Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal…

„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus“, so möchte man zu den biblischen Worten über das Vergeben von Schuld, den Verzicht auf Rache und die Feindesliebe sagen. Etwa dieses: Groll und Zorn sind abscheulich, nur der Sünder hält daran fest (Sir 27,30). Ähnlich sagt der hl. Johannes: Wer seinen Bruder hasst, ist ein Mörder (1 Joh 3,15). Jesus wird von Petrus gefragt: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal (Mt 18,21f.).

Es gilt nicht mehr das alttestamentliche Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern es heißt in der Bergpredigt: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin!; Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen! (Mt 5,38f.). Und: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein (Mt 5,22, vgl. Mt 5,43-46). Noch am Kreuz betet Jesus um Verzeihung: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Sind das alles nicht allzu große Worte?
• Soll man nicht feigen Terroristen die Pest an den Hals wünschen können?
• Muss man sich alles gefallen lassen und darf sich nicht wehren, wenn einem Unrecht geschieht? Sind dann nicht die Ehrlichen wieder einmal die Dummen?
Sind diese biblischen Sätze also Worte, die nicht helfen, das Leben zu meistern, sondern die wie Mühlsteine um den Hals schwer nach unten ziehen? Hohe Ideale, tauglich nur für Sonntagsreden und nicht für den Staub des Alltags? XXL-Größen für Schmalhänse? Nein, wir müssen sie nur richtig verstehen. Richtig, das heißt mit der Kirche und ihrer Lehre von der Feindesliebe. Sie zeichnet sich nämlich 1. durch Klarheit im Grundsätzlichen, gleichzeitig aber 2. durch Klugheit und Augenmaß im Konkreten aus.

1. Klarheit im Grundsätzlichen

(a) Das Prinzip ist umwerfend einfach und urchristlich: Jeder Mensch hat unsere Liebe verdient. Ausnahmslos und egal, was er getan hat. Punkt. Denn er ist ein Geschöpf Gottes, von Gott ins Dasein gerufen und dazu bestimmt, einmal in den Himmel zu kommen. Hass, Rache, Vernichtungswille ist eines Menschen, mehr noch eines Christen unwürdig und Sünde. Also: niemals jemanden hassen oder vernichten wollen! Den Respekt vor der Person von der Abscheu über seine Taten trennen! Das ist wie bei ansteckenden Krankheiten: Je schwerer die Krankheit rings um uns tobt, umso mehr muss man sich vor der Ansteckung schützen. Nur als Gesunder kann ich helfen, nicht als ebenso schwer Erkrankter wie die anderen. Darum führt das Auge um Auge, Zahn um Zahn ins Nichts. Das ist auch psychologisch wichtig. Hass ist (wie etwa auch Angst) ein sogenanntes dominantes Gefühl, d.h. es drängt sich in den Vordergrund und verdrängt alles andere. Wenn ich ihn darum nicht in den Griff bekomme, wird er chronisch und beherrscht mich, mein Denken, Fühlen und Handeln. Ich werde ganz auf den fixiert, den ich hasse. Gerade weil mein Herz dann aber nicht mehr in hellen Flammen steht, sondern eher untergründig schwelt, merke ich gar nicht mehr, wie sehr ich mich davon leiten lasse. Ich bin zum gehetzten Jäger geworden. Wenn ich dagegen das Spiel von Hass und Rache nicht mitmache, sammle ich die berühmten glühende Kohlen auf sein Haupt (vgl. Röm 12,20 = Spr 25,21f.). Hinzu kommt etwas, worauf die alten Mönche größten Wert legten: Eine solche Fixierung fesselt das Gebet, so dass es sich nicht mehr zu Gott erheben kann. Die Frömmigkeit wird hart und innerlich leer.
(b) Manch einer ist ein verlorenes Schaf. Oder auch ein Wolf im Schafspelz. Dann handelt er mit ausgewachsener Bosheit. Damit richtet er viel Schaden an – vielleicht auch bei mir persönlich. Den größten Schaden richtet er aber immer noch bei sich selbst an: Er verkauft seine Seele. Denn wenn er nicht bereut, wird er einmal ins ewige Feuer geraten. Gegen die Bosheit anderer darf und soll man sich und andere natürlich schützen. Das ist legitime Selbstverteidigung. Laxheit gegen Terroristen etwa ist fahrlässige Dummheit. Aber Schutz ist nicht Hass. „Die Sünde hassen, den Sünder lieben!“, das ist die goldene Regel, sozusagen der Impfschutz gegen Ansteckung. Taten wie einen terroristischen Akt oder auch nur die Gehässigkeit eines Nachbarn kann ich verurteilen, aber die Täter bleiben immer noch Menschen, Bilder Gottes, meine Nächsten. Nicht immer wird man allerdings etwas für Versöhnung und Wiederherstellung der Ordnung tun können. Eines aber ist immer möglich: für den anderen zu beten – und natürlich auch für sich selbst, damit man nicht der Macht des Bösen schutzlos ausgeliefert ist, sondern die ganze Macht des Feines überwinden kann (vgl. Lk 10,19).
(c) Gott ist Richter. Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern lasst Raum für den Zorn Gottes; denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, spricht der Herr (Röm 12,19 mit Dtn 32,35.41). Ja, es nimmt mir eine zentnerschwere Last von den Schultern, wenn ich weiß: Alles, was geschieht, wird einmal gerichtet. Es gibt Lohn und Strafe. Ewigen Lohn und Strafe. Denk an das Ende, lass ab von der Feindschaft, denk an Untergang und Tod, und bleib den Geboten treu!, sagt Jesus Sirach darum prägnant (Sir 28,6). Wer darum Böses tut, schadet sich selbst am meisten. Darum muss ich hier und jetzt nicht überall für Recht und Ordnung sorgen, und auch unser Land muss das nicht in der ganzen Welt. Es reicht, in einer chaotischen Welt das Gröbste zu verhindern, Eskalationen zu vermeiden und wenn möglich den nächsten Schritt zur Versöhnung zu gehen – vom erhitzten Streit am Biertisch bis hin zu den Raketenprovokationen von Nordkorea.
(d) In einer geordneten Gesellschaft gibt es Vorgesetzte wie Eltern, Großeltern, Lehrer, Bischöfe und Pfarrer, leitende Angestellte am Arbeitsplatz, aber auch staatliche Institutionen. Sie haben Aufsichtspflichten. Deshalb sind sie verpflichtet, Ordnung zu wahren, zur Ordnung zu führen und die Ordnung gegen Störungen zu verteidigen. Erste Aufgabe des Staates ist es, Verbrechen, Mord und Totschlag zu verhindern, innere Ordnung und Sicherheit herzustellen und die Übeltäter zu bestrafen. Nächstenliebe auf Kosten der Sicherheit darf es darum im Staat nicht geben. Den Leuten Geschenke machen – auch Wahlgeschenke! -, damit man gern gehabt wird, nein, dann haben Regierende ihren Beruf verfehlt. Immer nur lieb sein, alles durchgehen lassen, bloß warme Worte machen, ohne einzugreifen, das ist Pflichtverletzung und keine Liebe. Oft genug wird gewissenhaften Vorgesetzten persönlich dafür mehr Undank als Dank entgegengebracht. Darüber nicht bitter und hart zu werden oder der Versuchung zu erliegen, den Leuten nach dem Mund zu reden, das ist die eigene Tugend der Vorgesetzten.

