Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum und anderes. Hg. von Walter Rest, München 1977

Wenn Christen heute von Jesus Christus sprechen, dann tun sie dies wie von selbst meistens in der Vergangenheitsform: „Jesus hat sich für die Armen eingesetzt. Er lebte ganz für andere.“ Ebenso hat die heutige Theologie diesen Ursprung konsequent historisiert. Die Geschehnisse des Neuen Testaments sind Ereignisse, die 2000 Jahre zurückliegen und die man mit viel Scharfsinn der Leben-Jesu- und Urchristentumsforschung einigermaßen zu rekonstruieren versucht. Doch am Ende erscheint der Anfang oft nur umso mehr fern und fremd. Da stellt sich dann aber doch die Frage: Was sollten wir um Gottes willen mit einem „marginal Jew“ (John P. Meier) zu tun haben, der unter die Räder der vereinten Justiz des Synedrions und des für seinen Opportunismus bekannten Prokurators Pontius Pilatus geraten ist? Der gewaltige historische Graben kann nun aber nicht einfach ignoriert werden, dafür ist uns das historische Bewusstsein seit über 200 Jahren viel zu sehr in Fleisch und Blut des Denkens eingegangen. Aus diesem Grund haben sich Kirche und Theologie seitdem bemüht, die Relevanz der Jesusgeschichte hermeneutisch, also durch ihr tieferes Verstehen, aufzuweisen. Dabei haben sich verschiedene Typen ausgebildet, die man auch gut in Predigt, Religionsunterricht und christlichen Medien nachweisen kann:

  • „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ (I. Kant): Das Neue Testament wird als ewig-menschliche Illustration dessen verstanden, was immer und überall gilt, also Grundwerte des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, heute insbesondere von Frieden und Toleranz. In der Tat ist dann allerdings meistens das Überzeitlich-Vernünftige deckungsgleich mit dem zeitgeistig Vermittelbaren.
  • „Kleines Senfkorn Hoffnung“: Das Christusereignis wird als Anfang einer geschichtlich nie mehr ganz ausgelöschten Bewegung für eine bessere Welt gedeutet. Das „Reich Gottes“ wird dabei zur Chiffre für soziale Veränderung im Blick auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Philosophisch ist das vor allem der Ansatz von G. W. F. Hegel und seiner linkshegelianischen Erben im Umkreis des Sozialismus und Marxismus. Heute ist er ganz besonders im Schwange.
  • „Großinquisitor“: Dostojewskis berühmte bitterböse Satire auf den römischen Katholizismus in „Die Brüder Karamasow“ entspricht ohne die polemischen Spitzen durchaus einem gängigen Schema. Greifbar ist danach nicht Jesus, sondern die Kirche, ihr Apparat, ihre Aktionen. Die Berufung auf Christus soll ihr Legitimität und Ansehen verleihen, aber der historische Abstand wirkt gleichzeitig als Schutzschild gegenüber allzu kritischen Nachfragen, ob das denn alles im Sinne Jesu sei.

Und auf diese Weise kann jeder Mensch nur mit der Zeit gleichzeitig werden, in der er selber lebt – aber dann noch mit einer anderen: mit Christi Leben auf Erden

