P. Stephan Haering (1959-2000)

Zu seinem Todestag am 18. November

Klosterbibliothek Metten (Quelle für alle Bilder: Benediktinerabtei Metten)

Bei meinem ersten Besuch in der Benediktinerabtei Metten (Niederbayern) durfte ein Besuch in der weltberühmten, 300 Jahre alten Barockbibliothek nicht fehlen. Eine solche Besichtigung ist in der Tat unvergesslich. Da gibt die Kunst in Farben und Gestaltungen ihr Bestes, in prachtvoll verzierten Bücherschränken und symbolgeladenen Deckenmalereien. Ein Festsaal des Geistes! Ein Inbild des christlichen Humanismus, der nirgendwo so ansprechend blüht wie in einem guten Benediktinerkloster! Wer einmal P. Stephan Haering, dem Mettener Mönch und renommierten Kirchenrechtsprofessor an der LMU München, begegnet ist, sei es in seinen Büchern oder noch besser in Person, der wird mir recht geben mit meiner Behauptung: Stephan Haering oder schlicht „Pater Stephan“, wie sich seine Bezeichnung selbst in der sonst so distanzierten Uni-Atmosphäre hielt, Pater Stephan also war ein Inbild dieses Inbildes des Geistes. Geboren in Grafenau im Bayerischen Wald, seit seinem Abitur 1978 Mitglied des Mettener Konventes mit feierlicher Profess 1983 und Priesterweihe im Jahr darauf, schlug er nach dem grundständigen Studium in Salzburg die kirchenrechtliche Laufbahn ein, promovierte 1987 ebenfalls in Salzburg und habilitierte sich 1996 in München, war dann Kirchenrechtsprofessor in Würzburg (1997-2001) und seitdem Kirchenrechtler in München.

Im Professorentalar zu Fronleichnam

Er war selbst eine wandelnde Bibliothek, zumindest in Sachen Kirchenrecht. Selbst abgelegene Themen, selbst knifflig formulierte Anfragen, in Sekundenschnelle wusste er darauf eine Antwort – besser als KI, vor allem aber menschlicher, persönlicher, wärmer. Es war eben, als hätte er eine ganze wohlgeordnete Bibliothek im Kopf, mit gut funktionierendem Sach- und beinahe noch besser ausgerüstetem Personenverzeichnis.

Bei den Sachen wusste er nicht nur schier alles, sondern er wusste auch, wo es steht. Nein, nicht in welchem Buch auf welcher Seite es steht, sondern viel tiefer, was der rechte Platz jeden Details im großen Ganzen ist. Im schönen Ganzen, so möchte man, noch von der Barockbibliothek beeindruckt, hinzufügen. Dass die Welt erlöst ist, dass die Wirklichkeit sich in Christus zu einem wunderbaren Ganzen fügt, dass darum die Quintessenz alles Wissens Staunen, Freude, Dankbarkeit und Anbetung ist, dass uns also die barocke Freude, dass Muße und Verschwendung einer solchen Klosterbibliothek uns bessere Führer zur Wahrheit sind als in kaltem Stahl und funktionalem Beton gebaute heutige Tempel der Wissenschaft, das verkörperte Pater Stephan, dafür war er ein Inbild. Breit gebildet, mit einem blitzgescheiten Verstand und einem beneidenswerten Gedächtnis ausgestattet, unendlich fleißig und beharrlich, war sein herausstechendes Kennzeichen vor allem seine akademische Dienstbereitschaft. Denn er ließ sich zu allem gebrauchen, durchaus im Doppelsinn des Wortes. Dabei waren seine eigenen großen Themen Rechtsgeschichte und Ordensrecht, beides Gebiete, die sozusagen bereits in der Luft der Mettener Bibliothek lagen. Ansonsten beeindruckt die Breite der Themen, die allesamt mit stupender Sachkenntnis behandelt wurde. Dass er sich ihnen zugewendet hat, ging aber nicht auf intellektuelles ADHS zurück, sondern war Ausdruck eines beinahe litaneihaft häufig gesprochenen „Adsum. Ich bin bereit“ bei Anfragen, gleich ob es galt, Großprojekte wie das „Handbuch des katholischen Kirchenrechts“, die Zeitschrift „Archiv für Kirchenrecht“, die Edition mittelalterlicher kanonistischer Summen oder – zusammen mit mir – den „Guibert“, also gewissermaßen den Denzinger des geistlichen Lebens, auf den Weg zu bringen. Oder eben auch wenn er zu einem Vortrag, einer Tagung, einer Festschrift, in einem Beirat und nicht zuletzt bei einer dringenden Angelegenheit des kirchlichen Lebens um ein fachkundiges Urteil gebeten wurde. Die fast 900 Titel umfassende Bibliographie hat darum nichts von einer krampfhaften Selbstdarstellung, einem „originellen“ Ansatz (zumeist ohnehin eher prall aufgepumpten Luftschlössern).