2. Augenmaß im Konkreten

Die Situationen sind in der Tat sehr verschieden: einfache Antipathie, echte Verletzungen oder auch ausgemachte Straftaten. Ebenso verschieden sind die angemessenen Verhaltensweisen.
(a) Da sind Leute, mit denen wir einfach nicht können. Antipathie, also Blutdruck 180 auf den ersten Blick. Wir können uns noch so bemühen, die Chemie stimmt nicht, und selbst ein Gespräch bloß übers Wetter wird nur Krampf. Manchmal versteht man, was dahintersteckt, und kann daran arbeiten: Eine Kollegin ist etwa ganz so wie meine ältere Schwester, die mir bei allem dreingeredet hat. Oft muss man allerdings einfach damit leben. Da ist es ein großes Verdienst, wenn man trotzdem höflich bleibt, freundlich und hilfsbereit und die Kollegin nicht schneidet oder ihr gar schadet. Also bei der gemeinsamen Kaffeepause im Betrieb, da muss man sich nicht unbedingt direkt neben sie setzen, aber auch nicht den anderen alle extra viel Kaffee aus der Thermoskanne einfüllen, damit es bei ihr nur noch ein paar Tropfen gibt und dann noch heuchlerisch sagen: „Oh, das tut mir jetzt aber leid!“ Nein, ist es einmal zu bösen Worten oder einem solchen hässlichen Verhalten gekommen, dann entschuldigt man sich ohne Wenn und Aber.
(b) Da hat mir jemand zutiefst wehgetan – bis hin zu Ehebruch, Gewalt, Missbrauch und schwerer Beleidigung. Zorn, Empörung, Widerstand, Verlangen nach Bestrafung, das ist da ganz legitim, besonders im ersten Aufkochen der Gefühle. Ein Christ muss seine Gefühle keineswegs verbiegen, verleugnen und süßsäuerlich lächeln, wenn ihm nach Schreien zumute ist. Eine Zeit lang wird man den anderen vielleicht auch schneiden, um ihm klarzumachen, wie sehr er ihm wehgetan hat. Doch umso wichtig er ist es, nach und nach Abstand zu gewinnen, Vernunft und Augenmaß sprechen zu lassen und ein vernünftiges Verhältnis zu ihm zu gewinnen – einschließlich dessen, dass man sich vielleicht versetzen lässt, um nichts mehr mit ihm zu tun zu haben. Manchmal hilft eine Aussprache, oder es ist gar ein ausdrückliches Wort der Versöhnung daran, wenn es dem andere darum bittet. Siebenundsiebzigmal vergeben, so sagte der Herr. Versöhnung, das heißt übrigens nicht, dem anderen jetzt gut Freund zu sein und sein Foto auf den Schreibtisch zu stellen (natürlich auch nicht, um es heimlich als Zielscheibe fürs Dartspielen zu benutzen!) oder bei seinem Anblick nur angenehme Gefühle entwickeln zu dürfen. Das wäre ein Zerrbild von Nächstenliebe. Nein, es geht um den Verzicht auf Hass und Rache oder positiv um die Bereitschaft, vernünftig, sachlich und hilfsbereit miteinander auszukommen, auch wenn es schwerfällt. Freilich, für all das braucht es Klugheit:
• Wenn ich etwa weiß, dass der andere Freundlichkeit nur als Schwäche auslegt und dann noch nachdoppelt, dann sind klare Abgrenzung und Selbstschutz vorrangig.
• Verzeihung bedeutet auch nicht, auf Wiedergutmachung des Schadens zu verzichten, den der andere mir zugefügt hat. Dafür wird man nicht gleich zum Kadi rennen, aber wenn nichts anderes hilft und wenn die Sache schwerwiegend genug ist, ist der Gang zum Gericht auch nicht ausgeschlossen.
• Oft fällt jemandem das ausdrückliche Wort „Entschuldige bitte!“ schwer, zu schwer. Darum reicht es vielfach, aus seinem Verhalten zu schließen: Es soll wieder gut sein.