Kierkegaards „Einübung im Christentum“

Fotos: M. Schulze

Ein Prediger und Prophet in der ersten Hochblüte des historischen Bewusstseins war der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813-1855). Zeit seines Lebens erhob er sich gegen einen Jesus in der Vergangenheitsform ebenso wie gegen eine Christenheit, die den großen Abstand wie eine Sicherheitszone gebrauchte, um sich nicht von ihm stören zu lassen. Nirgendwo tritt seine Kritik und seine eigene Gegenposition so klar hervor wie in seinem letzten großen Werk, der „Einübung im Christentum“ von 1850. Wie alle seine Werke ist es bewusst gegen die Systemphilosophie vor allem Hegels geschrieben. Das zeigt sich bis in Stil und Gedankenführung. Seine Grundgedanken werden in immer neuen Anläufen, oft auch predigthaft zugespitzt und aphoristisch verkürzt, unsystematisch vorgestellt. Schon das Pseudonym „Anti-Climacus“ ist dafür als Signal zu werten. Der Verfasser erscheint mehr als Erweckungsprediger der Christenheit „aus dem Schlaf der Sicherheit“ (vom Vater her war er pietistisch aus der Herrnhuter Brüdergemeine geprägt) denn als präziser Philosoph[1], und doch hat die Kierkegaard-Forschung längst das genaue und wohldurchdachte Grundgerüst seines Denkens gegen den Vorwurf unbedachter Einseitigkeiten herausgearbeitet. Arbeiten wir dieses Grundgerüst im engen Durchgang durch den Text heraus.

Schlüsselwort der „Einübung im Christentum“ ist die Gleichzeitigkeit. Alles kommt darauf an, Jesus Christus im Hier und Jetzt zu begegnen, sein Sein und seinen Anspruch anzunehmen und ihm Glauben zu schenken:

„Das Vergangene ist nicht Wirklichkeit: für mich; nur das Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich. Das, womit du gleichzeitig bist, ist Wirklichkeit: für dich. Und auf diese Weise kann jeder Mensch nur mit der Zeit gleichzeitig werden, in der er selber lebt – aber dann noch mit einer anderen: mit Christi Leben auf Erden, denn Christi Leben auf Erden, die ‚Heilige Geschichte‘, steht ganz und gar allein, indem sie außerhalb der Geschichte steht“ (100f.).

Zur Gleichzeitigkeit mit Christus darf man sich nicht einfach mit einem Akt der Vergegenwärtigung begnügen, so als genügte es, sich nur möglichst lebendig in eine damalige Szene in Galiläa oder Jerusalem hineinzuversetzen. Gleichzeitigkeit ist vielmehr vom Wesen des Menschen selbst gefordert, nämlich von seiner Freiheit. Nur im jetzigen Augenblick kann der Mensch über sich selbst verfügen, Vergangenheit und Zukunft sind ihm entzogen. Darin ist der Mensch aber auch ganz und gar Einzelner, denn in der Freiheit kann sich niemand vertreten lassen, er kann sich auch nicht auf das zurückziehen, was das Man, die Zeit, die Mode oder der Brauch diktieren (so im umfangreichsten Werk „Entweder – Oder“). Wer frei über sich und sein Leben verfügt, trifft gerade darin auf den Anspruch Jesu: Nur mit ihm, also an ihn glaubend, wird er die Freiheit recht gebrauchen können. Ohne ihn wird er in Angst und Selbstverstrickung an sich selbst vorbeileben (so in seinem großen Werk „Der Begriff Angst“). So erschließt sich die Gestalt Jesu nur dem, der ihm glaubend seine ganze Existenz anvertraut. Allein in dieser Selbstentäußerung, in diesem gläubigen Vertrauen wird der Mensch dem gerecht, was Jesus wirklich ist. Denn nur so erkennt er im Menschen Jesus von Nazaret Gott selbst. Dies ist unendlich viel mehr als ein abstraktes Wissen um etwas Göttliches in ihm. Es sprengt für Kierkegaard vielmehr alle Vernunft und ist nur als Paradox denkbar. Darum bleibt es dem Menschen immer ein skandalon, ein Ärgernis. Nur wer aber den Sprung des Glaubens wagt, kann so auch zurückfinden in seine eigene Endlichkeit, wird sich und das Leben in aller Endlichkeit und Gebrochenheit um Christi willen annehmen können – ein Thema, das der dänische Philosoph in anderen seiner Werke, etwa der „Krankheit zum Tode“ oder „Der Begriff Angst“ weiter ausgeführt hat.

