Denn gebt, dann wird auch euch gegeben werden. […] denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch eich zugeteilt werden (Lk 6,38)
Ja, man kann nicht genug darüber staunen: Die Menschen riefen „Kreuzige ihn!“, Christi Antwort aber ist das neue Leben: Friede sei mit euch! Er sieht die Kreuziger – und sieht darin die Verblendung, die Irreführung, das Rennen ins Verderben. Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Auf der einen Seite das Elend der Bosheit, auf der anderen Seite das unerschöpfliche Mitleid. Die Menschen… erbärmlich. Gott… barmherzig.
So ist die Barmherzigkeit wie nichts anderes zum Erkennungszeichen der Christen geworden. Wenn Gott so unendlich barmherzig ist, dann darf seinen Gläubigen das Herz nicht hart und kalt werden. Tätiges Mitleid, das erweist als Christen. Und wirklich, das Heidentum zeigte sich oft gefühllos gegenüber dem Schwachen. Der Philosoph Platon, einer der edelsten Geister des alten Griechenland, wollte doch in seinem Idealstaat die Armen des Landes verweisen. Und der weise Seneca wollte seine stoische Ruhe und seinen Seelenfrieden nicht durch Mitleid stören lassen. „Ich sehe nichts, will ich nichts sehen will,“ war seine Devise. Und heute? Man hat schon den Eindruck, je mehr sich das Christentum zurückzieht, umso mehr schwinden auch echtes Mitleid und Barmherzigkeit. Zum Beispiel Sozialstaat. Er ist geboren aus einem tief christlichen Mitleid mit der Not ganzer Bevölkerungsschichten infolge der Industrialisierung. Heute aber verbindet er sich vor allem mit Ansprüchen, die möglichst lautstark eingeklagt werden, um politisch Gehör zu finden. Dazu schürt man manchmal sogar Neid und Unzufriedenheit und verbreitet nicht selten das Zerrbild, bevor nicht alle gleich viel hätten, bestünde eine „Gerechtigkeitslücke“. Historisch gesehen ist das übrigens der Unterschied zwischen der sozialistischen und der christlichen Idee von sozialer Gerechtigkeit: Nivellierung oder „Jedem das Seine“. „DDR 2.0“ hat mancher darum die Bundesrepublik genannt – nur dass man manchmal den Eindruck hat, diese neusozialistische Republik erstreckt sich inzwischen schon über halb Europa.
Aber wir wollen nicht politisieren, sondern uns selbst fragen: Was ist Barmherzigkeit? Oder noch praktischer: Wie geht Barmherzigkeit?Und zwar an dieser Stelle in Form von materieller Unterstützung, Spenden und tatkräftiger Hilfe.
Unsere Beobachtungen zum Sozialstaat zeigen schon: Barmherzigkeit braucht Maßstäbe. Unbestechlich muss sie wissen, wem wann und wie zu helfen ist. Was ist ihre Aufgabe? Nun, schlicht Not sehen und handeln. Genauer: sich das Elend eines Anderen zu Herzen gehen lassen – und sich dann mit einem kühlen Kopf fragen, wie man effektiv helfen kann. Es gibt die Not des Leibes und – leider viel weniger in den Schlagzeilen – die Not der Seele. Darum kennt die Kirche die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit. Die leiblichen lauten:
Hungrige speisen
Obdachlose beherbergen
Nackte bekleiden
Kranke besuchen
Gefangene besuchen
Tote begraben
Almosen geben
Die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit kommen im staatlichen Handeln nicht vor. Sie sind:
die Unwissenden lehren
die Zweifelnden beraten
die Trauernden trösten
die Sünder zurechtweisen
den Beleidigern gern verzeihen
die Lästigen geduldig ertragen
für die Lebenden und Verstorbenen beten
Bleiben wir an dieser Stelle noch bei den leiblichen Werken der Barmherzigkeit. Denn nicht jeder kann in gleicher Weise helfen, und jedem muss auf unterschiedliche Weise geholfen werden.
