„Von hinten ist man näher dran“, riet ein erfahrener Klosterbesucher und meinte damit die Teilnahme am Chorgebet, für die Benediktiner der Beuroner Kongregation wie hier in Tholey wahrhaftig ein heiliges Tun. Und Heiligkeit verlangt nach Distanz. So zog ich mich seit dem ersten Mal ganz nach hinten ins Kirchenschiff zurück, schon beinahe unter die Orgelempore, und ließ den Psalmengesang in der schnörkellosen gotischen Kirche hin und her hallen zwischen den beiden Seiten des Chorgestühls. Worte verstand ich kaum, dafür hörte ich den Atem der laus perennis, des unablässigen Lobes, dem diese kleine Kommunität ihr Leben geweiht hatte.
Zum ersten Mal besuchte ich diese Abtei mit Vierzehn. Das war über die Kartage, und der heilige Ernst, die rituelle Ordnung, das treue Schweigen selbst auf dem Flur und im Kreuzgang und die Liturgie mit dem von mystischer Kargheit geprägten „Christus factus est“ erschlossen mir eine andere Welt. Ich kam ja aus einer eben erst gegründeten Nachkonzilspfarrei mit vielen Aktivitäten und wohl auch Aktivismus, gottesdienstlichen Lesungen aus der Heiligen Schrift nach Bert Brecht und Dorothee Sölle und einem Ministrantendienst, der sich die alljährliche Fahrt hauptsächlich mit unbeteiligtem Herumsitzen während der Messe verdiente. Hier dagegen war alles Gottesdienst, selbst das sachte Zurückstellen von Teller, Besteck und Viezkrug beim Essen.
Das persönliche Angesicht des Konvents, der ansonsten für mich im Schwarz des Habits, gesenkten Blicken und genau geregelten Betätigungen versank, war der Gastpater, P. Benedikt Hermesdorff. Seit 1949 war er in Tholey und damit ein Mann der ersten Stunde bei der Wiederbesiedelung nach dem Krieg. Nicht nur dass er mir half, mich in den Zeiten und Bräuchen zurechtzufinden, er erschloss mir auch den Sinn ihres Tuns, besonders dieser Kartage. Auch bei späteren Besuchen kam er gern zum geistlichen Gespräch auf mein Zimmer, dies aber stets mit der seltenen Begabung, immer gerade recht und niemals aufdringlich oder ungelegen zu erscheinen. Ein vollendeter Benediktiner (bis dazu hin, dass er in viel späteren Jahren völlig diskret blieb, was das Innenleben der Kommunität anging), war er zugleich ein vollkommenes Kind Gottes. Stets heiter, unbeschwert noch in Sorgen, reinen Herzens und arglos wie die Tauben, hatte er die Gabe, die Kräfte des Guten im Anderen wachzurufen, zu stärken und das Vertrauen in sie wachsen zu lassen. Als munterer Rheinländer aus Koblenz hüpfte er im Gespräch manchmal von Stöckchen zu Stöckchen, was aber nur darin bestärkte, all das Besprochene auch wieder nicht zu wichtig zu nehmen, solange man nur betend in der Hand des himmlischen Vaters ruhte.
Der Höhepunkt unseres Verhältnisses aber spielte nicht in der Abtei, sondern in Rom. Vater Abt hatte ihm die Teilnahme an meiner Priesterweihe ermöglicht, und er genoss die Tage inmitten meiner Gäste in vollen Zügen. Unter meinen Pfarrangehörigen war er der Star, wenn er, der hochgeschlossene, hagere, heitere Pater ganz in Schwarz, sich unter sie mischte, sie köstlich unterhielt mit einem unerschöpflichen Repertoire an Anekdoten und wohl auch Witzen, nur um sich dann plötzlich zu erheben und sich zurückzuziehen, um das Pensum seines Offiziums zu erfüllen. Ein Bild meiner Weihe hing bis zuletzt in seiner Zelle.
In seinen späten Jahren holten ihn die Gebrechen ein, und sie brachten gleich auch noch einen Verfall der geistigen Kräfte. Nicht gelang es ihnen jedoch, seinen Geist zu brechen, der bei meinem letzten Besuch kurz vor seinem Tod nur noch kindlicher, einfacher, vertrauensvoller wurde – und dies zufällig gerade an dem bitteren Tag, da er den Konvent für ein Altersheim verlassen musste, das allein die Pflege sicherstellen konnte. Gestorben ist er im Alter von 87 Jahren am 22. Februar 2011, fast am gleichen Tag wie meine Mutter, und gerne stelle ich mir vor, wie ihr in seiner Begleitung die Reise in die ewige Wohnstatt kurz wurde.