Adam Heinrich Müller, Von der Nothwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesammten Staatswissenschaften und der Staatswirthschaft insbesondre, Leipzig 1819

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Adam Heinrich Müller (um 1810; Quelle: wikimedia)

unser ganzes Verderben ist unsre Gottesvergessenheit

Alte Bücher sind immer für eine Überraschung gut. Das gilt besonders für die kleine, aber umfassende Schrift des wohl bedeutendsten Staatswissenschaftlers der Romantik und Konvertiten Adam Heinrich Müller (1779-1829). Neben seinen zumeist aus Vorträgen in glänzender Rhetorik hervorgegangenen Schriften (Hauptwerke: „Elemente der Staatskunst“, sprachästhetisch: „Zwölf Reden über die Beredsamkeit und ihren Verfall in Deutschland“) ist dieses knappere Werk leider nur wenig beachtet, obwohl es in größerer Klarheit und Ausgewogenheit nichts weniger als einen großen Wurf darstellt, dessen Aktualität von der ersten Seite an außer Frage steht. Müller leitet ein für unser heutiges Verständnis doppeltes Thema: 1. das Verständnis des Staates  im Gegenüber zum Individuum, seinen Freiheiten und Verpflichtungen sowie 2. das Ideal einer menschengemäßen Wirtschaft.

Wo kein Unterschied, kein Contrast, keine Zweyheit, kein Gegensatz – da ist kein Wissen