Maßstäbe des Handelns
Nennen wir einige Maßstäbe für ein kluges, großzügiges Unterstützen anderer:
1. Der Sozialstaat, die hohe Steuerlast, die zu großen Teilen aus sozialen Abgaben bestehen, und die internationale Gemeinschaft haben heute einen Großteil der Grundsicherung übernommen. Da ist sicher vieles reformbedürftig, dennoch dürfen wir sagen: Der Sozialstaat hilft, krasse Armut und Chancenungleichheit zu lindern, und dies besser, als es einzelne Privatleute könnten. Durch Steuern und den wachen politischen Sinn seiner Bürger steht der Sozialstaat nicht nur unter dem Anspruch der sozialen Gerechtigkeit, sondern er drückt auch die Barmherzigkeit der Bevölkerung aus. Umgekehrt tragen sie für ihn Verantwortung – auch dagegen, dass er aus dem Ruder läuft, sich immer mehr aufbläht, Armut nicht überwindet, sondern verstetigt oder, wie gesagt, Neid und Unzufriedenheit schürt oder Menschen in selbst verschuldeter Armut verharren lässt anstatt von Dankbarkeit und Motivation, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
2. Dennoch gibt es auch weiterhin die Hilfe von Mensch zu Mensch. Da der Staat einen Großteil der materiellen Sicherung und Unterstützung übernimmt, wird sie heute zunehmend in Formen der Zuwendung bestehen, die mehr als bloßen Geldwert haben: spontane Anteilnahme, sich Zeit nehmen, zuhören, ermutigen, Treue zeigen usw. Beinahe fließend gehen da die leiblichen Werke der Barmherzigkeit in die geistliche über. Wunderbar ist die jüdisch-christliche Haltung in dem Wort zusammengefasst: Fürchte deinen Gott und dein Bruder soll neben dir leben können! (Lev 25,36). Dabei gilt durchaus: Nächstenliebe geht vor Fernstenliebe. Je näher vor der eigenen Tür, umso dringlicher, und das, auch wenn wir heute Bilder aus aller Welt täglich frei Haus geliefert bekommen. Dennoch verbindet uns eine größere Liebe mit den nächsten Angehörigen, dann auch mit Nachbarn und Freunden, schließlich auch mit dem eigenen Volk. Auch eine besondere Verbundenheit unter Christen in aller Welt versteht sich von selbst. Es ist dagegen eine Unart, die Not in der Welt den Leuten so aufzudrücken, dass sie vor lauter schlechtem Gewissen das Nächstliegende vergessen. Es bleibt legitim, für die Seinen zu sorgen. Es bleibt auch legitim, nationalen Interessen wie Sicherheit und kultureller Homogenität einen gewissen Vorrang zu geben. Einen gewissen Vorrang, das heißt dann aber auch nicht wieder, die eigenen Kinder mit guten Gaben zu überhäufen und zu verwöhnen, den Rest der Welt aber mit lauwarmen Worten abspeisen – das wäre der blanke Familienegoismus. Denn Vorrang heißt nicht kalte Schulter gegenüber der Not der Welt, sondern einfach: „im Rahmen des Möglichen“ sowie menschlich und politisch vernünftig.
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,40)
3. Das Maß der Hilfe für den Nächsten hängt von der Schwere seiner Not sowie von den eigenen Möglichkeiten ab. Dringlichkeit und eigene Möglichkeiten also. Zur Einschätzung beider kennt man traditionell eine sehr praktische Stufenleiter:
1. Das nackte Überleben hat oberste Priorität, also das tägliche Brot und ein Dach über dem Kopf – etwa in Katastrophen oder, wie man sich hierzulande erinnert, im Fall der Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Krieg. Da muss man unbedingt helfen und alles andere hintanstellen.
