Georg Gänsweins Erinnerungsbuch über Papst Benedikt XVI.

Georg Gänswein, Nient’altro che la verità. La mia vita al finaco di Benedetto XVI, Edizione Piemme 2023. 336 S. Ca. 20,- € (Kindle: 11,99 €).

Am Anfang stand Schweigen, und in Stille vollzog sich das Ende. 19. April 2005, am frühen Nachmittag. Joseph Ratzinger, als Kardinaldekan Wahlleiter im Konklave, begab sich zu Fuß von Santa Marta in die Sixtinische Kapelle, anstatt die anderen Kardinäle im Minibus zu begleiten. Zu voll war der Kopf und zu bang das Herz über das, war sich in den ersten drei Wahlgängen immer deutlicher abzeichnete: Statt des endlich erhofften Ruhestandes wurde ihm die Bürde des Petrusdienstes auf die Schultern gelegt. So gab er auf diesem Weg kein Wort von sich. Zeuge dessen war Georg Gänswein, sein Privatsekretär seit 2003. Knapp acht Jahre später: 28. Februar 2013. Gänswein saß neben Benedikt XVI., als der Hubschrauber in den letzten Stunden des Pontifikates den Apostolischen Palast in Richtung Castelgandolfo verließ. Der Pilot schwenkte eine Ehrenrunde um den Cupulone des Petersdoms und überflog die römische Altstadt, bevor sie das Zentrum der katholischen Christenheit in den römischen Abendhimmel hinein verließen. Die Hauptperson – gedankenverloren, ins Gebet versunken. Weiterlesen

Joseph Ratzinger, Wendezeit für Europa?

Joseph Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln-Freiburg i.Br. 1991

Zugang zum Denken großer Geister erhält man am besten durch die Hintertür, d. h. durch Gelegenheitsschriften, Gedankenskizzen und anlassbedingte Reden. So sind wohl die beste Einführung in Freuds Psychoanalyse dessen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, die er für gebildete Laien mit leichter Hand und ohne allen fachlichen Ballast vorgetragen hat.[1] Joseph Ratzinger ist ein großer Theologe, aber durchaus auch ein politischer Denker, ja ein Prophet, der hellsichtig Spreu vom Weizen trennt und die Welt auf ihre letzten Gründe zu durchschauen sucht. Der vorliegende Band, eine Sammlung von sechs Reden und Aufsätzen aus den Jahren rund um die Wende 1988-1991, stellt eine solche Hintertür dar. Leicht fasslich und mit jener suggestiven Kraft der Rede, die bis heute eine treue Schar von Ratzinger-Jüngern versammelt, legt er seine großen Themen zwischen Kirche und Welt dar:

  • Glaube und Unglaube als das eigentliche Drama unserer Zeit,
  • Relativismus, ja Nihilismus als Frucht des Unglaubens auch in der Kirche,
  • vielfältige Ersatzreligionen wie Fortschrittsglaube, marxistische, materialistische und christlich verbrämte Hoffnungen auf das irdische Paradies,
  • Nationalismus als Leugnung der katholischen Einheit,
  • die letzte Bindung der Werte an Gott und damit der menschlichen Willkür entzogen und
  • die Begründung des Rechtes in einer überzeitlichen, allgemeingültigen, in der Schöpfungsordnung gründenden Gerechtigkeit.

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Zum Gründonnerstag 2019: Benedikt XVI., der Missbrauch und die Eucharistie

Benedikt XVI. hat eindringliche Worte zu den schrecklichen Tatsachen des sexuellen Missbrauchs gefunden.[1] Selten wurde in den letzten Monaten solche Klarheit der Analyse, Tiefgang der Erforschung der Hintergründe und Entschiedenheit der Konsequenzen vorgetragen. Die leider oft unschöne Kritik beruhte auf voreingenommener und oberflächlicher Lektüre. So hat man nicht beachtet, dass der emeritierte Papst keine umfassende Analyse vorlegen wollte, sondern „den einen oder anderen Hinweis zur Hilfe in dieser schweren Stunde“ (75) gab. Die angeführten Gründe verstehen sich nicht als Alternative zu anderen sachgerechten Punkten. Noch weniger hat er der Gesellschaft, näherhin dem 68er-Geist, die Schuld für diese Verbrechen zugeschrieben, um die Kirche von Schuld freizusprechen. Die historischen Überlegungen in I. bemühen sich vielmehr, „den allgemeinen gesellschaftlichen Kontext darzustellen, ohne den das Problem nicht verständlich ist“ (75). Bei der engen Verflechtung von Kirche und Kultur war eine solche Kontextualisierung auch wirklich dringend geboten. Weiterlesen

Alte Messe – jetzt wieder da!

