Jean-François Mattéi, Le procès de l‘Europe. Grandeur et misère de la culture européenne (= intervention philosophique), Paris: PUF 2011

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Jean-François Mattéi (1971)

Jean-François Mattéi (1941-2014), engagierter politischer Philosoph, Politikwissenschaftler und Politikberater, ist ein durch und durch französischer Intellektueller: breit gebildet, verwurzelt im großen Erbe abendländischer Philosophie (besonders Platons, dessen Aktualität er wie selten ein anderer herauszustellen versteht), tief europäisch (mit einem besonderen Faible für mittel- und osteuropäische Intellektuelle wie Jan Patočka), stolz auf den esprit français von Descartes über Diderot, Voltaire und d‘Alembert, über Charles Baudelaire, Julien Benda und Albert Camus bis Emmanuel Lévinas und Rémi Brague, allerdings dezidiert gegen Jacques Derrida, die Dekonstruktivisten und Multikulturalisten, und genau in dieser Frontstellung eben auch ganz französisch: mit Geist, Mut und Spitze dem Gegner ins Angesicht widerstanden, ohne eine imaginäre Mitte zu suchen, die den Konsens auf Kosten der Wahrheit betreibt.
Wahrheit, genauer die theoria jener Wahrheit, die alles Partikuläre des Faktischen, Sichtbaren transzendiert, somit die stets unruhige, nie abgeschlossene, sich auch leicht gegen sich selbst wendende Bewegung der Suche nach Erkenntnis, nach Prinzipien, nach dem Universellen, nach dem Wesen hinter der Erscheinung, nach dem Menschen in den Menschen, diesen Gestus der Öffnung zum Universellen erkennt Mattéi als Genius Europas. Er macht seine Überlegenheit in den Kulturen der Welt aus, wie Mattéi sich nicht scheut, unmissverständlich zu unterstreichen. (Ironischerweise hat diese Überzeugung bei ihm eine sehr persönliche, partikuläre Wurzel: Er ist in Algerien geboren, also ein sogenannter pied noir, und musste mit 21 Jahren bei der Unabhängigkeit 1962 das Land mit seiner Familie verlassen – sicher ein Grund für seine entschiedene prise de position im clash of civilisations.) Allein dieser Gedanke macht die Überlegungen des lange in Nizza und Aix-en-Provence lehrenden Professors zu einem Leuchtturm im oft unseligen Clinch zwischen Multikulturalisten und Vertretern einer „Leitkultur“. Denn in immer neuen Anläufen weist er nach, dass Europa gerade durch seine Öffnung zum Anderen, durch sein Wissen um das Universelle und damit um das mit allen Menschen und Kulturen Verbindende, durch seine Horizontüberschreitung – und zwar primär geistig und eben nicht mit den Waffen des Militärs oder der ökonomischen Überlegenheit – sowie durch seine permanente Selbstkritik  einzigartig ist. Es hat, wie er an einer Stelle genauer ausführt, eine Metakultur geschaffen, die überhaupt erst einen Rahmen für das Miteinander der Kulturen bereitstellt. Das Motto „Plus ultra“ von Karl V., in dessen „Reich die Sonne nicht untergeht“, wird dadurch zur Devise des europäischen Geistes.

