… gegenwartsgemäß umgemodelt?

Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955

 

Wenn man von seinem Schüler Arnold Gehlen herkommt, ist die Lektüre Hans Freyers (1887-1969) Deutung der Gesellschaft und ihrer Veränderungen seit der industriellen Revolution eine Wohltat. Selten findet man eine solche Klarheit und Klarsicht, Verständlichkeit und Tiefe, verbunden mit einer eleganten, aber immer noch schlanken Sprache wie in diesem zu Unrecht weithin vergessenen Meisterwerk. Zentrale These ist die Entwicklung „sekundärer Systeme“, also zweckrationale Regelsysteme, die den Menschen jeweils unter einem bestimmten Aspekt (als Arbeitskraft, als Bürger usw.) bestimmen, die sich über die Menschlichkeit des Menschen in seiner komplexen Ganzheit legen und ihn dadurch von sich entfremden und die sich rasch und scheinbar unaufhaltsam ausgebreitet und die Menschheit verändert haben. Der Sozialphilsoph und Soziologe entwickelt sie in vier Schritten:

* Trends: Die industrielle Revolution besteht in der Utopie der umfassenden Machbarkeit der Sachen, aber auch der Arbeitsabläufe und sogar des Menschen und der Geschichte – daher ihr Fortschrittsoptimismus („Katarakt des Fortschritts“) und ihre „Wir schaffen das“-Mentalität

* Modelle: Im Herzstück seine Darlegung leitet Freyer das Modell der sekundären Systeme her, geht ins Detail ihrer Wirkmechanismen und erkennt Ideologisierung und Vereinzelung als ihre Folgen.

* Widerstände: Freyer ist kein Kulturpessimist oder Verfallsprophet. Die technische Welt ist für ihn keineswegs der Untergang des Abendlandes. Wohl aber fordert ihre enorme Veränderungsdynamik Gegenkräfte, die stark genug sind, den Mehrwert des Menschlichen gegen die totale Verplantheit in den sekundären Systemen zu retten.

* In Geschichte kommt Freyer zur konservativen Pointe seines Entwurfs: Die Herkunft aus einer Vergangenheit stellt dem Menschen ein Reservoir an Denk- und Verhaltensalternativen zur Verfügung, die das chiliastische Geschichtsbild des Fortschrittsdenkens überwinden.

  1. Was sind diese sekundären Systeme? 2. Wodurch üben sie ihre Macht aus? 3. Was sind mögliche Widerlager gegen die totale Vereinnahmung durch sie?

1. Was sind sekundäre Systeme? Sie lösen den Menschen aus seinen ursprünglichen, in langen geschichtlichen Prozessen gewachsenen Bezügen,„deren Wesen geradezu darin besteht, daß sie die Partner nicht auf ein Minimum mitwirkender Menschlichkeit reduzieren, sondern sie im wörtlichen Sinn ‚voll nehmen‘, das heißt sie mit ihrer ganzen Person in sich einbeziehen; dies ist ihr Sinn und darauf beruht ihr Halt. Die Ehe, die Liebe, die Freundschaft, das persönliche Treueverhältnis, der auf Kameradschaft gegründete Verband sind von dieser Art“ (84). „Darauf beruhte ihre Stabilität, darauf ihre Legitimität“ (86).

Sekundäre Systeme – am klarsten erkennbar in der Arbeitswelt – dagegen erfassen sie den Einzelnen unter einer bestimmten Hinsicht, auf einen präzisen Zweck hin und ziehen ihn damit gleichzeitig aus seinen gewachsenen Bezügen heraus. Es ist „die Vision eines riesigen, dunklen, unaufhörlich wogenden Ozeans, in dem alles einzelne gerade deswegen unbegriffen bleibt, weil das Netzwerk eines systematischen Beziehungsdenkens alle Vibrationen des Wellengangs einfängt“ (92). D.h. diese Systeme bilden eine übergeordnete Rationalität aus (die freilich auch irrationale, ja selbstzerstörerische Züge annehmen kann). Sie  überlagert den Menschen, so „daß sekundäre Systeme denjenigen Menschen hervorbringen, den sie brauchen, und daß sie ihn hervorbringen durch Reduktion seines Menschentums“ (89). Das beste Argument, mit dem diese Systeme alles überziehen, ist der Wohlstand: „Denn der Lebensstandard ist der Gott dieses Zeitalters, und die Produktion ist sein Prophet“ (91).

