George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß versehen. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius übersetzt, München u.a. 1990.

„Von realer Gegenwart (Real presences)“, das lässt den Theologen aufhorchen, ja aufschrecken. Hat er sich nicht seit Jahren alle nur erdenkliche Mühe gegeben, Realpräsenz umzudeuten und abzuschwächen („So kann man das heute nicht mehr sagen!“)? Und da kommt mit George Steiner (1929-2020) ein Literaturwissenschaftler, also ein Nicht-Theologe, daher mit einem „sakramentale[n] Aussageversuch“ (283). Er stellt die These über sein Buch, „daß jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß“ (13). Einfacher gesagt (und das ist von der ersten bis zur letzten Seite als Verstehensübung dieses überaus dicht und anspielungsreich geschriebenen Buches dringend zu empfehlen), Sprache, Bilder und Musik sprechen an, weil in ihnen Gott nahe ist, der letzte und tiefste Sinn aller Wirklichkeit.

Ein sakramentaler Aussageversuch

Sie haben – und das ist die eigentliche Spitze dieses Essays – Bedeutung nicht deshalb, weil Menschen etwas mit ihnen machen, sie gebrauchen, kommentieren und sich irgendetwas dabei denken, sondern ihr Sinn liegt dem Hörer und Betrachter immer schon voraus, er ist größer und tiefer als aller Kommentar. Das gilt ganz besonders von Kunst. Die These richtet ihre Speerspitze gegen das bloße Gerede, den „Tenor hohler Geschäftigkeit“ (17), den gewaltigen Interpretationsbetrieb der Wissenschaften und Kulturszenen, bei denen bisweilen Text, Bild oder Stück nur noch Anlass zu Gedankengeklingel wird, zu Kunstkritik und Rezension, zu Tagung und Fachzeitschrift und, und, und… „Ich habe Angst vor einer Kultur, wo wir den ganzen Tag Rezensionen lesen und keine Bücher, wo wir im Fernsehen immer mehr Bilder anschauen und immer weniger Zeit haben, Texte zu lesen“, meinte George Steiner einmal.[1] In seinem Buch wird er an dieser Stelle richtig scharf: All das ist bloß sekundäre Welt, es ist „die Vorherrschaft des Sekundären und Parasitären“ (18), denn es saugt das Werk zur Selbstdarstellung aus, anstatt es selbst erstrahlen zu lassen. Denn die Bedeutung eines Textes oder Kunstwerkes bemisst sich nicht daran, welches Ranking ein Gelehrter im Quotation Index einnimmt. Sondern? Aufgabe von Interpretation ist es, die Sinnfülle eines Werkes wahrzunehmen, sich geradezu vor ihm zu verbeugen und sich in „Verantwortlichkeit“ (20), Liebhaberei (23), Höflichkeit („cortesia“, ein Schlüsselbegriff Steiners!) wie vor einem Größeren zu verneigen, vor seinem „Mysterium“ (31) und seiner „Transzendenz“ (262).

Ein kleiner Meister-Leser

Bleibt also nur ein mystisches Geraune jenseits überprüfbarer Maßstäbe? Ganz und gar nicht, und das ist bei der stupenden Bildung des Autors, der Lehrstühle in Genf, Cambridge und Oxford innegehabt hat, auch gar nicht zu erwarten, der sich selbst einmal als „einen kleinen Meister-Leser (maître en lecture)“[2] bezeichnet hat. Wohl aber enthält ein großes Werk für ihn eine Evidenz, also noch vor allem Sprechen über ein Wahrnehmen von einer „ganz und gar greifbaren Daseinsenergie, die unseren Sinnen und unserer Reflexion das wenige vermittelt, war wir vom nackten Wunder des Lebens fassen können“ (283). Wieder einfacher gesagt: Im Werk „schimmert etwas durch“ (294). Vor der Analyse also die Ehrfurcht vor dem, was da ist und sich von sich aus zeigt. Steiner lehrt darum einen hohen Respekt vor dem Eigenen, Anderen von Text und Kunstwerk. In der Begegnung mit ihm geschieht der metaphysisch-religiöse „Eintritt des Mysteriums der Andersheit von Kunst und Musik in unser Leben“ (235; „die nicht reduzierbare Autonomie der Gegenwart, der ‚Andersheit‘ in Kunst und Text“, 280). „Die ‚Andersheit‘, die in uns eintritt, macht uns anders“ (248). Diese Andersheit beruht letztlich darauf, dass Kunst den Schöpfungsakt Gottes nachahmt, dass sie den „Traum vom absoluten Sprung aus dem Nichts“ verkörpert (264; der Dichter als „ein anderer Gott“ in der Renaissance, 273), „angerührt vom Feuer und vom Eis Gottes“ (291). Besser als jede Theorie drückt dies die sprechende Episode Robert Schumanns aus. Als er um die Interpretation einer schwierigen Etüde gebeten wurde, setzte er sich einfach ans Klavier und spielte sie ein zweites Mal (34).

