Ernst-Wolfgang Böckenförde
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert (= Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen 86), München 2/2015
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (71). Dieses Prinzip ist einer der großen Leitsätzen der Bundesrepublik, und sicher gehört dieses „Böckenförde-Diktum“ aus einem Vortrag von 1964 (erstmals veröffentlicht 1967) – „mein meistzitierter Satz, der zuweilen mißinterpretiert wird“ (26) – zu den wenigen geflügelten Wort des ansonsten eher trockenen Staatsrechts. Doch wie immer dient Popularität nicht der Genauigkeit des Verstehens, und bei genauerer Betrachtung hat es eine Menge von Voraussetzungen und Folgerungen, die weit über wohlfeile Sonntagsreden hinausreichen. Umso dankbarer darf man der Carl Friedrich von Siemens Stiftung sein, dass sie den renommierten Staatsrechtler und früheren Bundesverfassungsrichter 2006 zu einem Vortrag eingeladen hat, der vierzig Jahre später das damals Postulierte bilanziert und weiterdenkt. Beide Vorträge sind hier dankbarerweise abgedruckt.
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.
Der Vortrag von 1964
Beginnen wir mit dem Beitrag, in dem das Diktum zum ersten Mal formuliert wurde (43-72) und den Böckenförde (* 1930) als Beitrag für die Festschrift des bekannten konservativen Verwaltungsrechtlers Ernst Forsthoff ausarbeitete. Der Rechtswissenschaftler Böckenförde, der auch Geschichte und Philosophie studierte, denkt in gut hegelianischer Tradition Ideen und Institutionen wie die der parlamentarischen, rechtsstaatlichen Demokratie als Ergebnis eines dialektischen Geschichtsprozesses. Danach ist der Staat im Sinn einer von persönlichen Herrschaftsverhältnissen unabhängigen Wirklichkeit erst seit dem Ausgang des Mittelalters bis um 1800 im Entstehen begriffen. Primäres movens bei dieser Entwicklung ist „die Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchformung“ (44), was genau Säkularisation meint. Sie entwickelte sich über drei epochale Stufen:
• den Investiturstreit als Auflösung der Einheitswelt der res publica christiana, infolgedessen „die politische Ordnung als solche aus der sakralen und sakramentalen Ordnung entlassen“ wurde (49), der Kaiser also in religiöser Hinsicht einfach Laie war. Das ging zunächst noch mit dem Suprematieanspruch des Geistlichen über das Weltliche bzw. des Papstes gegenüber dem Kaiser einher, konnte sich aber umkehren und kehrte sich spätestens in der Reformation auch tatsächlich um (so ausdrücklich bei Thomas Hobbes) – eine mittelalterliche Richtungsentscheidung also, die erst nach Jahrhunderten geschichtswirksam wurde;
• die „Neutralitätserklärung gegenüber der Frage der religiösen Wahrheit“ (45) im Zeitalter der Konfessionalisierung Europas und des religiös-politischen Kampfes (Philipp II., Kaiser vs. Reichsstände im Reich und die Hugenottenkriege in Frankreich). War einmal dessen Aussichtslosigkeit erkannt, musste daraus „der sich rein weltlich und politisch aufbauende und legitimierende Staat“ hervorgehen, der prinzipiell über den Religionsparteien stand und so Frieden und Ordnung garantieren konnte (55). Dazu entwickelte er den Begriff eines „formellen Friedens“, „der nicht aus dem Leben in der Wahrheit, sondern aus der Gegenüberstellung zum Bürgerkrieg gewonnen wurde“ und darum prinzipiell Gewissenfreiheit (bzw. zumindest trotz einer bestehenden Staatsreligion Toleranz, sofern dies der Staatsraison entsprach) gewährte (57). Denn der Staat begründete sich wie bei Hobbes aus der zweckgerichteten Vernunft, so daß „Staat und Christentum zusammen bestehen können und die Anerkennung der souveränen staatlichen Entscheidungsgewalt keine Glaubensverleugnung zum Inhalt hat“ (63);
• die Französische Revolution und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verwies die Religion nun ganz in die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, also der Interessen einzelner oder vieler bei grundsätzlicher Religionsfreiheit – radikal fortgeführt in der französischen laicité.
