Das Sommerrätsel 2020 fragte nach dem Roman „La Pharisienne (Die Pharisäerin)“ von François Mauriac, dem zusammen mit Georges Bernanos bekanntesten Vertreter der literarischen und intellektuellen „Renouveau catholique“. Dieser Roman ist 1941 entstanden und gehört zu den bedeutendsten Werken dieses großen Schriftstellers, der in unserer Zeit sicher auch in deutschsprachigen Ländern eine Wiederentdeckung verdient hätte (vielleicht auch mit schlanken, griffigen neuen Übersetzungen!). Die gesuchte Priestergestalt ist

Abbé Calou.

Er ist der Priester, der den größten Platz in einem Roman Mauriacs einnimmt. In vielerlei Hinsicht stellt er ein Gegenbild zur titelgebenden „Pharisäerin“ Brigitte Pian dar. (Während Bernanos sich ja beinahe überwinden musste, einmal einen Roman ohne einen Priester als Hauptgestalt zu konzipieren, sind Geistliche bei Mauriac wenn, dann in der Regel bloße Randgestalten.)

Inhalt

Der Roman handelt also von Brigitte Pian, einer überzeugten und wirklich frommen Katholikin (also keiner Heuchlerin, keinem weiblichem Tartuffe!). Aufgrund ihrer Tugenden und ihres Engagements besitzt sie auch eine hohe moralische Autorität – nicht zuletzt bei ihrem Stiefsohn Louis, der die Handlung aus Sicht seiner jugendlichen Augen berichtet. Als Vorsitzende einer Stiftung zur Unterstützung von Konvertiten hat sie auch einigen materiellen Einfluss. Den macht sie zuerst geltend gegen die Ehe eines Lehrers, Monsieur Puybaraud, bei dem sie eine Ordensberufung erkennt. Octavie, die von ihm Geliebte, ist aber zugleich wie eine Tochter für Brigitte, so dass sie diese nicht freigeben will – Eifersucht zum ersten in diesem vom diesem starken, ja brutalen Gefühl geradezu strotzenden Roman. Als die beiden doch heiraten, hält Brigitte die junge Familie in ärmlichen Verhältnissen in ihrer Abhängigkeit, gönnt ihnen aber ihre Liebe nicht. Am Ende sterben Octavie und ihr Kind, und Puybaraud wendet sich verbittert vom Glauben ab. Noch heftiger kämpft die „Pharisäerin“ gegen die junge Liebe ihrer Stieftochter Michèle, die ohnehin Liebling des Vaters aus seiner erster Ehe, aber eingeschworene Feindin ihrer Stiefmutter ist. Michèle verliebt sich in Jean de Mirbel, einen aufsässigen Jugendlichen und besten Freund von Louis, als Jean während der Sommerferien zu Abbé Calou zwecks Umerziehung gegeben wird. Dieser Geistliche ist zwar für seine kraftvollen Hände bekannt, doch anstatt dem Jungen Benimm einzuprügeln, versucht er es mit Verständnis und Nähe. Auch die Beziehung Jeans zu Michèle unterstützt er, selbst dann noch, als Brigitte die beiden rigoros voneinander trennt, nämlich indem er als postillon d’amour Michèles Briefe an Jean weiterleitet. Doch auch seine moderne Pädagogik scheitert. Aus Verbitterung brennt Jean mit einer verheirateten Apothekerin durch, nachdem er sich auch noch aus der Kasse des Pfarrers bedient hat. Zuvor schon hat Louis das junge Liebespaar verpfiffen, weil er durch ihre exklusive Beziehung gleichzeitig seine Schwester und seinen Freund verliert – also wiederum aus Eifersucht. Brigitte bleibt nur, alles auffliegen zu lassen, und Calou wird strafversetzt. Doch am Tiefpunkt kommt auch die Wende. Die „Pharisäerin“ erkennt bestürzt, was sie angerichtet hat, und die verzeihende Liebe Calous öffnet ihr Herz. So endet der Roman fast ein bisschen mit einem Spruch vom Kalenderblatt: Brigitte „wusste nun, dass es nicht darauf ankommt, Verdienste anzuhäufen, sondern zu lieben.“