sie fürchtet nicht Gott, sondern Menschen

Erster Teil: Gleichzeitigkeit

Gleichzeitigkeit, Glaube, Freiheit, Selbstentäußerung und Selbstfindung, Paradox und Ärgernis, Menschheit und Gottheit bzw. Niedrigkeit und Herrlichkeit, das sind die Säulen, auf denen das christliche Denken Kierkegaards ruht. Die „Einübung im Christentum“ entfaltet diese Gedanken in drei Teilen. Sie legen jeweils ein Wort Jesu aus. Der erste Teil geht dem Zuspruch auf den Grund: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben“ (Mt 11,28). Das Wort hat es in sich: „[D]ie Einladung sprengt alle Unterschiede, um alle zu sammeln“ (57), sie verspricht: „Der Helfer ist die Hilfe“ (55) und sie macht selbst an Sünde und Tod nicht kehrt, sondern an dieser entscheidenden Schwelle rettet sie vor der Verdammnis. Wie kann man all dies ernsthaft glauben? Nur in Gleichzeitigkeit mit Christus, denn „Gleichzeitigkeit ist die Voraussetzung des Glaubens, genauer: sie ist der Glaube selbst“ (52). Es ist der Glaube daran, dass der Mensch Jesus Gott ist (65). Doch dies ist nicht aus der Geschichte zu beweisen, die allenfalls zu dem Schluss kommen kann, „daß Jesus Christus ein großer Mann gewesen ist, vielleicht der allergrößte von allen“ (66; sie versteht Christus „nicht revolutionär, sondern evolutionär“, 85). Zum Glauben genügt es deshalb keinesfalls, „Neugier und nicht Teilnahme“ zu zeigen (61). Man darf sich als Christ auch nicht bloß als Teil einer christlichen Kultur und Geschichte verstehen, die aus der Wirkungsgeschichte Christi entstanden ist. Denn in seiner Gottmenschlichkeit ist er „das Paradox, das die Geschichte nicht verdauen kann“ (69). Erst recht nicht, indem man den historischen Sicherheitsabstand einhält und aus der Distanz das eine oder andere Brauchbare aus ihm als einem „göttliche[n] Biedermann“ (74) herauszieht. Man muss sich vielmehr eingestehen, „daß die Sünde des Menschen Verderben sei“ (98), und sich dann Christus restlos anvertrauen. Meisterhafte Karikaturen stellen die verschiedenen unzureichenden Umgangsweisen mit ihm beim Pfarrer, Philosophen, Staatsmann, Bürger und Spötter dar (78-90, 96 auch der Journalist), zugleich seine große Zeitkritik am „Unglück der Christenheit“ (73f.), an seinem „zahme[n] Gerede“ (79), so dass „aller Saft und Kraft aus dem Christentum herausdestilliert“ wurde (74), ja dass man damit endet, „Christi Worte hinwegzunehmen und ihn selbst wegzulügen“ (75), „wodurch Christus umgedichtet wird“ (103) und ein „sentimentale[s] Heidentum“ entsteht (120, ähnlich 132 und 135),  und dass dann angesichts des Christentums mit seinen Forderungen „die Pfarrer Hilfestellung leisten müßten, um es etwas herunterzuhandeln“ (99; das ist dann der Typ des beliebten „liebenswürdigen Prediger[s]“, 99).

„Die Christenheit hat das Christentum abgeschafft, ohne es selbst richtig zu entdecken“ (74). Im gleichen Atemzug hat es aber auch „die Tatsache, daß du ein Sünder bist – auch ich [also der einzelne], hat man abgeschafft“ (104). Denn ein solches verharmlostes, verweltlichtes Christentum verweigert die Gleichzeitigkeit und damit einen radikalen, letztlich immer nur individuell verantwortbaren Glauben an Christus zugunsten von weltlichen Rücksichten und Anpassung an die Zeitverhältnisse. Hier stehen wir an dem Punkt, an dem man Kierkegaard gegen die Fortschritts- und Reformgläubigkeit auch heutigen Christentums als Konservativen im besten Sinn verstehen kann, nämlich als Bewahrer und Erneuerer des vollen, ursprünglichen Anspruchs des Christentums gegen seine Anpassung an den „Status quo“: „Und sonderbarerweise ist diese Vergöttlichung des Bestehenden gerade der fortwährende Aufstand, der unaufhörliche Aufruhr gegen Gott“ (114; dies ist „die Verweltlichung aller Dinge“, 116f.; sie „fürchtet nicht Gott, sondern Menschen“, 118). Er erschrickt tief, dass du heute „nicht ein unübersehbares Gedränge von denen erblickst, die mühselig und beladen sind, und die der Einladung Folge leisten, sondern genau das Gegenteil: ein unübersehbares Gedränge von Menschen, die zurückweichen und schaudern und endlich losstürmen und alles niedertreten“ (62).