In christlichen Kreisen galt dieser lange Prozess vielfach als Entchristlichung oder einfach als Relativismus und Abschied von der Wahrheitsfrage (1964 war der Kontext die Diskussion um die Religionsfreiheit im Dekret „Dignitatis humanae“ des II. Vaticanums – Böckenförde wirbt dafür, „daß die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“, 72).
Aber auch der in dieser Weise säkularisierte Staat hat Voraussetzungen oder, anders gesagt, bleibt gefährdet. „Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise?“ (72), fragt Böckenförde angesichts der Gefahr, den Staat hauptsächlich aus seinen Sozialleistungen zur Sicherung eines möglichst unbeschwertes Eudaimonismus des Einzelnen zu legitimieren. Eine überaus weitsichtige Frage, die keiner zugespitzter formuliert hat als Ernst Forsthoff und deren Aktualität seitdem nur zugenommen hat. Denn das ist genau die Frage, die inzwischen bereits in vielen Gemeinwesen der westlichen Welt zur Existenzfrage mit ungewissem Ausgang geworden ist. Dort haben wirtschaftliche Dauerkrise, hohe Jugendarbeitslosigkeit, Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten und veraltete Infrastruktur die Bejahung der Demokratie bereits deutlich schwinden lassen.
Welche Antwort gibt der renommierte Staatsrechtler? Vor allem unter Berufung auf Hegel versteht er die Emanzipationsbewegung des Politischen vom Religiösen als in der christlichen Offenbarung selbst angelegt. Damit sind die religiösen Kräfte jedoch keineswegs belanglos geworden, sondern sie nähren die den Staat „tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit“ (69), wie dies bei der Gründung der Bundesrepublik deutlich wurde. Kein christlicher Staat also, wohl aber einer, der die geschichtlich gewachsenen Kräfte des Glaubens benötigt, um die Freiheit seiner Bürger auch von innen her zu füllen. Das genau ist der Ort des genannten Diktums. Denn es ist „zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seinen Bürger vermittelt“ (72). Oder mit Hegel: „Der Staat beruht nach diesem Verhältnis auf der sittlichen Grundlage und diese auf der religiösen. Indem die Religion das Bewußtsein der absoluten Wahrheit ist, so kann das, was als Recht und Gerechtigkeit, als Pflicht und Gesetz, d.i. als wahr in der Welt des freien Willens gelten soll, nur insofern gelten, als es Teil an jener Wahrheit hat, unter sie subsumiert ist und aus ihr folgt. Daß aber das wahrhafte Sittliche Folge der Religion sei, dazu wird erfordert, daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d.i. die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sei“ (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 552).
Der Vortrag von 2006
Was sagt Böckenförde vierzig Jahre später in seinem Vortrag bei der Siemens-Stiftung (11-41)? Noch einmal greift er seine früheren Gedanken auf und legt sie in eleganten, gut nachvollziehbaren Worten erneut vor:
1. der Charakter des religionsneutralen Staates,
2. seine Rechtfertigung und – das ist wirklich neu –
3. seine neuen Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
1. Zum Charakter des säkularisierten Staates erkennt Böckenförde nun „Umfang und Grenzen des Entfaltungsraums religiöser Freiheit im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung“ als entscheidende Frage (15). Dabei gehört seine Sympathie eindeutig dem bundesrepublikanischen Modell einer offenen Neutralität, die der Religion auch in der Öffentlichkeit Entfaltungsraum gewährt, vor der strikten französischen laicité.