Von Klischees und einer Lektüre gegen den Strich

Na ja, das alles klingt ein bisschen nach Klischee, und heutige Katholiken müssen aus den Seiten des Romans erst einmal die ganzen Klischees herauspusten, die vielleicht für den „synodalen Weg“ geeignete Munition darstellen, aber den Roman total verkennen würden. Also das Klischee vom vorkonziliaren, strengen, sexualfeindlichen, verurteilenden und machtbesessenen Katholizismus, gegen den tapfere Fortschrittler wie Abbé Calou ankämpfen. Doch gerade gegen dieses Klischee ist die Lektüre der „Pharisäerin“ ein gutes Mittel, allerdings am besten mit der Auflage, den Roman gleich zweimal zu lesen, aber bis dahin kein Wort des Kommentars abzugeben. Am Ende wird man feststellen, die Tragik Brigittes besteht gerade darin, dass sie die Wahrheit voll und ganz auf ihrer Seite hat: Ihr Mann Octave Pian vergöttert Michèle, weiß aber nicht wie Brigitte, dass seine erste Frau ihn betrogen hat und Louis gar nicht sein leiblicher Sohn ist; diese erste Frau hatte sich im Urwald ihrer Leidenschaften verirrt und schließlich das Leben genommen; das Ehepaar Puybaraud kann sich nicht selbst ernähren und stürzt in die Armut; Michèle und Jean werden ein Leben lang eine Problembeziehung haben (im 1954 erschienenen Roman „L’Agneau – Das Lamm“ kehren sie wieder), und Jean de Mirbel gehört zu den großen dämonischen Gestalten Mauriacs; selbst Abbé Calou muss in einem Akt der Selbsterkenntnis begreifen, dass auch er – ganz wie Brigitte gegenüber Octavie oder auch wie Puybaraud, der vor allem Vaterfreuden sucht – in der zu großen Nachsicht gegenüber Jean versagt hat, und dies, wie er sich eingestehen muss, weil „ich von diesem Kind die Freude der Vaterschaft erwartet habe“ (Oeuvres romanesques II, 831). Am Ende muss Calou „den Müll sehen, der sich um uns herum aufhäuft und den wir unser Apostolat nennen. Im Vergleich dazu müssen wir das ermessen, was sich darin an unausgesprochenen Wünschen und an verstecktem Genuss verbirgt und wovon wir nur ein dunkles Bewusstsein haben. So müssen wir denn alles von der Barmherzigkeit erwarten.“ Das allein ist der Unterschied zwischen Abbé Calou und Madame Pian: Der Priester erkennt seine Sünde, seinen Selbstbetrug, sein Scheitern, und darum vertraut er allein auf die Barmherzigkeit Gottes. Oder noch schöner der Satz über Calou: „Eine große Liebe war die beste Abwehr gegen die Leidenschaften“ (Oeuvres romanesques II, 842). Also nichts da mit einer Hinwendung zur „Lebenswirklichkeit“ der Menschen als Maßstabe für kirchliche Moral, sondern ganz im Gegenteil Augen auf für den tiefen Fall der Menschen, ihre Verirrung und Ausweglosigkeit, gerade auch bei dem, was sie Liebe nennen. Dies schonungslos zu begreifen, dafür gibt es vielleicht kein besseres Mittel als einige hundert Seiten Mauriac!