kurz, wortkarg, befehlend an jeden einzelnen

Zweiter Teil: Ärgernis

Über dem zweiten Teil steht das Wort „Selig, wer sich an mir nicht ärgert“ (Lk 7,23). Die Gestalt Christi stellt ein „wesentliches“ Ärgernis dar (120), insofern sein Wesen gegenüber dem bloßen Augenschein etwas Anderes, nicht Denkbares mit sich bringt: eine Herrlichkeit, die sich bis zum Tod am Kreuz entäußert, und andererseits eine Niedrigkeit, die die des Sohnes Gottes selbst ist. Wie anders eine Kirche, in der man „lauter Predigten [hört], die passender mit Hurra als mit Amen enden müßten“ (132). Wer vor der „Möglichkeit des Ärgernisses“ (131-145) Jesu nicht zusammenzuckt, ist ihm gar nicht erst nahegekommen.

Im philosophischen Kern des Werkes stehen die „Denkbestimmungen des wesentlichen Ärgernisses“ (146-166), gewissermaßen eine philosophische Christologie Kierkegaards. Voraussetzung ist dabei stets das chalkedonische Bekenntnis zum Ganz Gott und Ganz Mensch Jesu Christi. Noch im Sinne der Schriftauslegung des Origenes und vieler Kirchenväter ist Christus ein Zeichen seiner selbst (147-150), d.h. seine Menschheit verhüllt und offenbart zugleich seine Gottheit. Doch anders als diese und in radikaler Form protestantisch-kreuzestheologisch sieht Kierkegaard die Knechtsgestalt Jesu als „Zeichen des Widerspruchs“ (148), als „Inkognito“ (150-155), als „absolutes Paradox“ (vgl. 110). Deshalb kann die Gottheit in keinster Weise aus seiner irdischen Erscheinung erschlossen werden, auch nicht durch seine Wunder und seine Auferstehung, ebenso wenig durch seine Wirkungen in der Kirchengeschichte. Damit sind die drei eingangs genannten Versuche, den Graben von zwei Jahrtausenden zu überbrücken, als Irrwege gebrandmarkt. Abseits einer gläubigen Haltung (diese Einschränkung ist wichtig, vgl. 120) kann Jesus seine Gottheit überhaupt nicht direkt mitteilen, als handele es sich um einen Satz von Lehrsätzen, die man wie einen Einkaufszettel auswendig lernen kann (155-166). Jesus doziert nicht, er existiert, und darum heißt an ihn glauben sein Existieren „reduplizieren“ (156), also ihm nachfolgen. Erst die Nachfolge Christi erschließt auch seine Bedeutung. Jesus weiß ja auch, dass eine bloße Lehre über seine Person nur zu einem Missverständnis führen würde – man denkt hier biblisch an das Messiasgeheimnis Jesu, das ihn ohne die Bejahung der Passion völlig verkennen würde. Wohl aber ist das Zeichen Christi ein solches, das sich im Glauben und nur im Glauben erschließt – Glaube schließt dabei die „Wahl“ (162) ein, sich selbst und die eigenen Maßstäbe von Christus in Frage stellen zu lassen. Denn jedes Wissen über ihn ist nicht ein Sachwissen, das man getrost nach Hause tragen kann, sondern eine Herausforderung, ihm sein Leben zu schenken. Es nimmt das Subjekt in Beschlag, und wer dies nicht zulässt, dem wird sich die Gestalt Jesu nie erschließen, und wenn er auch ganze Regalmeter exegetischer Wälzer „der sämtlichen Herren spekulativen, theologischen Professoren“ (127) durchgearbeitet hätte. Der Gottmensch wird dann immer ein Ärgernis bleiben, das man zu beseitigen sucht, und sei es mit ausgeklügelter, aber letztlich ungläubiger Gelehrsamkeit.