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Steiners Lieblingsgegner sind die Dekonstruktivisten, die den innewohnenden Sinn eines Textes niederreißen. Denn erst wenn dieser keine bestimmte Bedeutung hat, bleibe der Interpret frei. Doch dreißig Jahre später gelesen, ist die Aktualität von „Von realer Gegenwart“ viel umfassender. Internet, soziale Medien, ständige und allgegenwärtige Kommentare und Bildung virtueller Meinungsblasen haben die „sekundäre Stadt“ (11), die an die Stelle von Realität eine in sich selbst kreisende, selbstbezügliche Kommunikation stellt, hundertfach wuchern lassen. Bedeutung hat in ihr nur, was gelinkt, geliked und geteilt wird – Inflation und Entwertung als Quintessenz der Gegenwart (71). Was für ein Irr-Sinn! Man spiele nur einmal Steiners Gedankenexperiment durch, nach dem jedes Sprechen über etwas aus der Öffentlichkeit verbannt wäre und an seiner Stelle ein beständiges Sich-Einlassen auf das stünde, was große Texte von sich aus zu sagen haben. Dass dagegen die Herrschaft des Sekundären letztlich nihilistisch ist (alles über alles reden, 77), dass es die Quelle echten Sinns in Gott so sehr verschließt, dass die Menschen gar nicht mehr merken, was ihnen fehlt, dafür steht Steiners Essay geradezu als prophetisches Zeugnis. Wie alle Propheten hat er heftige Kritik für „Real presences“ einstecken müssen, die aber allesamt seine Analyse der Dominanz des Sekundären selbst wohl eher unter Beweis stellt als widerlegt. Im Mittelpunkt seiner Kritik steht die Mahnung im Sinn der alttestamentlichen Propheten, unsere Kultur habe den Vertrag zwischen Wort und Wirklichkeit gebrochen (Kap. 2, so 124; Steiner nennt auf S. 127 für diesen Bruch den Zeitraum zwischen 1870 und 1940, Letzteres übrigens das Jahr der Emigration seiner Familie von Paris nach New York): Die Welt hat sich eingerichtet, „ohne einen anfänglichen Akt des Vertrauens, des Zutrauens“ zu leben (123). Im Gegensatz dazu besteht sein Buch zu großen Stücken aus Wanderungen durch die Welt der Literatur und Kunst, voll Bewunderung und Dankbarkeit für das darin Erkannte – George Steiner ist damit selbst der beste Zeuge für seine These. Als gewöhnlicher Kunstbanause wird man über das Gesagte oft nur staunen können, und seine tausend Hinweise auf großen Lesestoff lassen den beneiden, der Steiner gerade an der Schwelle zum Ruhestand lesen darf. Dadurch sind seine Seiten allerdings eine nicht gerade leichte Lektüre – auch dies ist ein Dokument seines hohen Ethos der Begegnung mit dem Anderen eines Textes. Doch zwischendrin wird man immer wieder von überaus treffenden Bemerkungen belohnt, etwa angesichts des Florettstichs gegen die Mode der Vernetzungen und Kooperationen: „[…] welches lesenswerte Buch nach dem Pentateuch wurde schon von einem Komitee geschrieben?“(56), oder als geradezu mystische Beschreibung der philologischen, texttreuen Auslegung als „Tanz des Geistes vor der halb geschlossenen, aber strahlenden Bundeslade der Schrift“ (62).