Die Tipps zur Lösung

Nun noch zu den kleinen Hinweisen:

  • François ist auch Franziskus, und so hat Mauriac zumindest den Namen mit Papst Franziskus gemeinsam. Dieser ist auch ein guter Kenner der französischen katholischen Literatur, und wer weiß, ob ihn „Die Pharisäerin“ nicht auch in manchem inspiriert. Die deadline des Rätsels war dabei selbst ein kleiner Clou, denn der 4. Oktober ist ja der Gedenktag des Heiligen aus Assisi.
  • Wer bei der Lösung bis zum Französischen als Muttersprache des Autors vorgedrungen ist, mag aus den Andeutungen zu drückender Mittagshitze und verschlossenen Fensterläden – in der Tat eine sehr typische Szenerie in vielen Romanen – geschlossen haben: Da muss man irgendwo im Süden suchen, im „Midi“ oder eben genauer im Südwesten rund um Bordeaux. Und noch typischer sind Szenen in den „Landes“, genauer dem „Forêt des Landes“ in der Gascogne, einem der größten von Menschenhand angelegten Wäldern, hauptsächlich aus Kiefern.
  • „Die Pharisäerin“ ist 1941 erschienen, und so finden wir uns elf Jahre später in Stockholm wieder, wo Mauriac der Literaturnobelpreis verliehen wurde.
  • 1941 selber befand sich die Welt dagegen in einer dunklen Stunde. Frankreich litt unter der Okkupation. „Ich frage mich, warum ich in den ersten Wochen der Okkupation ‚Die Pharisäerin‘ in fieberhafter Eile schreiben konnte, so als wollte ich mich noch einmal in einem Roman ausdrücken“, bekennt er im Rückblick (Oeuvres complètes IX, 936).
  • Der Kritiker ist Jean-Paul Sartre. Der noch junge, aufstrebende und ehrgeizige Philosoph, Literat und Intellektuelle nutzte 1939 einen Artikel in der „La Nouvelle Revue française (NRF)“ zu einem Frontalangriff auf Mauriac („M. François Mauriac et la liberté“, NRF Februar 1939). Redegewandt und scharfzüngig warf der Newcomer und Existenzialist Sartre mit seiner Idee einer radikalen Freiheit dem etablierten katholischen Autor vor, seine Romanfiguren wie ein Gott zu bewegen und zu beurteilen und ihnen keine Freiheit mehr zu lassen: „Gott ist kein Künstler. Monsieur Mauriac auch nicht.“ Nun ja. Übrigens hat Mauriac später in einer eleganten Bemerkung auf Sartre gemeint: „Um Sartre zu ärgern, habe ich gesagt – aber es stimmt doch auch etwas: Wenn ich den Nobelpreis erhielt, so habe ich das doch auch ein bisschen ihm zu verdanken. Denn von ihm ausgehend, habe ich ‚Die Pharisäerin‘ in einer bestimmten Art gestaltet, habe ich mit ihr einen zweiten Anlauf genommen.“ Denn Mauriac entwickelte nun eine ganz eigene Romantechnik:  Da vermerkt er genauestens und gelegentlich mit einem Schuss Ironie die verschiedenen fiktiven Quellen wie Tagebücher und Briefe. Vor allem aber lässt er die Handlung aus der Sicht eines Protagonisten erzählen, Louis Pian, der sich gerade in allen Anfechtungen und Selbstzweifeln der Pubertät und Adoleszenz befindet und beim Erzählen vieles überhaupt nicht begreift – das genaue Gegenteil eines allwissenden Autors. Dafür macht Louis‘ verzehrende Eifersucht auf seine ältere Schwester Michèle und seinen Freund Jean de Mirbel „Die Pharisäerin“ gleichzeitig zu einem wirklich großen Jugendroman.
  • Die heiße Spur zu Sartre war sein wohl meistzitiertes Wort: „Die Hölle, das sind die anderen“. Anders als Dante, der in christlicher Tradition die Verdammten der Hölle immer auch zur eigenen ernsten Gewissenserforschung nutzt.

