Auf der Suche nach einem Kreuz, so könnte man das diesjährige Osterrätsel betiteln. Tatsächlich ist auch eine stattliche Zahl von Rätselfreunden fündig geworden, und zwar allesamt mit richtigen Einsendungen. Daraus wird demnächst der Gewinner oder die Gewinnerin ermittelt. Ihnen winkt der „Guibert“, also unsere Textsammlung mit lehramtlichen Dokumenten zum geistlichen Leben. Das ist also eine Art „Denzinger der Spiritualität“. Viel Glück bei der Auslosung!

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Was aber ist nun das gesuchte Kreuz? Es ist das „Volto Santo“, das heilige Antlitz von Lucca. Es befindet sich in der Kathedrale dieser schönen, auch sonst sehenswerten norditalienischen Stadt und ist seit Jahrhunderten hochverehrt. „Lucca“ war also das Lösungswort. Das Kreuz wurde etwa 800 aus Nussbaumholz gefertigt. Nach einem uralten Brauch ist der Heiland hier mit einem hoheitlichen Gewand bekleidet, einer Tunika (also in der Art der Albe und des Zingulums des Priesters). Denn er soll den Gläubigen als Sieger am Kreuz vor Augen gestellt werden: „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Hoffnung, im Kreuz ist Leben.“ Diese Darstellungsform von Lucca hat die Kreuzkunst und-frömmigkeit in halb Europa beeinflusst. Dadurch, dass es Teile des Kreuzes Christi und der Dornenkrone enthält, ist es in den Augen der Frommen noch bedeutungsvoller geworden. In Blüte kam die Verehrung nach der Jahrtausendwende. Die Legende von Nikodemus als Urheber des Kreuzes, nach der Engel das Bildnis nach dem wahren Antlitz Jesu vollendeten, hat sicher zur Popularität noch wesentlich beigetragen.
Es ist eine große Wallfahrt um dieses „Volto Santo“ entstanden. Sie wurde auch dadurch beflügelt, dass Lucca an der großen Pilgerstraße von Norden nach Rom liegt. So haben die meisten Pilger aus Deutschland und der Schweiz es auf ihrem Weg in die Ewige Stadt verehrt. Doch auch in Lucca selbst genießt es größte Verehrung (vielleicht auch weil man wissen will, dass man es einst der Hafenstadt Luni „abgeluchst“ hat.) Diese Verehrung zeigt sich nicht nur an den Betern, die immer wieder still vor ihm knien und ihre Anliegen vor das Antlitz des Herrn tragen. Der 14. September, also das Fest Kreuzerhöhung, ist auch das Stadtfest von Lucca geworden. An diesem Tag gibt es eine feierliche abendliche Prozession, auch wenn heute das „Volto Santo“ aus denkmalschützerischen Gründen nicht mehr selbst mitgetragen werden kann. Besonders charakteristisch sind die unzähligen Kerzen und Leuchter in den Hausmauern, an denen der Prozessionsweg vorüberführt. Am Ende gibt es dann ein prächtiges Feuerwerk.
Wer waren die beiden Dichter, auf die im Rätsel angespielt wurde? Der „deutscher Dichter der Romantik, der die Lorelei besungen, beim Gedanken an Deutschland allerdings um seinen wohlverdienten Nachtschlaf gebracht wurde“, ist natürlich Heinrich Heine, der im Pariser Exil dichtete: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht, / Ich kann nicht mehr die Augen schließen,/ Und meine heißen Tränen fließen.“ Was er im 5. Kapitel von „Die Stadt Lucca“ über die Prozession schreibt, könnte so manch einem Neuheiden, der irgendwo in der Welt auf echte Volksfrömmigkeit stößt, entstammen und erledigt sich dadurch von selbst. Doch zu seiner Ehrenrettung sei gesagt: Er wusste auch darum, wie wohlfeil seine Kritik ist. Und so kommt es wenig später zu einer bemerkenswerten Beobachtung (an die sich übrigens einige scharfe, aber auch kluge Bemerkungen zum Aussehen und Auftreten katholischer Priester anschließen):
„Ich weiß nicht, ob der Mönch, der mir unfern Lucca begegnete, ein frommer Mann ist. Aber ich weiß, sein alter Leib steckt arm und nackt in einer groben Kutte, jahraus, jahrein; die zerrissenen Sandalen können seine bloßen Füße nicht genug schützen, wenn er, durch Dorn und Gestrippe, die Felsen hinaufklimmt, um droben in den Bergdörfern Kranke zu trösten oder Kinder beten zu lehren; – und er ist zufrieden, wenn man ihm dafür ein Stückchen Brot in den Sack steckt und ihm ein bißchen Stroh gibt, um darauf zu schlafen. ‚Gegen den Mann will ich nicht schreiben‘, sprach ich zu mir selbst. ‚Wenn ich wieder zu Hause in Deutschland, auf meinem Lehnsessel, am knisternden Öfchen, bei einer behaglichen Tasse Tee, wohlgenährt und warm sitze und gegen die katholischen Pfaffen schreibe – gegen den Mann will ich nicht schreiben.‘“ (Die Stadt Lucca, Kap. 4).
Und am Ende seiner bissigen Satire auf die Prozession reißt er sich selbst am Riemen:
„Ach! man sollte eigentlich gegen niemanden in dieser Welt schreiben. Jeder ist selbst krank genug in diesem großen Lazarett, und manche polemische Lektüre erinnert mich unwillkürlich an ein widerwärtiges Gezänk in einem kleineren Lazarett zu Krakau, wobei ich mich als zufälliger Zuschauer befand und wo entsetzlich anzuhören war, wie die Kranken sich einander ihre Gebrechen spottend vorrechneten, wie ausgedörrte Schwindsüchtige den aufgeschwollenen Wassersüchtling verhöhnten, wie der eine lachte über den Nasenkrebs des andern und dieser wieder über Maulsperre und Augenverdrehung seiner Nachbaren, bis am Ende die Fiebertollen nackt aus den Betten sprangen und den andern Kranken die Decken und Laken von den wunden Leibern rissen und nichts als scheußliches Elend und Verstümmlung zu sehen war.“
Genug der Literatur! Wie viele Menschen ihr Leiden vor die Hoheit des „Volto Santo“ getragen haben, weiß nur Er allein. Dadurch bleibt es eines der ganz bedeutenden Gnadenbilder der Christenheit, und eine Wallfahrt oder auch nur ein Besuch gelegentlich eines Toskana-Urlaubs lässt nicht unbewegt zurück.

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