… einander in ganz enger Brüderlichkeit verbunden. Diese soll sich spontan und freudig äußern in gegenseitiger Hilfe, geistiger wie materieller, pastoraler wie persönlicher Art, in Zusammenkünften, in der Gemeinschaft des Lebens, der Arbeit und der Liebe (LG 28).

Gelehrt und heiter

Vielmehr atmet sie wieder die Mettener Bibliotheksluft: Es gibt den großen Schatz der Kirche, der Altes und Neues, Geistliches und Weltliches verbindet und den selbstlos zur Sprache zu bringen die höchste Berufung des Theologen ist. Sprechendes Detail: Sein bescheidendes Auto trug nach dem Ortskennzeichen nicht wie oft üblich die persönlichen Initialen, sondern „LG 2878“ für „Lumen gentium“, die dogmatische Kirchenkonstitution des II. Vaticanums. LG 28 handelt vom kirchlichen Amt und sagt dann wie in einer Kurzfassung von Pater Stephans Lebensprogramm: „Kraft der Gemeinsamkeit der heiligen Weihe und Sendung sind die Priester alle einander in ganz enger Brüderlichkeit verbunden. Diese soll sich spontan und freudig äußern in gegenseitiger Hilfe, geistiger wie materieller, pastoraler wie persönlicher Art, in Zusammenkünften, in der Gemeinschaft des Lebens, der Arbeit und der Liebe.“ Und 78? 1978 trat er in die Benediktinerabtei Metten ein, die ihm zeitlebens der erste Ort dieser Brüderlichkeit wurde.

Gemeinsam nach einem anstrengenden Festessen (Foto: privat)

Denn Glaube und Weltsicht der Kirche wollte er zur Sprache bringen. Für ihre Ordnung trat er ein – dies und nicht trockene Paragraphenreiterei begründete seine Liebe zur kirchlichen Lehre und ihrem Recht. Liebe zum Recht, das hieß für ihn auch Recht als Liebe, also als eine Weise der Nächstenliebe, weil das Recht jedem zusteht. Wenn Theologen und Kirchenfürsten diese Ordnung leichtfertig verschacherten, dann konnte sich zeigen, dass unter dem sanften, lieblichen Hügelland seiner Persönlichkeit ein Vulkan schlummerte. Leidenschaft, sonst oft so inflationär gebraucht, er zeigte sie, etwa als in den ersten Wirren der Missbrauchskrise ein bischöflicher Protagonist einen Benediktinerabt zum Rücktritt drängte (P. Stephan hat sich später vor allem vorgeworfen, im entscheidenden Moment, da alles angeblich ganz schnell entschieden werden musste, sein Handy wegen eines Vortrags abgestellt zu haben) oder zuletzt als ein renommierter Theologe in einem Laiengremium behauptete: „Theologisch gesehen gibt es kein Problem mit dem Frauenpriestertum.“ Überhaupt die Bischöfe. Ein Bonmot liebte er besonders: „Aufs Ganze der Kirchengeschichte gesehen waren die Bischöfe doch bestenfalls Mittelmaß…“

Stets gerne gesehen

Bei den Personen brachte er meistens noch vergnügliches Bonusmaterial in Form von Anekdoten und Vermischten Meldungen mit. Denn der begnadete Netzwerker, geschätzte Vortragsredner und treue Besucher unzähliger einschlägiger Veranstaltungen kannte ja Unzählige aus eigener Anschauung. Er pflegte die Beziehungen, nicht selten auch echte Freundschaften. Unvergesslich ist mir ein kleiner Abstecher auf der gemeinsamen Heimfahrt nach einer Primizfeier zu einem befreundeten Priester, der uns dann zwei Stunden in vergnüglicher Verbundenheit schenkte. Dabei nutzte er die vielen Begegnungen nicht gut professoral vor allem zum eigenen Reden und Sich-Darstellen, sondern er beobachtete durch seine zeitlose Gelehrtenbrille genau sein Gegenüber, so dass ihm auch manches Menschlich-Allzumenschliche nicht entging – er wäre sicher auch ein guter Novizenmeister gewesen. Pater Stephan als Kollege, als Mitbruder, als Lehrer, als Forscher, als Priester, als Mensch oder schlicht als Genießer der kleinen Freuden, bei diesem unerschöpflichen Thema können wir uns nur wenig aufhalten. Wenn es wunderbare Gastgeber gibt, dann auch wunderbare Gäste, und Letzteres war Pater Stephan. War er dabei, dann kam mit ihm die Garantie, dass alles aufbauend, sachbezogen und heiter blieb – bis hin zum „Schmankerl“ beim Abschied, wenn man ihm in den Mantel helfen wollte: „Nein danke, das ist allein schon schwer genug!“