Gerade weil man nun aber Jesu Gottheit und damit seinen absoluten Anspruch nicht beweisen kann, ist der Glaube an ihn ein Akt äußerster Freiheit. Der Glaubende vollbringt ihn nämlich nicht genötigt durch Vernunftbeweise. Nur wer vielmehr das Wagnis, den Sprung des Glaubens, von dem der große Däne in seinen Schriften immer wieder spricht, auf sich nimmt, dem erschließt sich die tiefe Wahrheit des Glaubens. Knowing by doing also, oder auch Wahrheit als Existenzform. Deshalb heißt das ganze Werk übrigens auch „Einübung“ und nicht bloß „Einführung“ (eine englische Übersetzung spricht sogar von „Training in Christianity“.

Kierkegaards zentrale Kategorien können selbst wieder sehr unterschiedlich ausgelegt werden.

  • Das Jenseits der Vernunft hat die Dialektische Theologie besonders bei Karl Barth, Friedrich Gogarten und Emil Brunner in den Mittelpunkt gestellt,
  • die einsame Freiheit die Existenzphilosophie (mit ganz unterschiedlichen Akzenten bei Martin Heidegger, Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre und Albert Camus),
  • eine Geschichtsphilosophie der Abwechslung von Zeiten ruhiger Entwicklung und heftigen Ab- und Umbruchsphasen bei Ernst Troeltsch,
  • den radikalen Schnitt zwischen dem Anspruch Christi und seiner Selbstmitteilung die Theorie der Entweltlichung bei Rudolf Bultmann, der sich übrigens viel eingehender mit Kierkegaard auseinandergesetzt hat als Karl Barth, u.v.a.

Man wird jedoch gut daran tun, nicht die einzelnen Formulierungen des unbequemen Dänen selbst wieder zum System zu erheben. Seine Sprachform ist nicht die der Darstellung, sondern die des Appells. Sie pro-voziert zur existenziellen Entscheidung und treibt dafür die Dinge ins Extrem. Doch im Kern geht es ihm nicht um Leugnung der Vernunft, sondern um eine Vernünftigkeit, die nicht nur den Kopf oder gar nur die Lippen, sondern auch Herz und Hand umfasst. Nur in Entschlossenheit erschließt sich das Christusgeheimnis. Das ist dann wieder gut patristisch, denn Absage an das Böse und Bekenntnis des Glaubens in der Taufe sind hier Voraussetzungen für den übernatürlichen, lebendigen, in Taten der Liebe verwirklichten Glauben.

Dritter Teil: Predigten

Der dritte Teil besteht aus sieben Predigten Kierkegaards über das Wort „Von der Herrlichkeit will Er alle zu sich ziehen“ (167-267). Darin werden nun keine neuen Gedanken mehr entwickelt, sondern das bisher Gesagte wird noch einmal in einfacherer Sprache und unmittelbarer zur Erweckung der Gläubigen gesagt. Besonders erhellend ist der Zusammenhang zwischen glaubender Selbsthingabe und Selbstfindung. Im Glauben hat das Selbst keineswegs „alles eigene Bestehen verloren […]. Nein, wenn das, was gezogen werden soll, an sich ein Selbst ist, so bedeutet ‚in Wahrheit an sich ziehen‘ erst diesem dazu verhelfen, in Wahrheit ein Selbst zu werden, um es dann an sich zu ziehen, oder es bedeutet, diesem Selbst, während es emporgezogen wird, zu helfen, ein Selbst zu werden“ (174). Sich selbst finden, indem man sich an Christus verliert, dafür findet Kierkegaard den prägnanten Ausdruck der „Verdoppelung“ der Wahrheit Christi in seinem Jünger (175; 214).

