Sommerrätsel 2023 – die Auflösung
Der Sommer ist vorbei, und so steht auch die Auflösung unseres Sommerrätsels an. Diesmal ging es um gleich zwei Werke eines bedeutenden Autors, zwei Erzählungen von verdrängter Schuld. Der gesuchte Autor ist einmal wieder Franz Werfel (* 10.9.1890 Prag, gest. 26.8.1945 in Beverly Hills), der schon einmal im Sommerrätsel 2017 des Rätsels Lösung war. Die beiden Erzählungen sind dieses Mal
- Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld (1928)
- Eine blaßblaue Frauenhandschrift (1941)
Die zwei sind in der Tat thematisch und motivisch eng miteinander verwandt: Ein etablierter Bürger in der Mitte seiner Jahre – der Landgerichtsrat Sebastian und der Sektionschef im Wiener Kultusministerium Leonidas – wird unvermutet mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Jedes Mal geschieht dies in der Form eines Juden bzw. einer Jüdin, denen gegenüber die Hauptperson schwere Schuld auf sich geladen hat. Im Abituriententag ist dies ein Untersuchungshäftling namens Franz Adler, in dem Sebastian einen Mitschüler und ihm geistig überlegenen Rivalen erkennt. Ihrer beider Geschichte schreibt er wie im Bekenntniswahn in einer einzigen Nacht nieder. Als Oberstufenschüler wurde damals aus einer gewöhnlichen Adoleszenz mit Angebereien, Kameradschaft und geistig-kulturellen Allüren eine atemberaubende Talfahrt in die Dekadenz, in die Lust daran, verkommen zu sein – und Sebastian in den Sumpf hineinzuziehen und zu vernichten. Das böse Erwachen geschieht in Form des bevorstehenden Sitzenbleibens der beiden, das Sebastian – der spätere Richter und Rechtshüter! – durch Urkundenfälschung im Noteneintrag des Klassenlehrers abzuwenden sucht, am Ende aber Franz die Schuld auf sich nehmen lässt und ihn in die Flucht treibt – für Sebastian selbst die Traumlösung, erkauft jedoch mit der Vernichtung des jüdischen Freundes! Eine Lebensbeichte ohne Absolution und Erlösung!
In „Eine blaßblaue Frauenhandschrift“ findet sich dieselbe Meisterschaft des Erzählers, mit der der sich zuschnürende Strick der Ausweglosigkeit jenseits der Anerkenntnis der eigenen Schuld Seite um Seite an Dramatik gewinnt. Sebastian, der Emporkömmling, hat dank des Fracks eines jüdischen Kommilitonen, der sich – sicher angesichts des Nazismus – das Leben genommen hat, als glänzender Tänzer eine noch glänzendere Partie verschafft und dank dieser seiner Frau Amelie Karriere im Ministerium gemacht. Doch da ist der dunkle Punkt, seine leidenschaftliche Affäre mit Vera Wormser als frisch Verheirateter vor 15 Jahren. Damals hatte sie ein Kind erwartet, doch er hatte jede Verbindung mit ihr abgebrochen, um seine Ehe, sein bequemes Leben und seine erfolgreiche Laufbahn nicht zu gefährden. Heute, an seinem 50. Geburtstag, erhält er neben dutzenden Gratulationen auch einen Brief von Vera, die ihn um seinen Einfluss für einen „jungen begabten Menschen, der aus den allgemein bekannten Gründen in Deutschland sein Gymnasialstudium nicht fortsetzen darf und es daher in Wien vollenden möchte“, bittet. Bald wird es ihm zur Gewissheit: Dabei handelt es sich um seinen eigenen Sohn! Für einige Stunden erscheint es, als wolle er mit dieser Gewissheit auch ein neues Leben beginnen: „Ein Kind zu haben, das ist keine geringe Sache. Erst durch ein Kind ist der Mensch unrettbar mit der Welt verflochten, in die gnadenlose Kette der Versuchungen und Folgen.“ Doch schließlich stellt sich alles als Irrtum heraus (wie übrigens auch im „Abituriententag“) – oder vielleicht doch als tiefere Wahrheit? Am Ende geht sein bisheriges Leben weiter – nur müde und leblos, denn dieser Tag war „ein Angebot zur Rettung. […] Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.“
Neugierig gemacht? Meinerseits verdienen die beiden Erzählung jedenfalls in jeder Hinsicht eine uneingeschränkte Empfehlung. Durch den brutalen Angriff auf Israel haben sie ja nur noch an trauriger Aktualität gewonnen.
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