“Das” Spanferkel zum 60. Geburtstag

A propos Schmankerl. Als überzeugter Bayer waren Tafelfreuden für ihn nie bloße Nebensache wie bei vielen Intellektuellen, die allenfalls in der Wahl exotischer Gerichte ihre Weltläufigkeit unter Beweis stellen wollen. Nein, beinahe kindlich freute er sich an der guten Gottesgabe – unvergesslich seine leuchtenden Augen angesichts des leibhaftigen Spanferkels und (natürlich Andechser) Biers bei seinem 60. Geburtstag und dann sein Augenzwinkern mir gegenüber, dem als Vegetarier solche Köstlichkeit versagt blieb. Überhaupt sein Spaß an den kleinen Dingen – etwa als die Handys Sprache zu erkennen begannen und dabei schon einmal „Pontifikalamt“ als „bond of ants (Ameisenstaat)“ wiedergeben konnten.

Begeisterter Freizeit-Fahrradfahrer

Oder sein berühmter Fahrradhelm, den er wacker als beinahe einziger auf Münchens Straßen trug. Darauf angesprochen, wies er mit dem Finger auf ein kleines Loch daran und meinte: „Da steckt ein Stein von einer Straße bei Dresden darin. Ohne den Helm wäre er jetzt in meinem Kopf.“ Überall war er gern gesehen, gewinnend und bescheiden, kompetent, aber nicht aufdringlich. Je besser man ihn kennenlernte, umso mehr nahm man aber auch seine Freiheit des Geistes wahr – sicher eine Frucht der großen Bindung an die umfassende Ordnung. Er passte in keine Schublade und war bei allem nichts als Stephan Bernhard Haering, gläubiger Christ, überzeugter Benediktiner und bekennender Professor.

Er war unbestechlich im Urteil, und bei mancher wie mit dem Chirurgenmesser vorgenommenen Einschätzung fiel mir manchmal das Wort über die „Wäldler“ ein, also den Bewohnern des Bayerischen Waldes: „In der einen Hosentasche den Rosenkranz und in der anderen das Messer.“ Dieses Messer konnte aufblitzen, das reichte ihm schon. Richtig geführt hat er das Messer nur, wenn es darum ging, Schwache als Rechtsbeistand und Ratgeber zu verteidigen, etwa Kleriker, Ordensleute und Ordenseinrichtungen, die Opfer von Willkür und Amtsmissbrauch wurden. Dass tief unter all seiner Freundlichkeit ein feinfühliger Mensch wohnte, der Dummheit und Dreistigkeit nicht einfach wegsteckte, machte ihn nur umso sympathischer. Bei solchen Gelegenheiten ahnte man, dass er auf dem Lebensweg auch manchen Schicksalsschlag zu verarbeiten hatte, allem voran der Tod des Vaters, als er erst ein Jahr alt war.

“… Christum, et in Christum ipsum crucifixum”

Völlig überraschend verstarb Pater Stephan am 18. November 2020 in München. Er selbst hat in gläubiger Zuversicht oft und in heiterer Gelassenheit von der hora incerta gesprochen. Als ich ihn etwa noch wenige Wochen zuvor nichtsahnend darauf ansprach, ob er denn nach der Pensionierung nach Metten zurückkehren werde, antwortete er nur vielsagend: „Dafür müssen wir das Pensionierungsalter ja erst einmal erreichen…“

Jedem, der manchmal an Theologie und Kirche zu verzweifeln droht, empfehle ich eine Wallfahrt an das schlichte Grab P. Stephans im Angesicht der prachtvollen Mettener Klosterkirche und die Bitte um seine Mithilfe. Denn ich bin überzeugt, das Nein-Sagen hat er auch im Himmel noch nicht gelernt…

Würdigung

Burkhard Josef Berkmann / Elmar Güthoff / Yves Kingata / Andreas Wollbold (Hg.), „Miscens temporibus tempora“. Gedenkschrift für P. Stephan Haering OSB (1959-2020), St. Ottilien: EOS 2021.

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