Bei alldem blitzen auch immer wieder sehr konkrete Forderungen an und Vorschläge für eine erneuerte Kirche auf, etwa dass man „sogleich mit der Sprache heraus[kommen müsse]“ und „kurz angebunden, wie die Wahrheit immer ist“, zu sprechen habe (173; auch Jesu Rede ist „kurz, wortkarg, befehlend an jeden einzelnen“, 238). Kierkegaards Kritik ist zwar präzise situiert, denn sein historisches Gegenüber ist der Bischof Jakob Peter Mynster, den er als Inbegriff eines eloquenten Verteidigers des Bestehenden ansieht. Doch seine Gedanken treffen auch viele andere Zeiten und Konfessionen, nicht zuletzt den gegenwärtigen Katholizismus. Wichtig ist jedoch, dass er sich nicht in einer bloßen Ablehnung verhärtet (später spricht er einmal von „bewaffneter Neutralität“), sondern Konturen einer Erneuerung erkennen lässt.[2]

verhelfen, in Wahrheit ein Selbst zu werden

  • So kennt er den Ernst des kirchlichen Dienstes am Heil jedes Einzelnen: „Wahrlich, wer um seine eigene Rettung oder um die eines anderen Menschen besorgt ist, der spricht viel ungeduldiger“ (173).
  • Sprache der Verkündigung muss aus der Innerlichkeit kommen. Verbreitet ist stattdessen „im denkbar größten Ausmaß die Sprache eines nach außen Gekehrten und [sie] sieht der Sprache nur allzu ähnlich, deren sich ein Zeitungsschreiber bedient“ (234; dagegen darf man sich nicht scheuen, „die völlig veraltete, beinahe lächerliche Sprache“ des alten Christentums zu sprechen, 239).
  • Ziel der Seelsorge ist es, Nachfolger und nicht bloß Bewunderer Jesu hervorzubringen (244-264).
  • Er will die Weltlichkeit der Welt nicht mit religiösem Ernst und Unbedingtheit behaftet sehen, denn Christus „macht den Unterschied, jenen unendlichen Unterschied; er macht das Steuerzahlen an den Kaiser zu dem Allergleichgültigsten, das denkbar ist, was besagen will, zu einer Sache, die man erledigen soll, ohne auch nur ein Wort oder einen Augenblick darüber zu verlieren – um auf diese Weise umso mehr Zeit zu erhalten, Gott das zu geben, was Gottes ist“ (184).
  • Bei aller Radikalität weiß Kierkegaard doch auch um das Gesetz der Gradualität: „Menschen muß man behutsam behandeln, deshalb darf der Mensch erst allmählich seine Aufgaben erhalten“ (197), und er hat Mitleid mit echten Christen: „die Grausamkeit entsteht dadurch, daß der Christ in dieser Welt leben muß, daß er in der Umgebung dieser Welt sein Christ-Sein darstellen muß“ (207).
  • Dennoch darf die Taufe nicht bloß eine Art Passierzettel sei, „um ohne obrigkeitliche Rüge durch die Welt zu kommen“ (228).
  • Entlastend wirkt schließlich seine Einsicht: „Christlich streiten immer nur einzelne“ (232); man soll sich deshalb nicht die Illusion machen, die ganze Gemeinde bzw. christliche Gemeinschaft werde jemals aus tief Glaubenden im Sinn unseres Philosophen bestehen.
  • Gehorsam gegenüber dem Anspruch Jesu bleibt unverzichtbar, trotz der „natürlichen und angeborene[n] Lust zu Ungehorsam“ in jedem Menschen. Doch in der Kirche ist es eingetreten: „man genierte sich zu gehorchen. Darauf wurde an die Stelle der Strenge die Milde gesetzt; man getraute sich nicht zu befehlen, und sträubte sich dagegen, sich befehlen zu lassen: diejenigen, welche befehlen sollten, wurden feig, und diejenigen, die gehorchen sollten, wurden frech“ (236). Am Ende steht ein „verzärteltes, stolzes und doch feiges, trotziges und doch verweichlichtes Geschlecht“ (240).

