Kirche als Wahlheimat. Beitrag zu einer Antwort auf die Zeichen der Zeit (=Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 32), Würzburg: Echter 1998

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Der Anfang war ein Waldspaziergang. 1992 – meine Doktorarbeit über die hl. Therese von Lisieux lag gerade in ihren letzten Zügen – wurde die Frage groß und größer: Wie geht es weiter? Habilitation, soviel war mit meinem Bistum bereits ausgemacht. Aber über welches Thema? Ein „richtig“ pastoraltheologisches sollte es sein, interdisziplinär und zu einem Kernproblem heutiger Pastoral. Gleichzeitig eine Visitenkarte zur Auskunft für die nur zu verständliche Frage: Was denkt der Wollbold denn so? Und dann ging alles wie von selbst. Da hatte ich die Suche nach Freiheit und selbstbestimmtem Leben der Menschen vor Augen, Emanzipation und eigene Wege. Aber auch nach vielfacher Erfahrung konnte ich inzwischen sagen: Das Hauptproblem vieler ist inzwischen nicht mehr, wie sie Fesseln abstreifen können, sondern was sie mit ihrer Freiheit anfangen. Dieses neue Problem ist ein Zeichen der Zeit. Fast gleichzeitig war auch die entsprechende andere Seite da: Freiheit braucht Sinn- und Beziehungsgefüge, braucht ein Worin, braucht… eine Heimat. Und im gleichen Augenblick war auch das Wort da: Wahl-Heimat, also die Verbindung von Freiheit und Einbettung in etwas, was ihr erst eine Richtung und Aufgabe verleiht. 1993 ging ich dann zu Beginn der Habilitation für ein halbes Jahr als „Visiting scholar“ an die „University of Notre Dame“ in den USA. Bei fast allen meinen Begegnungen, Gesprächen, Praktika und wissenschaftlichen Erkenntnissen bestätigte sich meine Intuition. Denn die Stärke der amerikanischen Religiosität liegt in ihrer Fähigkeit, Menschen einzubinden.

 

Leseprobe

[In einem politischen Teil habe ich versucht, die neue Unübersichtlichkeit unmittelbar nach der Wende von 1989 in sieben Spannungsfeldern wiederzugeben:]

Zu dieser wieder freigegebenen Komplexität gehören u.a. wohl folgende acht Spannungen (von allerdings unterschiedlicher Tragweite):
1. Wachsendes Gewicht transnationaler Verflechtung durch Handel, Kommunikation, Verkehr, kollektive Aufgaben, übernationale Integration und eine entsprechende kosmopolitische Kultur vs. Regionalismus und neuen Nationalismus: Exemplarisch gilt dies für den europäischen Einigungsprozeß, dem gegenüber sich idealtypisch zwei Haltungen herausgebildet haben. Die eine drängt auf Vereinheitlichung; der faktisch geschehenden Verflechtung der Beziehungen soll auch institutionell eine gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit folgen (z.B. durch Aufwertung des Europäischen Parlaments oder durch Angleichung der Währungen und der Außen-, Sozial-, Forschungs- und Landwirtschaftspolitik). Die andere setzt auf einen dezentralen Wettbewerb nationaler Systeme, nach dem Europa eher den Marktplatz darstellt, auf dem nationalstaatlich gewachsene Bedingungen der Wirtschaft miteinander konkurrieren können und ansonsten nur Zweckbündnisse ohne Übertragung von Hoheitsrechten (etwa nach Art der NATO) geschlossen werden sollen. Während die letztere Idee eher in der angelsächsischen liberalen Tradition steht, die die Verflechtung der Nationen grundsätzlich begrüßt, jedoch die bürokratischen Auswüchse des Zentralismus fürchtet, ist in den letzten Jahren eine fundamentalere Opposition zu übernationalen Einigungen entstanden, der neue Nationalismus, der wiederum in der Tradition des Antiliberalismus der ersten Jahrhunderthälfte steht.