2. An Rechtfertigungen – allein der Begriff zeugt von Böckenfördes Sinn dafür, dass die genannten Gefährdungen des säkularisierten Staates mit dem Rückgang des kirchlichen Christentums gewachsen und nicht geschwunden sind! – führt er drei an.
a) Da ist zunächst seine eigene in der Nachfolge Hegels: Der moderne Staat ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Säkularisierungsprozesses des christlichen Europa. Hier taucht zum ersten Mal die geheime These seines Vortrags auf, „daß diese Rechtfertigung ihre legitimierende Kraft als Barriere gegen ein mögliches Vordringen eher fundamentalistisch orientierter Bewegungen behält oder wiedergewinnt und ebenso in der Auseinandersetzung mit dem Islam, der bisher kaum in der Lage scheint, eine grundsätzliche Trennung von Staat und Religion zu akzeptieren“ (18).
b) Daneben stellt er nun die Begründung aus den Menschenrechten und näherhin der Religionsfreiheit. Diese will er wiederum bundesrepublikanisch auch als positive und öffentliche verstanden wissen und den öffentlichen Raum nicht im Sinn der laicité religionsfrei halten.
c) Der Dritte im Bunde ist nun die katholische Kirche selbst, die mit ihren Päpsten seit dem II. Vaticanum zu einer vehementen Fürsprecherin der Religionsfreiheit (in Böckenfördes Sinn!) geworden ist.
3. Wirkliches Neuland betritt Böckenförde mit der Frage, woher „das Maß an vor-rechtlicher Gemeinsamkeit und tragendem Ethos“ zu gewinnen ist (24). Dabei fällt seine Bilanz ernüchternd aus:
• Lebendige, das Verhalten prägende Religiosität ist, was das Christentum hierzulande angeht, gegenüber 1964 deutlich rückläufig – „teilweise auch durch Selbstsäkularisierung innerhalb der Kirchen“ (27)!
• Die häufig in diesem Zusammenhang angerufene „Zivilreligion“ bleibt ambivalent, insbesondere im Rousseau‘schen Sinn einer latent gesinnungstotalitären religion civile: „Denn solche bürgerliche Religion, als Wertefundament der staatlichen Ordnung deklariert, ist aus sich intolerant. Sie verlangt ein positives Bekenntnis, man muß einstellungs- und gesinnungsmäßig auf ihrem Boden stehen, Abweichungen kann sie nicht dulden, Freiheit gibt es nur auf ihrer Grundlage und in ihrem Rahmen“ (28f.). Eine scharfsichtige Analyse der Widersprüche eines „Wertordnungsfundamentalismus“ (30), welche die eifrigsten der besorgten Demokraten bisweilen an den Tag legen! Anders die Weisheit des Bundesverfassungsgerichtes in seinem Urteil zu den Zeugen Jehovas: Man kann den Staat als Werkzeug des Bösen ansehen – das behaupten zu dürfen ist Teil seiner Freiheiten! -, wenn nur „die Rechtstreue im Sinne loyaler Befolgung der geltenden Gesetze maßgeblich“ gegeben ist (30).
• Ohnehin ist Kultur fließend: „Ihre prägende Wirkung kann sich in ein beliebiges Vielerlei verflüchtigen, auch ist sie als haltende Kraft nicht gegen ein mediales Zerbröseln gefeit“ (31).