Kierkegaard zum Anfassen also. So könnte man also durchaus die Lektüre der „Einübung im Christentum“ mit diesem Teil beginnen und erst danach zu den teilweise recht anspruchsvollen Erörterungen des ersten und des zweiten Teiles vorstoßen.

Einschätzung aus katholischer Sicht

Aus katholischer Sicht könnte man manches an Kierkegaard bemängeln. Allerdings haben wir an einigen Stellen bereits angedeutet, dass er vieldeutig ist, und eine große katholische Kierkegaard-Deutung wäre wohl an der Zeit. Es ist ja kein Zufall, dass wichtige Denker, die in unserer Reihe zum Konservatismus vorgestellt werden, stark von Kierkegaard beeinflusst wurden oder sich zumindest mit ihm als einer der ernsthaftesten Stimmen für eine Erneuerung des Christentums beschäftigt haben: Romano Guardini, Theodor Haecker und Henri de Lubac. Eine solche katholische Kierkegaard-Deutung könnte nicht zuletzt die evangelikale Versuchung in glaubensfesten Gruppierungen des Katholizismus überwinden oder besser zu einer intellektuell verantworteten Erneuerung vertiefen. Deren Prüfstein wäre es wohl immer, niemals zu vergessen, dass das Examen eines echten Glaubens jeder Christ erst einmal selbst zu bestehen hat, und das ein Leben lang. Nennen wir nun einige Punkte, an denen der Däne katholisch weiterzudenken wäre – oft allerdings aus eigenen, bislang vernachlässigten Ansätzen.

  • Die Vernunft – allerdings eine solche mit einer existenziellen Tiefe und einer radikalen Offenheit und Bereitschaft für Gott, wie sie Kierkegaard beschreibt – ist durchaus in der Lage, Gründe der Glaubwürdigkeit Christi und seiner Kirche zu finden. Darum ist die Glaubensentscheidung kein blinder Sprung, sondern Vollendung einer gereinigten Vernunft. Vernunft ist geistige Offenheit, und Glaube ist Gabe Gottes in diese hinein. Kierkegaard erkennt freilich selbst ganz zutreffend, „daß die Beweise im Höchstfall dazu dienen können, einen Menschen aufmerksam zu machen, damit er, auf diese Weise aufmerksam gemacht, dahin gebracht werden kann: ob er glauben oder sich ärgern will […]Satzzeichen? erst durch die Wahl wird das Herz offenbar“ (121).
  • Für eine katholische Theologie besteht das Wesen der Kirche gerade in der Gleichzeitigkeit mit Christus, genauer: Er ist gegenwärtig in seinem Wort und Sakrament. Darum besteht der Ernst und die Konkretheit der Entscheidung für ihn gerade vor Lehre und Liturgie der Kirche. Die „klaffende Tiefe, über die allein der Glaube reicht“ (161), äußert sich in der Ehrfurcht vor seiner Gegenwart in der Kirche – trotz aller Schwachheit und der Sündigkeit in ihren Reihen. Letzteres wäre allerdings gegen die ewige Versuchung des Katholizismus zu sagen, sich wie Besitzer von Wort und Sakrament aufzuspielen.
  • Der Einzelne steht unvertretbar vor Gott, doch gleichzeitig ist er Teil des mystischen Leibes Christi und darf sich in der Gemeinschaft der Heiligen geborgen fühlen – bis dazu hin, dass sein kleiner Glaube teilhat am großen Glauben der Vielen, die für Christus ihr Leben hingegeben haben. Dadurch ist in der Kirche durchaus auch Platz für die vielen Klein- und Halbgläubigen, ja es darf auch den Bruder Leichtfuß geben – wenn nur die Kirche als Ganze vom Ernst der Gleichzeitigkeit mit Christus getragen bleibt. Darum ist auch der Kampf um die Treue der Kirche gegen alle Verweltlichung so entscheidend.
  • Die Geschichte der Kirche vermag sehr wohl zur Gestalt Jesu zu vermitteln, wenn man sie nämlich als geistgewirkte Tradition versteht, in der das einmal Geschehene treu überliefert und ins Hier und Heute gestellt wird.
  • Glaube als Existenzhaltung schließt durchaus auch eine allgemeingültige Moral ein. „Ob also mehr von ihm gefordert wird, wird ihn Gott wohl verstehen lassen“ (103). Ja, diese Forderung ist nicht nur das, was jeder allein für sich gelten lassen kann; es sind ganz schlicht die Gebote, die für alle gelten.[3]