Stefan Breuer hat kenntnisreich für diese bisher unter dem Namen ‚konservative Revolution‘ zusammengefaßten Strömungen in der Weimarer Republik (mit so unterschiedlichen Vertretern wie Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger) ein Dreifaches herausgearbeitet: 1. Sie stehen nicht in der rückwärtsgerichteten Tradition des alten Adelskonservativismus, sondern stellen »ein Ensemble von Orientierungsversuchen und Suchbewegungen in der Moderne« dar, die in der scharfen Ablehnung des kapitalistischen Liberalismus übereinkommen. Man sollte darum eher von neuem Nationalismus sprechen, denn der Primat der Nation vereine diese ansonsten sehr verschiedenen politischen Denker. 2. Trotz mancher Allianzen besteht ein großer Abstand zum Rasse- und Führerdenken des Nationalsozialismus, weil diese konservativen Denker eher Nation und staatliche Ordnung als Grundorientierung betonten. 3. Breuer deutet einen Blick auf heutige Nachfolger dieses neuen Nationalismus nur an. Bei allen Unterschieden sieht ihn Breuer »in Bagdad und Teheran, in den Hauptstädten Schwarzafrikas und Südostasiens« und der »slawophilen Missionsidee«, die ein scharf antiwestliches Ressentiment, von der »technologischen Zivilisation, die gegenüber allen historisch gewachsenen partikularen Traditionen indifferent ist«, überrollt zu sein, mit einem aggressiven Sendungsbewußtsein der eigenen Nation verbinden.

Für die heutige politische Analyse ist an Breuers Arbeit wohl gerade die letzte Bemerkung bedeutsam, daß nämlich die der technischen Zivilisation unterlegenen Regionaltraditionen eigene Kräfte freisetzen, die nicht einfach Teil des Faschismus sind, aber doch kämpferische Frontstellungen hervorrufen – und das wohl entgegen Breuers Meinung auch in Europa. Selber Teil der Moderne, gehören sie zu ihren Pathologien und zeigen an, daß der Verlust des Eigenen weithin nicht widerstandslos ertragen wird. Die Suche nach Beheimatung bleibt politisch relevant und erhält ein eigenes Gewicht aus der Sicht der Verlierer und Opfer des westlichen Universalismus.

Worauf beruht diese Macht des neuen Nationalismus? Einen Überblick über die Bandbreite möglicher Erklärungen in der Anthropologie gibt Eugene Ogan in der Darstellung von drei neuen amerikanischen Werken zur Ethnizität. Während der marxistische Ansatz von Richard Thompson Ethnizität nur als »Ausdruck latenter Klassengefühle (ansieht), die, bedingt durch das Fehlen einer affektiven Klassenorganisation in den Vereinigten Staaten der Gegenwart, eine ethnische Form bzw. Aussehen genommen hat«, wird der Verzicht auf monokausale Erklärungen und eine gemischte Theorie mit sozialen, kulturellen und psychologischen Elementen bei Manning Nash dem Phänomen in seiner Wandlungsfähigkeit wohl gerechter. Nash erkennt die Grundlagen des Nationalismus in leiblicher Verwandtschaft, dem Zusammenleben und dem gemeinsamen Kult; diese werden aber erst in Verbindung mit einem politischen System, dem Nationalstaat, politisch relevant. Anhand von Untersuchungen unter pazifischen Eingeborenen decken schließlich Jocelyn Linnekin, Lin Poyer und andere die Verengungen eines westlich geformten Volksbegriffes auf. Denn nicht die biologische Verwandtschaft, sondern die räumliche Nähe und das gemeinsame Verhalten begründen bei diesen Eingeborenen ethnische Zugehörigkeit. Poyer gibt dafür ein eindrucksvolles Beispiel von der Sapwuahfik-Insel im Pazifik, wo nach einem Massaker an der männlichen Bevölkerung 1837 eine genetische Mischung der Frauen und Kinder, einiger Weißer und Männer von anderen Inseln eine neue ethnische Identität ausbildeten. Insgesamt kann man der Meinung Alan Howard’s im gleichen Buch nur zustimmen, daß Ethnizität kein eigenständiges Phänomen sei, sondern »aus der menschlichen Neigung, Erfahrung nach Gleichheit und Verschiedenheit zu kategorialisieren«, zu verstehen sei. Ethnische Kategorien sind also kein Ausdruck einer Volksseele, sondern ein geschichtliches Konstrukt. Dies würde die obige These unterstützen, die den neuen Nationalismus als Antwort auf eine spezifische geschichtliche Situation deutet: als Spiegel der Spannungen in der Weltordnung unter der wachsenden Dominanz des westlichen Liberalismus, insofern dieser dazu neigt, die Wahrnehmung von Gleichheit und Verschiedenheit und damit die Konstruktion von Identität aufzulösen.

