George Steiner

George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß versehen. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius übersetzt, München u.a. 1990.

„Von realer Gegenwart (Real presences)“, das lässt den Theologen aufhorchen, ja aufschrecken. Hat er sich nicht seit Jahren alle nur erdenkliche Mühe gegeben, Realpräsenz umzudeuten und abzuschwächen („So kann man das heute nicht mehr sagen!“)? Und da kommt mit George Steiner (1929-2020) ein Literaturwissenschaftler, also ein Nicht-Theologe, daher mit einem „sakramentale[n] Aussageversuch“ (283). Er stellt die These über sein Buch, „daß jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß“ (13). Einfacher gesagt (und das ist von der ersten bis zur letzten Seite als Verstehensübung dieses überaus dicht und anspielungsreich geschriebenen Buches dringend zu empfehlen), Sprache, Bilder und Musik sprechen an, weil in ihnen Gott nahe ist, der letzte und tiefste Sinn aller Wirklichkeit. Weiterlesen

Rudolf Otto, Das Heilige

Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 31. bis 35. Auflage, München 1963

Die Eingebung zu diesem seinem berühmtesten Werk ist dem evangelischen Theologen Rudolf Otto (1869–1937) nach eigener Aussage in einer armseligen Synagoge Marokkos gekommen. Da wurde das Trishagion, der Gesang auf den heiligen Gott, angestimmt, und mit diesem Aufblick zum allheiligen Gott war der Ganz Andere da und alle irdische Niedrigkeit vergessen. Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“ von 1917 (kurz nach seinem Wechsel nach Marburg) ist ein Klassiker der Religionswissenschaft, und das zurecht, denn man sollte seine 200 Seiten gelesen haben und beim Stichwort Otto nicht nur die Kurzformel im Kopf haben: Das Heilige = das „mysterium tremendum et fascinosum“. Weiterlesen

Theodor Haecker (1879-1945)

Theodor Haecker, Vergil. Vater des Abendlandes, Bonn 1933

„Seine Worte fallen langsam wie Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung hinein mit ganz besonderem Gewicht fallen. Er hat ein sehr stilles Gesicht, einen Blick, als sähe er nach innen. Es hat mich noch niemand so mit seinem Antlitz überzeugt wie er.“ Mit diesen Worten erinnert sich Sophie Scholl an den ersten Vortrag Theodor Haeckers (1879 – 1945) vor einer ausgewählten Gruppe von Münchener Studenten ausgangs des Sommersemesters. Das war am 10. Juli 1942, im Atelier des Architekten Manfred Eickemeyer in der Leopoldstraße, nur einige hundert Meter vom Hauptgebäude der Universität, an jenem Platz, der heute den Namen der Geschwister Scholl trägt. Es folgten weitere Zusammenkünfte, so auch am 4. Februar 1943. Hans Scholl verfasste das vierte (apokalyptische) Flugblatt der Weißen Rose wohl unter dem Eindruck dieser Lesung Haeckers vom 10. Juli 1942 zwei Tage später. Weiterlesen

Adalbert Stifter (1805-1868)

Adalbert Stifter, Bunte Steine. Vorrede

in: Gesammelte Erzählungen in drei Bänden. Bd. 1, Leipzig 1954, 1-8

„Spielereien für junge Herzen“

1853 arbeitete der böhmisch-österreichische Dichter Adalbert Stifter (1805-1868) an einer kleinen Neuausgabe von sechs seiner Erzählungen, die er allesamt mit Namen von Steinen umbenannte: Granit, Kalkstein und Turmalin (Band 1) sowie Bergkristall, Katzensilber und Bergmilch (Band 2). Dazu verfasste er im Herbst 1852 ein Vorwort, das zu einem seiner bekanntesten Texte avancierte. Gelegentlich findet es sogar den Weg bis in die Schule. Doch wie immer arbeitete Stifter minutiös an jedem Wort, und so muss man auch seine Vorrede mit großer Liebe zum Detail lesen, sonst wird man sie missverstehen. Weiterlesen

Thomas Mann

Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen

Nachwort von Hanno Helbling (= Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe. Hg. von Peter de Mendelssohn), Frankfurt a. M. 1983.

Thomas Mann 1926 (Quelle: wikicommons)

Thomas Manns bedeutendstes Werk ist es nicht, was da 1918 bald nach dem Waffenstillstand erschien, erst recht nicht sein schönstes. Wahrscheinlich aber sein umstrittenstes, was angesichts des Themas, der politisch-kulturellen Standortbestimmung seiner selbst und Deutschlands im Krieg, beinahe unvermeidlich war. Und dass er immer wieder spitze Attacken gegen Demokratie, Pazifismus und Fortschritt reitet und dass er den Deutschen eine unüberwindliche Aversion gegen die Demokratie attestiert (30), macht seine Sache sicher nicht besser. Seine politische Position hat er bekanntlich bereits 1922 in „Von deutscher Republik“ deutlich revidiert, und abgeklärter sind sie zweifellos in seinen Rundfunkansprachen „Deutsche Hörer!“ (1945), seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“ (1945) oder im „Doktor Faustus“ (1947), und schon die „Betrachtungen“ ergründen Seiten in seiner eigenen Persönlichkeit, die dem Fortschritt zur Demokratie durchaus Nahrung geben könnten (vgl. 40). Weiterlesen