Sehen Sie, Herr Wollbold

Unser erstes Gespräch bestand aus einem Missverständnis und endete mit einem schlechten Gewissen. P. Becker war als deutscher Dogmatiker an der Gregoriana gleichzeitig Vertrauensdozent einer deutschen Studienstiftung, die so freundlich war, mein Studium zu finanzieren. So durfte ich in meinem ersten römischen Semester 1979 zu einem Antrittsbesuch in seinem Zimmer im Palazzo Frascara schräg gegenüber dem Hauptgebäude dieser ehrwürdigen Jesuitenhochschule erscheinen. Ich wollte ihm berichten, dass ich mich zusammen mit einem übrigens deutlich begabteren Seminaristen an einer Musikschule eingeschrieben hatte. Ob aber mein zartes Alter es schuld war, die fama des Strengen, Unbestechlichen oder einfach seine respektgebietende Erscheinung, ich war ein wenig eingeschüchtert – und beging prompt einen fatalen Fehler. Irgendwie geriet mir meine Darstellung so, als sei diese musikalische Ausbildung nur ein Plan und nicht schon beschlossene Sache. In dem Maß aber, wie er nun dagegenredete und mit vielen unwiderleglichen Argumenten – man vergesse nicht, er war Jesuitendogmatiker der alten Schule! – davon abriet, verließ mich vollends der Mut, das Missverständnis aufzuklären. Irgendwann war er selbst dahintergekommen, und man brauchte weder Alter noch Menschenkenntnis, um hinter seiner vollkommenen Selbstbeherrschung eine leichte Verstimmung vermuten zu dürfen.

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Kardinalswappen von Karl-Josef Becker: „Quaerere Deum in omnibus – Gott suchen in allem“

Becker, ein Mann unbezweifelbarer Autorität, gerade weil er so gar kein Aufhebens von seiner Person machte. „Quasi se negliens – als wenn er sich selbst übersähe“, dieses Wort über den hl. Ignatius hätte bestens auch auf seinen Jünger aus Köln gepasst. Aus Köln, ja, das war unüberhörbar, selbst wenn er italienisch sprach. Denn die Domstadt am Rhein ist ja bekanntlich das einzige Fleckchen deutscher Erde, in dem das römische Erbe nicht nur in einigen rätselhaften Trümmern sichtbar, sondern auch in der Sprache hörbar wird: Dermaßen zeichnet sich Kölsch durch den romanischen Singsang aus, dass man sich augenblicklich in das Land versetzt fühlt, wo die Zitronen blühen. So dass P. Becker in Rom also richtig zuhause sein musste. Quod erat demonstrandum. Auch wenn er jedes Jahr im Sommer in einer bayerischen Pfarrei Aushilfe machte. Ebenso besaß er Kölner Art – nein, sicher nicht im Karnevalistischen, auch wenn ihm in späten Jahren ein hoher Karnevalsorden verliehen wurde. Er war ein heiterer Mensch, vielleicht gerade weil er so sachlich war und zumindest erkennbar nichts Persönliches offenbarte. „Sehen Sie, Herr Wollbold“, begann er etwa stets einen Rat, der aus besagten Gründen eher wie eine Anweisung ankam, doch er lächelte dabei mit kaum verhohlener Ironie, was soviel bedeutete wie: „Ich durchschaue das alles. Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Aber es macht ja nichts.“

Man kann sich leicht vorstellen, dass eine solche Art, verbunden mit eher schlechten Zensuren, ihm nicht den besten Ruf als Prüfer eingetragen hatte, besonders bei den Germanikern. Diese hatten neben dem verletzten Stolz noch einen besonderen Grund, P. Becker vielleicht zu schätzen, aber nicht zu lieben: Er hatte keinen theologischen „Ansatz“. Er hatte also nicht den einen Leisten, über den er die gesamte Gottesgelehrsamkeit geschlagen hätte: Transzendentaltheologie, Personalismus, Marxismus oder sonst etwas Exquisites.

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Kardinal Becker (Bild: Susanne Dedden)

Erst viel später habe ich begriffen, dass ein solches Verdikt ihn in der theologischen Innung seines Heimatlandes mit einem Schlag zu einem No-go gemacht hatte. Man diskutierte seine Argumente nicht, zitierte sie allenfalls wie ein Ufer, von dem man den Kahn des theologischen Fortschritts wegdrücken konnte. Seine luziden Analysen des „subsistit“ aus „Lumen Gentium“ 8 etwa änderten nichts daran, wie dieser Begriff bis heute als Selbstrelativierung der katholischen Kirche verstanden wird. Hätte ich ihn darauf angesprochen, dass er nördlich der Alpen einfach ignoriert wurde, hätte er wahrscheinlich wieder lächelnd geantwortet: „Sehen Sie, Herr Wollbold“, und dann vielleicht nach einer kurzen Denkpause hinzugefügt: „Sie haben meinen Beitrag zum ‚subsistit‘zur Kenntnis genommen, und Sie leben doch auch jenseits der großen Berge…“ Wieder eines von seinen unwiderlegbaren Argumenten. Und dann hätte er sich gleich wieder an seine Arbeit gemacht. Z.B. die diskrete Durchführung von Promotionen ostdeutscher Theologen in DDR-Zeiten über die Gregoriana, von denen ich erst Jahre später in Erfurt erfuhr.

Ein teutonischer Theologe ganz anderen Kalibers hat ihn mehr als nur zur Kenntnis genommen, der beinahe gleichaltrige Joseph Ratzinger. Vielleicht hat der Präfekt der Glaubenskongregation an ihm besonders das Scholastische bewundert, die Präzision des Begriffs, die dem späteren Papst den Rücken freihielt für seine beinahe poetischen Entwürfe. Gelohnt hat er’s ihm mit dem Kardinalat. Im Gehorsam hat es P. Becker angenommen, auf die Bischofsweihe jedoch verzichtet – theologisch ganz korrekt und praktisch klug, denn die vielen Pontifikalhandlungen hätten ihn ja doch nur von ernsthafter Arbeit abgehalten…

Karl-Josef Becker stammte aus Köln, trat 1948 bei den Jesuiten ein und wurde 1958 zum Priester geweiht. Nach einer Lehrtätigkeit in St. Georgen wirkte er ab 1969 als Dogmatiker an der Gregoriana in Rom. Seine Forschungsschwerpunkte lagen in der Sakramententheologie und Gnadenlehre um Trient, außerdem in der Interpretation des II. Vaticanums. 2012 wurde er zum Kardinal kreiert.

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