2. Länder wirtschaftlicher Prosperität vs. Länder mit unzureichender Grundversorgung der Menschen: Trotz des enormen Wachstums des pazifischen Asiens und der Volksrepublik China in der letzten Dekade ist das Übergewicht der 24 OECD-Staaten in der Weltwirtschaft noch erdrückend; 1988 machte etwa ihr Bruttoinlandsprodukt 78,6 % des internationalen Gesamtwertes aus – umgerechnet pro Einwohner zwischen 8 bis 155 mal soviel wie bei den anderen Weltwirtschaftsräumen. Auch in der Gesundheitssituation spiegelt sich der enorme Abstand in der Grundversorgung: Während der Tod von Müttern und Kindern infolge einer Geburt in den hochentwickelten Ländern zur Ausnahme geworden ist, sterben daran jährlich 500.000 Frauen und 3.000.000 Kinder in Entwicklungs- und Schwellenländern. Eine medizinisch bekämpfbare Krankheit wie Malaria bedroht noch 40 % der Weltbevölkerung; 1,5 bis 3 Millionen Menschen sterben jährlich an ihr, davon 90 % in Schwarzafrika. Insgesamt beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Entwicklungsländern 50 Jahre im Vergleich zu 75 Jahren in wohlhabenderen Ländern. Auch der wirtschaftliche Niedergang vieler Länder des ehemaligen kommunistischen Herrschaftsbereiches ist bekannt. Häufig besprochen, aber noch kaum aufgegriffen ist die Problematik, daß das Interesse des Westens an den armen Ländern insbesondere Schwarzafrikas nach dem Ende des Kalten Krieges fast ganz erlahmen könnte. So gehört die soziale Ungleichheit der Welt zur bleibenden und wohl schwerwiegendesten Agenda der internationalen Beziehungen.
3. Enorme Aufstiegschancen angesichts der dritten industriellen Revolution (insbesondere dank telekommunikativer Verwaltung und Vernetzung) vs. neue Armut und steigende Zahl von Modernisierungsverlierern wie etwa schwer vermittelbare Arbeitslose: Ein Anzeichen dafür kann auch das Wiederaufleben der Tuberkulose selbst in Industrienationen wie den USA sein. So schätzt die Weltbank, daß von 1994 bis 2000 etwa 8, 5 Millionen Menschen wegen mangelnder medizinischer Versorgung an dieser Krankheit sterben werden.
4. Verschärfte internationale Wirtschaftskonkurrenz vs. Bedrohungen von Umwelt und sozialer Gerechtigkeit: Es ist schon fast ein Gemeinplatz zu behaupten, daß die Moderne in eine Phase eingetreten sei, »in der die Schattenseiten des Fortschrittes die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bestimmen«. Hans-Joachim Höhn erkennt dahinter »das Doppelgesicht der Aufklärung«, die »Emanzipation und Einsamkeit, Öffnung und Preisgabe, Vielfalt und Beliebigkeit« zugleich gefördert habe. Einschränkend ist dazu allerdings zu sagen, daß die Probleme des technischen Fortschritts zwar in den Vordergrund getreten sind, aber daß ihre Bekämpfung nur mit den Mitteln des Fortschritts zu erwarten ist. Wenn etwa trotz schwerer Sicherheitsbedenken Atomreaktoren auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in Betrieb bleiben – so galt der Unglückreaktor von Tschernobyl nach Beschluß ukrainischer Behörden noch 10 Jahre nach der Katastrophe von 1986 als unentbehrlich, weil die energieknappe Ukraine sich nicht in völlige Abhängigkeit von russischem Erdöl begeben wollte, das sie zu nur gut 20 % des Welthandelspreises erhielt -, zeigt dies eklatant, wie Ökonomie und Ökologie zwar vielleicht nicht idealerweise, aber doch im heutigen Gefälle der Weltwirtschaft gegeneinanderstehen. Ähnlich zieht die ökonomisch u.U. erfolgreiche Sanierung hochverschuldeter Staatshaushalte von Drittweltländern zwangsläufig Kürzungen der ohnehin geringen Sozialleistungen nach sich, die die soziale Gerechtigkeit verletzen.