Kierkegaard zu lesen ist wieder an der Zeit, gerade auch für Katholiken. Konservativ ist er insofern,

  • als er gegen Verflachung und Verfall die Treue zum Ursprung wahrt,
  • als er Verweltlichung demaskiert bis in ihre Sprache und Denkhaltung hinein,
  • als er unerbittlich auf die eine entscheidende Reform hinweist, die des eigenen Selbst, ohne die alles andere nur Reförmchen und Ablenkungsmanöver sind, und
  • als er Methoden einer philosophischen Existenzanalyse entwickelt, die den Zustand des Einzelnen, der Gesellschaft ebenso wie der Kirche nicht an Mehrheiten und Moden bemisst, sondern an ihrem Stand vor der großen Einladung Jesu: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe geben!“

[1] Zur Einordnung vgl. Albrecht Haizmann, Kierkegaards Einübung im Christentum als evangelisches Exerzitium, in: Kierkegaard Studies / Yearbook (2010) 175-199. – Der Aufsatz besteht zu großen Teilen aus einer Darstellung des Gedankengangs in den drei Teilen als „Exerzitien“. – Zum philosophischen Verständnis der „Einübung“ bietet sich vor allem eine Lektüre der „Philosophischen Brocken“ von 1844 an, worin wichtige Begriffe wie Paradox, Gleichzeitigkeit, Wiederholung und Ärgernis bereits ausführlicher entfaltet werden.

[2] In diesem Zusammenhang ist die Wahl des Pseudonyms aufschlussreich, die er erst nach einem enttäuschenden Gespräch mit Bischof Mynster aufgibt: „Mein früherer Gedanke ist gewesen: soll das Bestehende verteidigt werden können, so ist die einzig mögliche Weise die: das Urteil über es dichterisch (durch einen pseudonymen Verfasser) vorbringen zu lassen. […]Jetzt hingegen bin ich mit mir selber ganz einig« darüber, ‚daß das Bestehende, christlich geurteilt, unhaltbar ist, daß jeder Tag[,] den es besteht, christlich geurteilt ein Verbrechen ist […]. Darum nimm die Pseudonymität fort […]: so ist die Einübung im Christentum, christlich geurteilt, ein Angriff auf das Bestehende“ (zit. bei Martin Abraham, Sören Kierkegaards „bewaffnete Neutralität“. Zur Kirchenkritik eines „christlichen Schriftstellers“, in: NZSTh 37 (1995) 308-323, hier 315, Anm. 36).

[3] Kierkegaard hätte den Satz, der markant auf eine Position „Evangelium, aber keine Werke“ hindeuten könnte, in der zweiten Ausgabe der „Einübung“ am liebsten gestrichen, um seine Ausführungen nicht als „billige Gnade“ missverstanden zu wissen (Abraham, Sören Kierkegaards „bewaffnete Neutralität“ 321): „Und darüber hinaus nichts; sonst verrichte er seine Arbeit, freue sich ihrer, liebe sein Weib und freue sich dessen, erziehe seine Kinder, liebe seine Mitmenschen und freue sich des Lebens“ (103).

Ein Gedanke zu „Sören Kierkegaard

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