2. Das standeserhaltende Niveau, die Grundsicherung, also alles, was ich brauche, damit ich und meine Familie nicht in Armut fallen. Man könnte hier etwa vom Absinken auf Sozialhilfeniveau sprechen. Zum Niveauerhalt gehört übrigens auch die notwendige Altersvorsorge, für die jemand momentan vielleicht durchaus einen gewissen Reichtum mit langfristig angelegten Ersparnissen und ggf. auch Immobilien besitzt.
3. Das standesgemäße Leben, also das, was Leute in meiner Position üblicherweise brauchen, etwa ein Auto oder ein Telefon. Aber Vorsicht: Damit ist nicht jeder übliche Luxus gemeint, sondern das, was ein bescheidenes, ehrbares Leben in meinen Verhältnissen umfasst.
Und eine vierte Stufe? Nun, alles, was darüber hinaus geht, ist Überfluss. Schön, wenn man da hat, doch dann gilt: Nicht nur Adel verpflichtet, sondern auch Überfluss. Überfluss schafft Pflichten, denn ich kann dann mit meinem Besitz nicht einfach tun und lassen, was ich will. Das ist vielen gar nicht bewusst: Eigentum verpflichtet. Sprechend ist schon die uralte Regel: Du sollst keine Nachlese von deiner Ernte halten. […] Du sollst sie dem Armen und Fremden überlassen (Lev 19,9f.). Keine Raffgier, sondern Großzügigkeit gegenüber dem Bedürftigen. Denn gebt, dann wird auch euch gegeben werden. […] denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden (Lk 6,38). So gilt als Faustregel: Je mehr Überfluss, umso großzügiger muss man geben. Und gleichzeitig: Je größer die Not des Anderen, umso dringender muss ich helfen – selbst wenn ich nicht im Überfluss lebe. Dafür kennen wir das Lob Jesu für die arme Witwe, die im Tempel nur einige Groschen spendete: Alle anderen haben nur etwas von ihrem Überfluss geopfert; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat ihren ganzen Lebensunterhalt hergegeben (Lk 21,4).Ein kleines Apropos: Ein gutes Herz für Bedürftige, das steht jedem gut an. Schaut man aber auf Gestalten wie die hl. Elisabeth, so sieht man: Güte, Milde, Mitleid und Fürsorge ist etwas vom Schönsten, was besonders Frauen anderen erweisen können.
Geben mit kühlem Kopf, das bedeutet beispielsweise:
• Natürlich kann man nie allen helfen, sondern nur Wenigen. Dafür muss man sich keine Vorwürfe machen, wenn man nur grundsätzlich sein Herz nicht verschließt.
• Auch soll man sich beim Helfen nicht ausnutzen oder für dumm verkaufen lassen. Jemand, der sich selbst helfen könnte, wird man genau darauf hinweisen.
• In einem Punkt bleibt der Unterschied von selbst verschuldeter und nicht selbst verschuldeter Not wichtig, wenn es nämlich um mehr als die Stufe des nackten Überlebens geht. Dann nämlich haben Menschen, denen einfach nur ein Unglück zugestoßen ist, Vorrang vor denen, die sich willentlich verelendet haben.
• Auch kollektive Formen einer Art von humanitärer Erpressung wird man nicht erliegen. Auch im globalen Maßstab gilt ja allzu oft: „Die im Dunkeln sieht man nicht.“ D.h. die Elendesten sind oft nicht die, die am offensivsten Hilfe einfordern.
Wie sagten wir? Barmherzigkeit ist, sich das Elend eines Anderen zu Herzen gehen lassen – und sich dann mit einem kühlen Kopf fragen, wie man effektiv helfen kann.
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, sagt Jesus (Mt 25,40). Der Herr hat uns unendlich viel Barmherzigkeit erwiesen mit seinem Opfertod am Kreuz und seiner Auferstehung. Sollten wir da nicht unser Herz ein wenig gegenüber echter Not auftun?
[Dieser Text kann mit Nennung des Autorennamens „Andreas Wollbold“ auch in Pfarrbriefen, in Kirchenzeitungen oder auf Flyern o.ä. abgedruckt werden. Gerne kann er auch als Anregung für Predigten, Vorträge usw. dienen.]