5. Nationale Einheit und Selbstbestimmung vs. ethnisch, vertraglich, kolonial, religiös oder durch Migration bedingte Durchmischung der Bevölkerung: Nach einer ersten Welle der Zustimmung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen in ehemals sozialistischen Ländern nach 1989, für die etwa die rasche Anerkennung Kroatiens steht, ist man sich heute der Ambivalenz solcher Wünsche wieder zunehmend bewußt. Unabhängigkeit setzt klare Menschenrechtsgarantien voraus, insbesondere einen verfassungsrechtlich garantierten Minderheitenschutz, der in der nationalen Begeisterung leicht an den Rand gedrängt wird. Auch müssen realistisch wirtschaftliche und strategische Interessen der Nachbarn in Betracht gezogen werden, da sie durch eine eventuelle Unabhängigkeit oft in erheblichem Maß frustriert werden. Schließlich kann eine Staatenbildung wohl nur dort friedlich verlaufen, wo u.U. bestehende historische Aversionen aufgearbeitet sind. Die Geschichte der Emanzipation von Kolonialstaaten könnte hier zu großer Vorsicht mahnen: Willkürlich gezogene Grenzen, zerstörte traditionelle Herrschaftsstrukturen oder eine fehlende Zivilgesellschaft schaffen ein Machtvakuum und können nicht kanalisierbare Aggressionen freisetzen, die etwa im Fall der Unabhängigkeit Indiens 1947 und des darauf folgenden indisch-pakistanischen Krieges etwa eine Million Hinu-Muslims das Leben kostete.
6. Kampf von Minderheiten um gesellschaftliche Gleichberechtigung vs. öffentliche Anerkennung von Verschiedenheit: Die Auseinandersetzung um den ‚foulard islamique‘, das Kopftuch muslimischer Mädchen in französischen Schulen, zeigte, daß viele Emanzipationsbewegungen in eine neue Phase eingetreten sind. Denn bei diesem Konflikt fragte es sich, ob die laizistische Schule, Symbol der Gleichheit aller Bürger, zum Ort eines religiösen Bekenntnisses genutzt werden dürfe. Während die Vertreter der Ausländerinteressen noch vor 20 Jahren vor allem deren uneingeschränkte Integration forderten, gilt nun ‚le droit à la différence‘, das von Danielle Mitterrand eingeforderte Anrecht auf Verschiedenheit. In den multikulturellen USA hat die Auseinandersetzung um die ‚political correctness‘ in den letzten Jahren hohe Wellen geschlagen. Nach ihren konsequentesten Vertretern sind Lehrpläne, Fernsehserien, Stellenbesetzungen, Kulturbetrieb und Sprache insgesamt von allen Elementen zu säubern, die auf die Vorherrschaft der ‚white anglosaxon protestant culture‘ zurückgehen und andere diskriminieren. In die gleiche Richtung gehen in Deutschland etwa die Forderung nach Schwulen- und Lesbentrauungen oder das Bemühen um eine geschlechtsneutrale oder zweigeschlechtliche Sprache.
7. Ende der Utopien vs. Entstehen der neuen Rechten: Während die großen Utopien des technischen oder sozialistischen Fortschritts in schwere Krisen geraten sind, hat die politische Öffentlichkeit über Jahre hinweg weitgehend begriffsstutzig vor der Entwicklung rechtspopulistischer Gruppierungen gestanden. Bei aller Verschiedenheit von ‚Republikanern‘ oder einer DVU in Deutschland, einer FPÖ in Österreich, eines ‚Front national‘ in Frankreich, von Altfaschisten in der ‚Alleanza nazionale‘ Italiens, gewiß auch der radikalen Islamisten in vielen Ländern oder der ‚Liberaldemokraten‘ in Rußland, um nur einige zu nennen, zeichnen sich doch alle diese Bewegungen dadurch aus, daß sie die Freiheitsrechte anderer geringer achten als die eigenen. Diese Ignoranz des Fremden stellt sich wenigstens implizit gegen die Gleichheitsforderung aller Menschenrechtskataloge. Aber das Erstaunen der westlichen Intellektuellen war nicht gering, als sie in diesen Bewegungen nicht vor allem Altvordere aus den Zeiten des europäischen Faschismus und der Krise der Demokratien bis 1945 fanden, sondern mehrheitlich jugendliche Mitglieder, die man zuvor sicher auf der Seite der Demokratie glaubte. Auch rekrutieren sich ihre Anhänger keineswegs nur aus wirtschaftlich und sozial benachteiligten Schichten, sondern sie ziehen ebenso Wertekonservative und selbst wirtschaftlich Aufstrebende an.

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