Ein anderer Problemkreis erscheint mindestens ebenso aktuell: Diejenige Religion, die den Prozess der Säkularisierung erst möglich gemacht hat und darin ihr eigenes Wesen nur noch tiefer erkannte, ist das Christentum. Noch expliziter hatte Hegel gefordert, „daß die Religion den wahrhaften Inhalt habe, d.i. die in ihr gewußte Idee Gottes die wahrhafte sei“. Lässt sich diese Rolle im öffentlichen Leben auch auf andere Religionen übertragen, „ohne daß der kulturelle Sockel, auf dem er [sc. der Staat] aufruht, sich zunehmend parzelliert, aushöhlt und seine verbindende Kraft einbüßt“ (32)? In diesem Zusammenhang erwähnt Böckenförde einen aufschlussreichen Briefwechsel mit Joseph Ratzinger, in dem dieser auf die bleibend konstitutiven Wurzeln des modernen Staates im Christentum hinwies und was sich etwa im Schutz des Sonntags oder einer bestimmter Auffassung von Ehe und Familie manifestiere. Dem stimmt der Staatsrechtler zu, er nimmt nur selbstverständlich und sicher auch im Sinne Ratzingers die eigentliche Freiheit der Religionsausübung von einem solchen Kulturvorbehalt im Sinne eine „Leitkultur“ aus. Dann geht er selbst in die Offensive und fordert „freiheitsbezogene, aber auch freiheitsbegrenzende Gesetze, deren Einhaltung und Beobachtung denn strikt durchgesetzt wird“ (35). Daraus entsteht näherhin für den Islam ein Angebot mit zwei Seiten: Wie im Fall der Zeugen Jehovas genügt Gesetzesloyalität trotz vielleicht innerer Vorbehalte, andererseits darf ihm nicht die Gelegenheit gegeben werden, „unter Inanspruchnahme der Religionsfreiheit und Ausnutzung demokratische Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen und schließlich abzubauen“ (39). An dieser Stelle wird Böckenförde auf einmal tagespolitisch: Ein dauerhaft ablehnendes Verhältnis des Islam zur Religionsfreiheit hätte zur Folge, dass er in einer Minderheitsposition bleiben müsste. „Das würde gegebenenfalls entsprechende politische Gestaltungen im Bereich von Freizügigkeit, Migration und Einbürgerung notwendig machen“ (39). Ohne sich selbst aus einer fundierten Kenntnis der verschiedenen Strömungen dieser Religion eine Antwort geben zu können, schließt er nachdenklich und, wie gesehen, ganz hegelianisch: ob nicht vielleicht das Vernunftfundament des säkularisierten Staates „womöglich an den antik-jüdisch-christlichen Kulturkreis im Reflexionshorizont der Aufklärung gebunden ist“ (41)?
Ertrag
Man kann Böckenförde einem liberalkonservativen Spektrum zuordnen, das maßgeblich das Denken der bürgerlichen Mitte in der Bundesrepublik mitbestimmt hat und zu dem so illustre Namen wie Odo Marquard, Herrmann Lübbe, Martin Kriele und Robert Spaemann gehören. Es sind Denker des Maßes, des Ausgleichs und – oft im Gefolge der Hegeldeutung Joachim Ritters – der Vermittlung von Polen. Diesen Geist in eine prägnante Formel gegossen zu haben, ist dem „Böckenförde-Diktum“ zweifellos gelungen. Damit wird Geschichte, insbesondere die des Verhältnisses von Religion, Staat und Öffentlichkeit, nicht einseitig auf die Idee der Emanzipation und Überwindung gebracht, sondern das in ihr Gewachsene geht bleibend in die Voraussetzungen des modernen Staates und seines Bestandes ein. Deutlich ist, dass Böckenförde diese Vermittlung inzwischen von verschiedenen Seiten unter Druck sieht: schwindende Lebensbedeutung des Christentums, Selbstsäkularisierung der Kirchen und ein intoleranter „Wertordnungsfundamentalismus“ auf der einen, Verlust der relativen Homogenität der Gesellschaft und vor allem Präsenz von Religionen, die diesen geschichtlichen Prozess hin zur Bejahung der Religionsfreiheit (noch?) nicht durchlaufen sind, auf der anderen Seite. Klassisch konservativ ist angesichts dessen das Beharren auf einer starken tragenden Rechtsordnung, die Freiheitsräume zugleich eröffnet und um des Gemeinwohls willen begrenzt. Ebenso, dass von allen nicht Gesinnungsgefolgschaft, sondern Rechtstreue gefordert und ihr Versäumnis auch sanktioniert wird. Liberalkonservativ und gleichzeitig wegweisend daran ist es, dass innerhalb der starken, selbstbewussten Rechtsordnung Räume der Freiheit verteidigt werden, auch wo sie unbequem oder gar riskant erscheinen. Doch auch dieses Risiko wird nicht blind eingegangen, sondern mit klar definierten Bedingungen und Grenzen. Damit lässt sich gelassen in die Zukunft gehen.
Weiterführend zur Thematik finden sich verschiedenen Beiträge in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Münster 2007.- Zum “Liberalkonservatismus” vgl. Jens A. Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
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