  1. 2. Wodurch üben die sekundären Systeme ihre Macht aus? Freyer erkennt als Funktionen dieser Systeme:
  • Spielregeln, d.h. willkürlich entsprechend den angezielten Zwecken entworfene Regeln für das Verhalten, durch die jede Handlung nach festgelegten Normen eine andere hervorruft und infolgedessen jeder Einzelne nicht als Person interessant ist, sondern als in Trieben und Denken angepasster Mitspieler. Er sieht sie also „als Ortsansässigen, als Zuzugsberechtigten, als Aktivwähler“ usw. (95; in nuce erkennt man hier bereits die später in der Soziologie entwickelte Spieltheorie) – sie schaffen eine virtuelle Welt, die wie eine zweite Natur wirkt und künstlich geschaffene Selbstverständlichkeiten erzeugt.
  • Die Verwaltung von Sachen (im Gegensatz zur Herrschaft über Menschen) als Inbegriff der Demokratie, d.h. sie stellt die Spielregeln auf, nach denen Sachen verwaltet werden, ist also primär Verwaltung bzw. nach Max Weber bürokratische Herrschaft. Sie wird den Menschen wie eine Sache „auf seinen Funktionswert reduzieren“ (106). Das prägt das Verhalten in einer „Ethik, die sich sauber auf die Notwendigkeit der Sache beschränkt und die Freiheit der Person ehrlich respektiert“ (105). „Die Aufgabe ist: exakter Vollzug. Die Tugenden sind: Aufmerken, Tempo, Akkuratesse, Aufträge erfüllen, in der Regel bleiben. […] Der Mensch ist – um ein Wort von H. Taine zu gebrauchen – nicht moteur, sondern rouage, nicht Antrieb, sondern Getriebe“ (103), letztlich subtil ferngesteuert, ohne sich dessen bewusst zu sein.
  • Die Systeme funktionieren in Kreisläufen statt in einer statischen, organischen Ordnung – am deutlichsten sichtbar im Handel. Auch Personen werden dadurch Teil von Kettengliedern, sie haben sich an die Abläufe anzupassen, ja sie finden davor keine Rückzugsorte mehr. Es hat auch keinen Sinn mehr, bloß im autonomen „eigenen Raum so [zu] wirtschaften, daß wenigstens darin alles aufs beste bestellt ist, sondern sich auf die Konjunktur ein[zu]stellen, die der Kreislauf heranführt, und to make the best of it“ (110). Diese Konjunkturen – Beispiel Welthandel – sind für den Einzelnen weithin undurchschaubar, aber doch unausweichlich. Darum entwickelt er ihnen gegenüber auch Urteile und Gefühle, die nicht auf realem Erleben, sondern auf seinen Phantasien über ihr Funktionieren beruhen. Grundgefühl ist jedoch der Optimismus: Das Ganze läuft, und es wird auch weiterlaufen.
  • Die Systeme verleihen der Verwaltung Macht, denn sie sichern die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, und wer in den Kreisläufen Schlüsselpositionen einnimmt, kann sie auch entscheidend beeinflussen – rein faktisch und ohne weitere Legitimation. Denn „[e]in Kreislauf hat keine Mitte. Er hat nur lauter Durchgangspunkte und einige Schlüsselpunkte. Die Mächte der neuen Art besetzen die Schlüsselpunkte des Kreislaufs, um ihn als ganzen (oder große Strecken von ihm) unter ihren Einfluß zu nehmen“ (115).

Zwei Folgen resultieren aus sekundären Systemen. Zum einen wird die Welt ideologisch, denn ihre mangelnde Verankerung in gewachsenen Ordnungen und ihre Undurchschaubarkeit verlangt nach einem absoluten Glauben an eine Idee. Das verschleiert eigene Interessen, man sagt nicht „Ich“ oder „Wir“, sondern gibt „objektive“ Erfordernisse als Begründung an. „Die Wahrheit muß wirksam arrangiert, auf Blickfang angeordnet, auf Thesen zugespitzt, zu Schlagworten verdichtet sein“ (121). Zum anderen vereinzeln sie den Menschen, denn sie erfassen ihn stets nur partiell, unter einem bestimmten Zweck. „So steht der Mensch niemals im Mittelpunkt einer verläßlichen Welt, sondern immer im Schnittpunkt von Linien, die ihn – ihn unter anderen – betreffen“ (138). Dasselbe gilt übrigens auch für die Ideologien, denn sie „verbinden nicht, sie schalten gleich, sie ‚integrieren‘“ (143).

