„Zeiten des Übergangs“ hatten wir die Festschrift für meinen Vorgänger, den Erfurter Pastoraltheologen Franz-Georg Friemel, überschrieben. Zeiten des Übergangs in Gesellschaft und Kirche waren auch meine Jahre als Professor für Pastoraltheologie und Religionspädagogik in Erfurt 1997-2003. Was für ein Privileg, aus dem durch und durch etablierten, ja saturierten Westen mit seinen Luxusdiskussionen und mit Wellengang im Wasserglas, aus einer Kirche im Sinkflug, die jedoch alles lieber verlöre als ihren Ballast, über Nacht auszusteigen und im Osten (pardon: der Mitte, wie ich bald lernte) Deutschlands einen Zipfel des im wind of change flatternden Schals der Geschichte zu berühren. Die Wende von 1989 war ja das mit Abstand bedeutendste geschichtliche Ereignis meines Lebens, und mit einem Mal wurde ich Augenzeuge, ja Mitwirkender als theologischer Gegenwartswissenschaftler. Zeuge zudem an einem exponierten Ort, der würdevollen, traditions- (und inzwischen gastronomiereichen) Thüringer Landeshauptstadt, zudem geprägt durch unser „Philosophisch-Theologisches Studium“ in den atemberaubenden Räumlichkeiten des Domkreuzgangs und durch den beeindruckend souveränen Bischof und Denker Joachim Wanke.

Wir sind jetzt Westen

Als ich 1997 in eine Wohnung nur dreißig Schritt vom Domplatz entfernt zog, war die Wende vorbei, waren im Großen die Weichen gestellt, erwartete keiner mehr Wunder. Umso mehr stellte sich die Frage: Was jetzt? Die in Rausch und Eile zusammengezimmerten Kulissen des Stücks „Wir sind jetzt Westen“ hatten gerade erst Akt Eins gesehen, die Exposition. Wie sollte es weitergehen? Ratgeber, oft genug auch Rataufdränger, gab es viele, aber kein Regisseur nahm den Verlauf in die Hand. So hatte das Ganze etwas von Experimentaltheater, natürlich stets gut deutsch mit Aktenvermerk, Dienstanweisung und Sozialleistungen. Kirchlich war das Thema die Öffnung zum Nichtchristen, also heraus aus dem kleinen Kreis des Diasporakatholizismus. Natürlich blieben auch da die Beharrungskräfte groß. Dennoch war dieses „demütige Selbstbewusstsein“, von dem Joachim Wanke sprach, dieser Optimismus: „Wir haben etwas zu geben und wir wollen es auch tun!“ allenthalben mit Händen zu greifen. So führte eine Tagung etwa zwanzig missionarische Initiatoren zusammen, von Hospizen über Religiöse Kinderwochen bis zur Künstlerseelsorge und einer eigenen Reihe „Mystische Nacht“ im Gedenken an den großen Erfurter Meister Eckhard. Das alles geschah bei kleinstem Apparat. Wenn ich im Ordinariat vormittags zu tun hatte und sich dann alle zum mittäglichen Angelus im Flur versammelten, konnte man noch von einer Hausgemeinschaft und nicht von einer Menge im Fußballstadion sprechen. Bald hatte ich die meisten kennengelernt und durfte mich als einer der Ihren fühlen, nicht zuletzt weil ich viele auch im Gottesdienst wiedersah. Fast alle hatten sie einschlägige DDR-Geschichten: verweigerte Jugendweihe und dadurch unmöglich gewordenes Studium, Zitierung zum Rat des Kreises und natürlich Gottesdienste, Montagsdemos und der erste Ausflug im Trabbi in den Westen nach Coburg und Hof.

Villa Martin (Sitz der Theologischen Fakultät der Universität Erfurt; Quelle: Florean Fortescue)

2003, bei meinem Ruf nach München, war auch die Nachwende vorbei. Die 1989 Geborenen waren schon einen Kopf größer als ich und dachten, fühlten und planten ihr Leben nicht viel anders als drüben in Hessen oder Niedersachsen. Auch unser anfangs noch ein bisschen kuscheliges (allerdings strikt ohne jeden Weichspüler) „Studium“ hatte sich zur Universitätsfakultät gemausert (nach kurzem Zwischenspiel als kirchliche Hochschule). Normalisierte Verhältnisse also. Wahrscheinlich war das gut so, zumindest unvermeidlich. Den sechs außergewöhnlichen Jahren hat das nichts mehr nehmen können.

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