1. Staatsverständnis

In unbestechlicher Analyse führt er die Vertragstheorie des Staates auf eine fundamentale Vereinseitigung zurück, nämlich alles soziale Leben der Menschen im Staat zusammenlaufen zu lassen. Dies führt für ihn zum totalen Staat, in dem „alle Besonderheiten und Eigenthümlichkeit zerschmelzen“ muss (3), bzw. zum „Begriff des reinen Staates, de keinen anderen Staat in seinem Umkreis leidet“ (8). Dagegen setzt er die Dialektik vom Einzelnen als „Staat im Staate“: „Jeder einzelne Mensch, wie klein oder wie groß er sey, ist Haupt eines Standes oder Staates […]; jeder Einzelne ist juristisches Subjekt. Eben so gewiß ist aber auch jeder einzelne Mensch in einem Stande oder Staate Glied eines Standes oder Staates; er ist hörig […]; jeder Einzelne ist juristisches Objekt; er ist verpflichtet, inwiefern er berechtigt ist“ (2, ausführlicher 9-11 die Zweiheit von frei schaltendem Hausvater und Glied des Staates und damit von Freiheit und dienendem Gehorsam). Das ist der fruchtbare Lieblingsgedanke Müllers, die er bereits in seiner Erstlingsschrift „Der Gegensatz“ von 1804 in Auseinandersetzung mit Schelling vorgetragen hat: „Wo kein Unterschied, kein Contrast, keine Zweyheit, kein Gegensatz – da ist kein Wissen“ (5). Da bringt er alle Finesse des Deutschen Idealismus ein, wenn er die abstrakte, d.h. aus einer Leitidee konstruierte Erkenntnis gegen die konkrete setzt (6f.) – Karl Mannheim hat diese Vertiefung des Vernunftbegriffs später klar erkannt. Damit stellt sich die romantische Staatsidee Müllers also nicht gegen die aufklärerische Vernunft, auch nicht unter Berufung auf Geschichte, Herkunft oder „Volksgeist“, sondern entwirft eine „Dialektik der Aufklärung“ ante litteram, um zur wahren Vernünftigkeit menschlichen Miteinanders zu gelangen: „Mit jedem folgenden Jahrhunderte, angeblich steigender Freyheit, verlor sich mehr und mehr alle Freywilligkeit unter den Menschen“ (20). Doch er geht noch weiter: Das Postulat eines „absoluten Staates“ ist „nichts anderes, als das Ringen und Drängen eines unglücklichen Geschlechtes nach dem persönlichen Gotte, von dem es abgefallen ist“ (4). Es ist entstanden aus dem „unselige[n] Wahn, daß der Mensch seinen Gott und nicht Gott den Menschen erschaffe“ (4; so schafft der Mensch sich „Surrogate des vergessenen Gottes“, 19, vgl. 68: „unser ganzes Verderben ist unsre Gottesvergessenheit“, vgl. 38-43 gegen Rousseaus Theorie vom Sozialvertrag ohne Gottesbezug). Angedeutet ist damit auch der philosophische Anspruch: Besagte konkrete Vernunft setzt den Glauben voraus (7f.), der die Totalität der sozialen Beziehungen als in Gottes Vorsehung konkret gesetzt und (nach dem Ideal des Reiches Gottes, 8) gewollt voraussetzen muss, um sie auf dieser Grundlage zu ordnen. Dies ist selbst wiederum keine bloße spekulative Idee, sondern wesentlich ein Postulat der praktischen Vernunft, wie Kant gesagt hätte, insofern Freiheit und Gebundenheit bzw. Recht und Klugheit nur in der „Beziehung des Menschen auf den lebendigen Gott“ (14) zum Ausgleich gebracht werden können (12-14). Das ist der Grund, warum der abstrakte Staat  alles Recht im Staat zusammenlaufen lässt und „den Bürger aller seine wahren Staatsrechte“, d.h. seines Privatrechts, entkleidet, als wenn dieses ihm erst von oben zugeteilt wäre und er nicht selbst unveräußerliche vorstaatliche Rechte besäße (17, d.i. positive, historische Rechte, 22-25). Konkrete Vernunft heißt also, die Natur als den „Inbegriff alles Gegebenen, Positiven, ohne unser Zuthun Vorhandenen“ zu denken (26, vgl. 36 zu einem umfassenden theologischen Vernunftbegriff).
Ist das nicht die Apologie des status quo, die Verweigerung gegen jede notwendige Entwicklung? Mitnichten. An dieser Stelle führt Müller seinen entscheidenden Gegensatz ein, den zwischen Recht und Klugheit (25-32). Das Recht steht für eben dieses Vorgegebene, Unveräußerliche, die Klugheit aber für die Freiheit, im Rahmen des Gegebenen den Nutzen zu verfolgen und so für die Zukunft angemessen zu sorgen. Beides wird aber versöhnt in der Religion, die an Gott, den Weltenrichter und vorsehenden Hausvater oder einfach Gerechtigkeit und Liebe, glaubt. Dabei versteht sich der Gläubige eben stets sowohl als Diener wie als Ebenbild Gottes, also gehorsam und frei (33, „daß sich Herrschen und Dienen untereinander bedingen, daß die Freyheit nur in und durch den Gehorsam sey, der Gehorsam nur in und durch die Freyheit“, ähnlich 35 die Dialektik des „gleich vor Gott“ und „ungleich vor dem Gesetze“). Derselbe Glaube hilft dem Menschen auch, die große Verschiedenheit der Menschen, ihres Standes und ihrer Anrechte frei anzunehmen und nicht dagegen zu rebellieren. Töte er das, „würde er der wahren, positiven Freyheit verlustig gehn, seine eigne Wirklichkeit und Persönlichkeit aufgeben, die Willkühr oder Ungerechtigkeit andrer herausfordern, sie nöthigen, durch Reaction auch ihren stand zu überschreiten, und auch ihn in dem Gebiete seiner wahren und natürlichen Freiheit zu beeinträchtigen“ (44f.). Statt Konkurrenz aller gegen alle setzt Müller also auf die gegenseitige Ergänzung aller zum gemeinsamen Wohl (45). Ohne den Glauben dagegen stehen beide „überall im Kampf auf Leben und Tod“ (30). Beides darf darum nicht vermischt werden, wohl aber muss es in der konkreten Politik miteinander verbunden werden. So verlangt jede Staatswissenschaft das Miteinander der drei Wissenschaften Jurisprudenz, Politik und Theologie (34). Da Letztere noch einmal einen Doppelaspekt aufweist und selbst wieder in Moral und Ökonomik aufgeteilt werden kann, besteht sie insgesamt aus vier Teilen (37).