ein anfängliche[r] Akt des Vertrauens, des Zutrauens

All das ist einem redlichen Theologen in der Tat vertraut: die Gefahr, über Gott zu reden, ja so zu quasseln, als wäre er ein beliebiges Objekt, ohne Ehrfurcht und Scheu, vor allem ohne die Demut, ihn selbst möglichst unverstellt erscheinen zu lassen, und stattdessen ihm hineinzureden, sich selbst auf seine Kosten herauszustellen, Monographien und Artikel, Projekte und Symposien am laufenden Band zu produzieren, die die eigene Persönlichkeit profilieren, für die aber das Dasein Gottes im Grunde überflüssig ist. Das gilt für die ganze Theologie, wird aber nirgendwo augenscheinlicher als in der Exegese. Im Nu wird das biblische Wort überlagert von tausend Gescheitheiten, Kontexten und Ansätzen, wird es auf der Streckbank gedehnt und gezerrt, bis es exakt das ausspuckt, was man von ihm hören will. Steiners Weg ist dagegen ein philologischer: hundertmal das Wort selbst lesen und wiederlesen, es ergründen, es durchaus auch analysieren (allerdings „pragmatischer, anonymer Art“, 17), sich am Ende aber von seinem unerschöpflichen Reichtum überwältigen lassen.

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[…] daß ein ‚Vergessen‘ der Frage nach Gott der springende Punkt jetzt im Entstehen begriffener Kulturen sein wird

Steiner verkörpert auch persönlich beste jüdische Tradition der Liebe zum Wort Gottes in der Tradition des jüdischen Religionshistorikers und Mystikforschers Gershom Scholem.  Überhaupt hat das jüdische und christliche Schriftauslegung in ihren besten Zeiten immer gewusst, etwa bei den christlichen Kirchenvätern, für die der Buchstabe des Schriftwortes den Leib des göttlichen Wortes darstellte. Wie ein menschlicher Leib vergegenwärtigt er darum den Sohn Gottes, trägt den fleischgewordenen Logos in sich. Steiner spricht hier vom „Quantensprung zwischen dem Charakter als Buchstaben und dem Charakter als Gegenwart“ (277). Diese Gegenwart ist sogar größer als der Autor, so dass es zu Bedeutungen im Text kommt, „die weder bewußt gewollt sind noch bewußt verstanden werden“ – hier liegt der Schritt zum „sensus plenior“ der kirchlichen Schriftauslegung nahe. Steiners Essay macht der Theologie Mut, das Zeugnis für Gott in die Mitte zu stellen – wohlgemerkt nicht als saturiertes „Haben wir also doch recht, Steiner hat es doch gesagt“, sondern als Wissen darum, dass die Suche nach Gott im Herzen aller Kultur steht und deshalb niemals obsolet werden kann. „Es kann durchaus sein, daß ein ‚Vergessen‘ der Frage nach Gott der springende Punkt jetzt im Entstehen begriffener Kulturen sein wird“ (300). Ob aus diesem Vergessen auch das schmerzhafte Fehlen echter Kreativität, echter „poiesis in unserem individuellen Leben und in der Politik unseres Gesellschaftswesens“ rührt (39, vgl. 272), kurz die Vorherrschaft der Stupidität und der Vorhersehbarkeit in privaten Beziehungen ebenso wie in den großen Weltfragen? Ob daraus nicht auch die derzeitige Obsession mit der Einebnung von Ungleichheit resultiert? Denn nach Steiner sucht „der Egalitarismus, das Überragende zu domestizieren“ (51). D.h. es darf nichts Herausragendes, Maßgebliches, Einzigartiges geben, geschweige denn Auserwählung, Heiligkeit und Einzigkeit, stattdessen „die Relativierung des Absoluten“ (67). Wo ist der Theologe, der diesen Ball aufgreift zu einer umfassenden Zeitkritik?


[1] Michael Jakob, Aussichten des Denkens. Gespräche mit Emmanuel Lévinas, George Steiner, Jean Starobinski, Cioran, Michel Serres, René Girard, Pierre Klossowski, André DuBouchet, Paul Virilio, München 1994, 211.

[2] Ebd. 201.