Eine kleine „nota praevia explicativa“ nach „Traditionis Custodes“ (2021)

Ist mein vor vier Jahren verfasster Blog nach „Traditionis Custodes“ noch aktuell? Ja, vielleicht sogar aktueller denn je. Denn das Bewahren der Tradition ist sein Kernanliegen, und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die katholische Kirche dazu auch die lebendige Berührung mit dem Herzstück aller Tradition braucht, der eucharistischen Liturgie.  Ist dem aber nicht jetzt ein Riegel vorgeschoben? Sicher nicht. Denn wie alle Festlegungen rein kirchlichen Rechtes ist auch dieses Motuproprio in rechter Weise zu lesen. Zu einer solchen sachgerechteren Lektüre gehören

  • die großen Prinzipien kirchlicher Rechtsauslegung wie die Beachtung der „mens legislatoris“ (Aussageabsicht, vgl. CIC c. 17) bzw. der „ratio legis“ (Zweck),
  • die Bedeutung der Rezeption – ggf. auch als „non-usus (allgemeine Nichtbeachtung)“ oder „desuetudo (außer Beachtung Fallen)“ – sowie dem Ausbalancieren mit dem Gewohnheitsrecht (vgl. CIC cc. 23-28) -,
  • von Rechtsanwendungsprinzipien wie der „aequitas canonica (kanonische Billigkeit, vgl. CIC c. 19)“ mit ihrem Maßnehmen am Seelenheil,
  • die enge Auslegung von Verboten und
  • nicht zuletzt das Gebot der Wahrung des guten Rufes der Gläubigen (CIC c. 220).

Denn Recht ist in der Kirche immer sinngebunden, es muss darum verstanden und ins Gesamt des Glaubens und der kirchlichen Ordnung integriert werden. Damit stellt es das Gegenteil von striktem Befehl und blindem Gehorsam dar. Dass rein kirchliches Recht auch für den Einzelfall das Gewissen zu einer genauen Prüfung des rechten Vorgehens herausfordert, darf ebenfalls nicht vergessen werden.

Den Sinn von „Traditionis Custodes“ herauszustellen ist nicht schwer, denn Papst Franziskus hat ihn in seinem Begleitbrief unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: die Beendigung des Missbrauchs der alten Messe als Instrument der Kirchenspaltung und der Verweigerung der grundsätzlichen Annahme des II. Vaticanums. Wo dies geschieht, bleibt tatsächlich kein Spielraum für ihre Zelebration. Das hat Papst Benedikt XVI. nicht anders gesehen. Wenn man aber „Traditionis Custodes“ und noch mehr seinen Begleitbrief nicht als eine gewaltige Rufschädigung weiter Kreise von Gläubigen und Priestern auffassen will, die sich nach „Summorum Pontificum“ gebildet haben, so als wären sie alle impertinente Konzilsverweigerer, die die Liturgie als Kampfmittel missbrauchen, und als wären die Priester ichsüchtige Wichtigtuer, die die Gläubigen schamlos für ihre Zwecke einsetzen, dann muss man ganz schlicht sagen: Das Motuproprio trifft einen Großteil der in den letzten Jahren gewachsenen Praxis nicht. (Da haben wir einmal wieder die berühmte Unterscheidung von „quaestio iuris“ und „quaestio facti“.) Deshalb ist eine sogenannte restriktive (einschränkende) Interpretation des Motuproprio geboten, ja unumgänglich. Darum wird seine Rezeption im möglichst vertrauensvollen Miteinander der Bischöfe und der interessierten Gläubigen und Priester entwickelt werden. Wirkliches geistliches Leben aus der Liturgie wird gefördet und nicht verhindert werden. Dabei werden die Oberhirten gewiss Augenmaß und Großmut walten lassen, solange nicht manifeste schismatische Bestrebungen vorliegen.

Vor zehn Jahren hat Papst Benedikt XVI. mit dem Motuproprio „Summorum Pontificum“ die alte Messe wieder zugelassen. Am 7. Juli 2017 war das gerade zehn Jahre her, und das Jubiläum hat viel Aufmerksamkeit erregt. Doch eigentlich noch viel wichtiger ist der 14. September 2007, der Tag nämlich, an dem das Motuproprio in Kraft trat. Seit diesem Tag kann jeder katholische Priester die alte Messe ohne besondere Erlaubnis zelebrieren, und ebenso haben Gruppen von Gläubigen ein Recht auf diese Messe. Weiterlesen

Habeo Papam

„Annuntio vobis gaudium magnum. Habemus Papam: Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Josephum Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem… Ratzinger, qui sibi nomen imposuit Benedictum XVI.“

Foto: Quelle http://www.flickr.com/photos/djsacche/185335570/

Zweierlei ist mir von jener goldenen Abendstunde des 19. April 2005 im Gedächtnis geblieben: die geradezu genüsslich in die Länge gezogene Kunstpause nach dem Vornamen, im sicheren Gespür dafür, dass beinahe jeder zweite ordentliche Priester José, Giuseppe, Sepp oder eben Joseph heißt; außerdem die einfache schwarze Strickjacke unter dem Talar, die der sicher nicht mit der Konstitution eines oberbayerischen Gebirgsschützen ausgestattete Gendarmensohn aus Marktl am Inn vorsorglich in die Sixtina mitgenommen hatte und die er, sicherlich ob der Wahl leicht ins Schwitzen gekommen, oben auf der Loggia, einem trügerischen Frühling und auffrischenden Aprilwinden ausgesetzt, klugerweise nicht ablegen wollte. Weiterlesen