 

2. Wirtschaft

Jugendbild Müllers – Ölgemälde von G.Kügelgen in Privatbesitz (1932)

Das Ideal der gegenseitigen Ergänzung anstelle der allumfassenden Konkurrenz weist bereits auf Müllers Gegnerschaft zu Adam Smiths „The Wealth of the Nations“ und dessen Begründung des Kapitalismus hin (46-Ende). Seine Kritik ist weitblickend und nimmt bereits Elemente von Marx‘ Entfremdungstheorie und dem Fetischcharakter der Ware vorweg, lenkt diese aber in ein Bild von freier Wirtschaft und Handel, die vom Gedanken des Maßes, der Kooperation und des Vorrangs der Person vor der Sache ausgehen (vgl. 54-68 die lange Erörterung von Person und Sache in Recht und Ökonomie). Letzteres baut gewissermaßen bereits eine Brücke zum ökologischen Gedanken, wenn es heißt: „Jede Sache hat ihre natürliche Art und Grenzen, inner denen sie gebraucht sein will“ (47), d.h. der Gebrauch darf nicht willkürlich und usurpatorisch sein. Konkret bedeutet dies, dass bestimmte Aspekte der Person durchaus sächlich-funktional sein können, andere dagegen nicht. Dasselbe gilt aber auch von den Sachen (48). Stets geht es darum, „das Gleichgewicht und Ebenmaß des Ganzen zu erhalten, jeden, die Hausfrau, jedes Kind, jeden Knecht, jede Magd usf. in seinem kleinen Wirkungskreise oder Staate zu erhalten und zu schonen; jedem ein Recht zu thun, jedes Glied des Ganzen in seiner Art und Ordnung zu gebrauchen, so daß jedes in seiner besonderen Eigenthümlichkeit und Freyheit bestehen könne“ (49) – eine denkwürdige Vorwegnahme des Subsidiaritätsprinzips! Oder auch des Ordo-Liberalismus auf der Grundlage der „wahre[n], irdische[n] Hausordnung“ (50): in einer „freyen Unterordnung“ (57) Gott zuerst, dann der Dienst am Nächsten (und zwar am umfassendsten bei dem, der zum Herren eingesetzt ist!) und danach erst die Mehrung des Eigenen; oder auch bezüglich der Einstellung zur Arbeit: zuerst die Liebe zum Werk, die selbst wiederum aus der Liebe zu Gott und der von ihm anvertrauten Aufgabe entspringt, und erst sekundär die Suche nach einem finanziellen Ertrag daraus. Damit gewinnt Müller das Instrumentar, um Smiths Auffassung vom bloßen Sach- und Geldwert von Personen und Sachen zu widerlegen. Sie reduziert alles auf „eine todte Sache“ (59), nämlich auf ein bloßes Mittel zum Zweck und damit auf eine tote Mechanik, die „nach Art der Rechenexempel gelöst wird“ (50). Damit wird der persönliche Nutzen, der in der Ordnung bloß an dritter Stelle steht, auf den ersten und einzigen Platz gesetzt und alles andere davon abhängig gemacht – die Einführung einer kapitalistischen „Wechselsklaverei“ aller (52)! Die Zerstörung der persönlichen Bindung aller in einem gemeinsamen Werk ebenso wie an die Sache wird schließlich aber selbst den Reinertrag schmälern. Denn ohne die rechte Ordnung „wüthet [man], möchte ich sagen, gegen das Netz, das alle umfangen hält, und verstrickt sich nur umso tiefer in dasselbe“ (58). Nur der Glaube an Gott (und der ihn fördernde geistliche Stand, 61) befreit dagegen zur notwendigen Haltung, „die Lage, den Herrn, das Gewerk zu dulden und zu lieben, in welche man sich versetzt findet: sich mit Freyheit und Neigung dem Vorhandenen zu unterwerfen“ (58) und dabei Befriedigung und Ehre in der Arbeit selbst zu finden anstatt bloß in ihrem geldwerten Ertrag (60; das ist der „Unterschied von Amt und Gewerbe“, 61) und anstatt sich in totaler Konkurrenz und umfassenden Eigennutz zuletzt doch nur dem Recht des Stärkeren (61), der „Willkühr ohne Zügel“ (65)  beugen zu müssen (58). Schon zwei Jahrhunderte vor Erich Fromm verwirft Müller darum „das ausschließliche Streben nach dem sächlichen Haben, auf Unkosten des persönlichen Seyns“ (62; oder auch „haben, um desto hingebender und freyer zu dienen, zu arbeiten und zu seyn“). Es führt zu einem Verfall des Miteinanders: „wie sollte ich ihn achten, den ich nur bezahlen kann?“ (62). Heilung aber  kommt nur aus dem „stille[n] Entschluß demüthiger Rückkehr zur Religion“ (69).

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