Gewissenserforschung, das ist vielleicht auch der am besten passende Schlüssel zu diesem Roman, ja überhaupt zum Werk Mauriacs. Die Unerbittlichkeit, mit der er hinter frommen oder auch weniger frommen Fassaden und Illusionen (auch Selbstbetrug und Lebenslügen) ausnahmslos aller seiner Gestalten die letzten Beweggründe aufdeckt, ist letztlich immer die des Christen, der sich selbst unter den Augen Gottes erforscht und alles aufdeckt, was ihn von Gott trennt. Diese Einstellung lässt wohl auch Mauriacs oft sehr düstere Sicht auf Sexualität, Ehe, Beziehungen und nicht zuletzt verwickelte Familienkonstellationen besser begreifen. Das sind nicht einfach bloß Reste von Jansenismus, sondern das wache, geschulte Auge dessen, der die großen Triebkräfte des Lebens in ihrer Ambivalenz wahrnimmt. Nichts bezeichnender in diesem Sinn als der Titel seines wenig früher veröffentlichten Romans „Le désert de l’amour (Die Wüste der Liebe)“. Der Mensch ist zur Liebe geschaffen, aber der Weg zur Liebe ist steil. Was der Mensch mitbringt – auch der Fromme -, muss erst durch viele Fehltritte und Enttäuschungen gereinigt werden. Brigitte Pian ist da ein beinahe rührendes Beispiel, denn erst spät erkennt sie, was ihr Eifer ohne Liebe wirklich war. Sie beichtet ausgerechnet bei Abbé Calou, den sie früher bei seinem Bischof denunziert hat, und spät erfährt sie selbst eine zärtliche, fast mädchenhafte Liebe. Womit wir wieder beim hl. Franziskus wären, der die „via caritatis“ in den Mittelpunkt stellte, aber der wie Mauriac dabei zugleich auch die Notwendigkeit von Buße und Umkehr kompromisslos predigte. Und zwar nicht zuerst anderen, sondern sich selbst! Das war auch Mauriacs Blickwinkel, ein Leben lang: nicht andere als Heuchler hinzustellen und dies womöglich gar kirchenpolitisch auszuschlachten, sondern sich selbst bis in die letzten Winkel des Herzens zu befragen: „Bin ich selbst nicht ein solcher Pharisäer?“

Schließen wir darum mit einem tiefgründigen Wort einer einfachen Frau, Elisabeth Gornac, in „Destins“, übrigens der Mutter eines ausgesprochenen „Pharisäers“, Pierre Gornac, der ebenfalls ein junges Paar auseinanderbringt – mit den “besten“ Absichten. Elisabeth erinnert sich:

„Wir hatte hier einmal einen noch jungen Pfarrer, sehr vornehm, sehr gebildet, aber vor allem von großer Güte und Feinfühligkeit. Seine Predigten hatten etwas, das zuerst die Herzen bewegte. Seine Liebe zum Nächsten war schier unerschöpflich. Mit Leidenschaft widmete er sich der Jugendpastoral. Eines Tages aber mussten wir mit Erstaunen erfahren, dass er über Nacht verschwinden musste – eine ziemlich schlüpfrige Geschichte… In der ganzen Ortschaft Viridis war zu hören (und am lautesten von mir selbst): „Was für ein Hochstapler! Wie gut konnte er mit verdeckten Karten spielen! Wie gab er sich den Anschein von Nächstenliebe! Mit welcher Gerissenheit verstand er es, uns alle hinters Licht zu führen!“ Ach ja, seitdem habe ich oft darüber nachgedacht, vor allem aus wer weiß welchen Gründen in den letzten Tagen. Da sagte ich mir, dieser arme Priester hat uns ganz und gar nicht betrogen. Er war wirklich so, wie wir ihn gesehen haben: gut, barmherzig, selbstlos. Er war nur auch zu einer schlechten Tat fähig…“ (Oeuvres romanesques II, 166).

Skitterphoto / Pixabay

Literatur:

François Mauriac, Oeuvres romanesques et théâtrales complètes. Édition établie, présentée et annotée par Jacques Petit. Bd. 3, Paris 1981, 707-881.

– , Die Pharisäerin, R. Caltofen, Zürich 1946.

– , – , Freiburg i.Br. 1968.

 

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