• Es gibt ein Minimum und ein Maximum, oder besser in biblischer Sprache: Gebot und Rat. Geboten, also unbedingtes Minimum, ist der Verzicht auf Hass und Rache, das Bemühen um Versöhnung und der Umgang wie mit einem nicht besonders verbundenen Menschen. Auf freiwilliger Basis rät die Bergpredigt – die viel zitierte rechte und die linke Wange! – dagegen zu mehr, nämlich sich ganz besonders um den zu mühen, der einem Unrecht getan hat. Konkret: Eine Ehe ist zum Ehekrieg ausgeartet. Legitim ist die Trennung, oft schon einfach zum Selbstschutz. Der Abstand kann auch dazu helfen, die übelsten Gefühle allmählich zu überwinden. Doch eine besondere Liebe nach dem Rat der Bergpredigt wäre es nun etwa, täglich für den anderen zu beten.
(c) Da hat jemand in der Tat Strafe verdient – wir sprechen darum von Straf-Taten. Der Wunsch, dass den Täter die gerechte Strafe ereilt, dass er von seinem Posten zurücktreten muss oder dass er aus dem Verkehr gezogen wird, um nicht weiter Böses anzustellen, kann durchaus vom Gerechtigkeitsgefühl diktiert sein, und das ist gut. Dennoch gibt es da eine unsichtbare Grenze: Wenn ich sie überschreite, werde ich ein Michael Kohlhaas (Heinrich von Kleist). Unmerklich wird mein Wunsch nach Gerechtigkeit maßlos, und in Gedanken, Worten oder gar Taten lasse ich mich zu Hass, Vernichtungswillen, übler Nachrede, Verleumdung u.a. hinreißen. Wie soll da noch Platz sein, „den Sünder zu lieben“? Nein, da habe ich mich angesteckt und bin selber ein Sünder geworden. Das geschieht oft unmerklich. Darum muss man gerade in solchen gespannten Situationen immer wieder Gewissenserforschung anstellen und um die Liebe beten, dabei auch streng mit sich sein und sich keinen Keim des Hasses durchgehen lassen.
(d) In der „Gemeinderegel“ im Matthäusevangelium heißt es: Wenn man jemanden unter vier Augen, dann mit zwei oder drei Zeugen und schließlich mit der ganzen Gemeinde kritisiert hat, aber es hat alles nichts geholfen, dann sei er dir wie ein Heide oder ein Zöllner (Mt 18,17). Manchmal ist Abstand halten die beste Nächstenliebe – eben wieder ganz wie bei Ansteckungsgefahr. Doch auch das ist relativ: Die üblichen Zeichen der Höflichkeit, also etwa sich zu grüßen oder Rücksicht aufeinander zu nehmen, darf man auch da dem anderen nicht versagen.

Klarheit im Grundsätzlichen und Augenmaß im Konkreten, auf diesen beiden Pfeilern steht die Lehre von der Feindesliebe fest und bleibt lebensnah. – In früherer Zeit soll es einmal vorgekommen sein, da hat ein Bischof bei der Visitation einen Pfarrer gefragt: „Wie viele Feinde haben Sie in Ihrer Gemeinde?“ „Keine!“, war die erstaunte Antwort des Seelenhirten. Um wie viel erstaunter war er da aber über die Erwiderung des Bischofs: „Wenn ich das nächste Mal komme, haben Sie wenigstens drei Feinde!“ Der Bischof kannte das Leben. Wo gehobelt wird, fallen Späne, und wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Reibereien, ja manchmal auch zu tiefsitzenden Feindschaften. C‘est la vie! So ist das Leben. Das lässt sich nicht vermeiden. Umso wichtiger ist es, in Richtung Versöhnung zu arbeiten und nicht die Feindschaft nach und nach alles andere auffressen zu lassen.

– Dieser Blog kann in Pfarrbriefen, Flyern usw. nach vorheriger Anfrage bei andreas.wollbold@lmu.de abgedruckt werden –

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