Ein Gedanke zu „George Steiner

  1. „Die These richtet ihre Speerspitze gegen das bloße Gerede, den „Tenor hohler Geschäftigkeit“ (17), den gewaltigen Interpretationsbetrieb der Wissenschaften und Kulturszenen, bei denen bisweilen Text, Bild oder Stück nur noch Anlass zu Gedankengeklingel wird, zu Kunstkritik und Rezension, zu Tagung und Fachzeitschrift und, und, und…“ Nebenbei erinnert mich das an das gigantische, sich selbst reproduzierende, alles vereinnahmende, außerhalb der eigenen „Krieg-gegen-das-Virus“-Blase nichts Hoffnungsvolles wahrnehmende Angst-Geklingel des letzten Jahres. Man sollte aber immer vorsichtig sein, anderen Oberflächlichkeit zu unterstellen. So ist der spannende Text zu Steiner eher eine Aufforderung an mich selbst, hinzuhören und mich in Ruhe, meditativ auf einen Text oder ein Kunstwerk einzulassen. (Gerade wieder Nina Simone, die meine Gefühle während dieses Horror-Jahres am besten ausdrückt: Widerstand und Ergebung.)

    Hier wieder einmal mein Lieblingszitat aus Wolfram Eilenbergers genau wahrnehmendem Buch „Zeit der Zauberer“ zu Wittgenstein, Heidegger, Benjamin und Cassirer: „Die ideale, durch eine unendliche Anzahl feinhöriger Übersetzungsleistungen angereicherte ‚wahre Sprache‘ wäre für Benjamin eine Art Monade, in der sich jeder mögliche Aspekt der Welt in maximaler Schärfe und Präzision zu spielgeln vermöchte.“ (S. 122) Damit verbunden ist sein jüdischer Messianismus, den er sicher mit Steiner teilt.

    Nicht streiten will ich hier, ob man für eine solche „Achtsamkeit“ und kommunikative „Schwarmintelligenz“ oder Charles Peirce’s Konsens der Forschergemeinschaft „in the long run“ Gott annehmen muss, wie sich Steiners Ernstnehmen von Sprache und Kultur in ihrer Andersheit mit einem Respekt vor Subjektivität, einem gesellschaftlichen Verstehenshorizont, vor den Grenzen von Sprache versöhnen lässt. Es ist eben eine Frage des Glaubens. Die persönliche Haltung der Wahrhaftigkeit sagt mir mehr als absolute, wenn auch verborgene Wahrheit.

    „Ob aus diesem Vergessen auch das schmerzhafte Fehlen echter Kreativität, echter ,poiesis in unserem individuellen Leben und in der Politik unseres Gesellschaftswesens‘ rührt (39, vgl. 272), kurz die Vorherrschaft der Stupidität und der Vorhersehbarkeit in privaten Beziehungen ebenso wie in den großen Weltfragen?“ Ein sehr wichtiger Denk- und Lebensanstoß!

    „Ob daraus nicht auch die derzeitige Obsession mit der Einebnung von Ungleichheit resultiert?“ Das verstehe ich nicht. Die Einsamkeit der Künstlerin war schon immer sprichwörtlich, aber manchmal trifft er eben doch den „Nerv der Zeit“. Gesellschaftliche Anerkennung gibt es nicht nur für den schwätzenden, Musil’schen „Großschriftsteller“. „Einebnung von Ungleichheit“ ist aber ein Problem im Sinn der Intoleranz – „Vertrauen Sie nur den offiziellen Informationen“, von einer Mehrheit reproduziert bis hin zur Denunziation. Boris Reitschuster, ein klarsichtiger, selbst als „Rechter“ und „Verschwörungstheoretiker“ (eine oft inhaltsleere, „in sich selbst kreisende, selbstbezügliche Kommunikation“) verschrieener Journalist, hat in einem prophetisch zugespitzten Artikel dazu geschrieben: „Dass eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte sein muss, Menschen mit anderen Meinungen nicht auszugrenzen, nicht zu diffamieren, sondern sie in den demokratischen Diskurs einzubinden.“ [https://reitschuster.de/post/corona-der-spaete-triumph-des-totalitaeren/]

    „Einebnung von Ungleichheit“ mag also auch ein persönliches Problem sein, vorrangig aber ein soziales und politisches. Das große soziale Problem ist jedoch gerade die Einebnung oder Überwindung der wieder gewachsenen wirtschaftliche und machtpolitische Ungleichheit.

    Zum Schluss noch etwas freundlicheres: „Als er um die Interpretation einer schwierigen Etüde gebeten wurde, setzte er sich einfach ans Klavier und spielte sie ein zweites Mal.“ – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ (von wem wohl…).

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