein solches Verständnis des Naturrechts ist in der Tat deutlich unbestimmter als das, was ein klassischer naturrechtlicher Ansatz auch inhaltlich etwa zu Mann und Frau zu sagen weiß. Oder ist es vielleicht doch auch ein notwendiges Korrektiv gegen ein starres, ungeschichtliches Verständnis des Naturrechts, das dieses erst in Verruf bringen konnte? Manent löst diese Fragen nicht, aber er bietet ein Gespräch an, das aus der Krise der westlichen Demokratien herausführen könnte.


Ich danke Bischof Jean-Pierre Batut für das Buch und die wertvollen Hinweise zu seinem Verständnis.

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