3. Was sind mögliche Widerlager gegen die totale Vereinnahmung durch sie? Freyer ist kein Fatalist. Er kennt Kräfte und Verhaltensweisen, die sich der totalen Vereinnahmung durch sekundäre Systeme entziehen. Sind sie stark genug, schaffen sie eine gesunde Balance mit diesen, so dass die Systeme ihre Leistungsfähigkeit beweisen können, ohne den Menschen zu entmenschlichen. Was sind solche Widerstände oder, wie man vielleicht besser sagen würde, Widerlager? Zu suchen sind sie nicht in irgendwelchen Nischen abseits der Systeme, sondern in ihrer Fundierung selbst: „Offene Systeme stützen sich also nicht auf ihr Fundament, sondern zehren aus ihm. Sie bauen sich nicht auf ihm, sondern aus ihm auf, und der Widerstand gegen den Absturz der Form in die Gestaltlosigkeit liegt in ihnen selbst“ (155). Die Kraft gegen diesen Absturz kommt zunächst aus der Einheit der Person, die sich nicht vollständig in bestimmte systemerforderliche Funktionen zerreißen lässt: „Der Mensch hört nicht auf, Person zu sein, wenn er sozialisiert wird“ (160). Doch dafür dürfen die Systeme nicht total werden. Ansonsten wenden sie „alle Mittel auf, um die Fiktion, daß der Mensch ganz im System aufgehe, ohne ihm eine Freiheit oder Eigenheit als Widerstand entgegenzusetzen, zur puren Wirklichkeit zu machen“ (170). Diese Gefahr droht nicht nur in totalitären Staaten, sondern auch im durchgängigen Zugriff der Ökonomie auf das Leben, im umfassenden Versorgungsstaat oder heute in der totalen Vernetzung, also immer da, wo sie „den Menschen nicht als Person nehmen, sondern ihn auf Haltungen reduzieren, die weit elementarer sind“; dann sind ihre „Ansprüche scharf und außerordentlich zugreifend, halten sich aber bewußt im Äußerlichen und sind mehr Festnahme als Engagement“ (172). Wer sich dem auch nur minimal entzieht, wird ein Außenseiter, sein Widerstand wird heroisiert, er stützt und trägt das System nicht, sondern wird als bedrohlich verfolgt  – die Ideologisierung erfordert ihre Opfer.

Das wichtigste Widerlager ist für Freyer aber die Geschichte im Sinn von Herkunft, Prägung, Gewissen und Erbe. Es zeigt sich in der Sprache, die dazu befähigt, sich von der totalen Vereinnahmung zu distanzieren, indem man ihre Mechanismen durchschaut und benennt. Darum erschafft man auch so gerne künstliche Begriffe, Slang und Geschäftsjargon, die nichts anderes bedeuten als dass sie wie Chiffren funktionieren. Das schließt durchaus revolutionäre Umbrüche gegen das Erbe ein, aber eben in bewusster Auseinandersetzung damit und damit frei und selbstbestimmt, nicht einfach von Systemerfordernissen überwältigt. Die Systemmächte neutralisieren dieses Erbe jedoch dadurch, dass sie es historisieren. So wird es „geflissentlich entwurzelt, gleichsam auf Draht gestielt“ (181), „gegenwartsgemäß umgemodelt“ (184) oder am gefährlichsten zeitgemäß umgestaltet, reformiert, um aus einer „längst überholten Form“ den „im ‚Kern‘ erhaltungswürdigen Inhalt“ herauszuarbeiten (186). Dadurch lässt sich der Mythos vom großen Schnitt mit der Vergangenheit verbinden mit historisch konstruierten Legitimationen. Dann wird Geschichte „zur Fundgrube für das, was man in ihr sucht; findet man es aber nicht, so schmuggelt man es ein und findet es dann gewiß“ (182). Letztlich will man den geschichtslosen Menschen schaffen, ohne Vater und ohne Mutter. Am Beispiel der Familie weist Freyer auch nach, wie eine Familienpolitik, die den ökonomischen Druck etwa auf die Geburtenfreudigkeit durch ökonomische Fördermaßnahmen auszugleichen versucht, dabei also systemimmanent bleibt. Damit hätte man nur „eine neue Gleichgewichtslage geschaffen, deren Antriebskräfte dort liegen, wo der Verderb begann“ (203) – Worte, die man den derzeitigen Bemühungen um die sogenannte Vereinbarkeit von Familie und Beruf (oder besser: Anpassung der Familie an die Erfordernisse des Arbeitslebens!) ins Stammbuch schreiben könnte. Bleibt also nur die Paradoxie allen konservativen Handelns, Erbe nicht planen und organisieren zu können, ohne doch auf es verzichten zu können.

Freyer endet mit geschichtsphilosophische Ausblicken und setzt gegen die Illusion des Chiliasmus, also der Verheißung eines neuen Zeitalters, das geduldige Weiterarbeiten am Geschichtsprozess in Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und in der Kraft der Personalität, die sich nicht von den Systemen vollständig hat entfremden, vereinzeln und ideologisieren lassen. Die Aussichten sind nicht schwarz. Doch sie liefern auch keinen Masterplan, denn gerade das hieße ja, den Teufel der totalen Systeme durch den Beelzebub einer konservativen Ideologie auszutreiben.

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