Foto: Claude TRUONG-NGOC

Der „Prozess“ gegen Europa, d.h. die Anklage der Welteroberung, des geistigen Kolonialismus, der Überfremdung und Geringschätzung nicht-europäischer Kulturen, letztlich aber die Negation dessen, was in zweieinhalb Jahrtausenden auf diesem Kontinent gewachsen ist und nach Überzeugung des Autors auch die Grundlage einer Weltgesellschaft bilden müsste, ist selbst Folge jener typisch europäischen Fähigkeit, die eigene Identität zu hinterfragen. Denn dies schließt auch die Möglichkeit ein, sie zu negieren. Doch, so Mattéi weiter, diese Anklage setzt voraus, was sie bekämpft; darum kann der Prozess gegen Europa nur mit einem non-lieu, einer Einstellung des Verfahrens, enden. Kronzeuge dabei ist ihm die einprägsame Unterscheidung Henri Bergsons zwischen einer geschlossenen und einer offenen Religion und überhaupt Gesellschaft. Erstere ist durch pression, zweitere durch aspiration gekennzeichnet (26). Somit Druck, Funktionalität, Selbsterhalt und nackte Identität in bloßer Abgrenzung vom Anderen auf der einen, Suche, Öffnung, Entdeckung des Anderen gerade aufgrund der eigenen Identität, Transzendenz als Selbstüberschreitung auf der anderen Seite. Europa nun ist nach Mattéi die Kultur der Öffnung. Er rekonstruiert sie mit Hilfe Platons durch den Primat der Idee, also einer geistigen Wirklichkeit, die von der Tyrannei des Faktischen, des „So und nicht anders“ befreit. Aus diesem Grund bilden Philosophie, Erkenntnisstreben, Schule und Universität, Kunst und Kreativität, schließlich auch Selbstreflexion und Selbstkritik das Fundament für die Entwicklung Europas. Sie sind mehr als eine bloße Begleiterscheinung einer auch ohne sie prosperierenden Gesellschaft. Ohne sie wäre Europa nicht Europa. Darum ist diese Seele Europas gleichzeitig auch ihre Achillesferse, und ihrer Verteidigung gilt die Verve Mattéis. Denn es gibt eine ganze Welle von „Halb-Barbaren“ (Nietzsche) im Multikulturalismus, gender studies und affirmative action, die genau diese Seele leugnen oder, schlimmer noch, ihr eine Unzahl von Übeln anlasten, um sie zum Schweigen zu bringen. Jeder Anspruch auf Wahrheit, Universalität und Verbindlichkeit wird als Verletzung der Gleichheit der Kulturen und der Förderung von Minderheitskulturen abgelehnt. Mattéi weist dagegen nach, dass allein schon diese Forderung nur möglich ist durch eine Kultur, die es gelernt hat, sich selbst zu überschreiten. Ihre Überlegenheit ist nicht ethnozentrisch oder neokolonialistisch, sie verletzt nicht die grundlegende Gleichheit der Menschen, sondern sie legt deren Grund frei: die Menschennatur hinter dem partikulären hic et nunc einzelner Menschen und Menschengruppen.

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Europa als Königin in einer alten Karte

Ertrag
Mattéi stellt sich mit seinem Essai in eine Reihe mit den großen Verteidigern des europäischen Geistes, die seine Würde nicht primär in technischen, sozialen oder politischen Errungenschaften sehen, sondern in seiner „Seele“, also einem geistigen habitus, erkennen. In einem faktischen Europa, das an seiner Bürokratie, seiner Funktionalität in einem seltsamen Gemisch von Politik und Ökonomie, seinem Geschacher von Partikularinteressen, seiner geradezu skrupulösen Negation eines verbindliche Erbes eher einem kranken Mann an Mittelmeer, Atlantik und Ostsee gleicht als jener schönen phönizischen Königstochter gleicht, die den Göttervater Zeus bezauberte, sind solche Gedanken Labsal. Besonders die Fähigkeit des Philosophen besticht, die stupide Frontstellung eines Wir gegen die Anderen zu überwinden (leider die Kehrseite des Multikulturalismus, im Grunde ebenso nihilistisch wie dieser). Dazu muss man nicht allen Schlussfolgerungen dieses überlegenen und geschickt argumentierenden Verteidigers wird man folgen:
•    Insbesondere sein Plädoyer für die Überlegenheit Europas postuliert letztlich mehr als nötig. Zumindest müsste genauer geklärt werden, in welcher Hinsicht dies gilt und in welcher nicht.
•    Die tiefe Ambivalenz Europas – grandeur et misère, wie es in Anklang an Blaise Pascal im Titel heißt! -, nach dem Höchsten zu streben und am tiefsten zu fallen, könnte anstelle des Superioritätsanspruchs zur Grundlage der Selbstreflexion der europäischen Identität gewählt werden.
•    Auch müssten in außereuropäischen Kulturen Ansätze einer solchen Offenheit auf das Universelle gewürdigt werden. Da sind Mattéis Kenntnisse offensichtlich deutlich geringer. En passant, ein wenig erstaunlich (und doch wieder recht französisch) ist, dass nirgendwo das Weltkultur-Experiment Amerika (mit seinen beiden Lungenflügeln von Nord- und Mittel- bzw. Südamerika) als Versuch einer Vermittlung zwischen Europa und dem Anderen gewürdigt wird.
•    Schließlich dürfte man gerade in der Tradition eines europäischen (und nicht zuletzt christlichen) Personalismus daran erinnern, dass Werturteile primär auf Personen, ihre Einstellungen und ihr Verhalten zielen und nur davon abhängig auch auf Kulturen ausgeweitet werden können. Beim Jüngsten Gericht stehen Individuen vor dem Richterstuhl Christi und nicht Völker und Kontinente.
Dennoch, Mattéi ist es gelungen, die Debatte auf ein höheres Niveau zu heben. Europa und die Weltkulturen (latent ist da natürlich immer auch der Islam), das ist kein Boxkampf, bei dem der Stärkere den Schwächeren durch k.o. besiegt. Es ist die Grundfrage der Globalisierung: Wie kann Begegnung, Austausch und freier Strom von Waren, Personen und Ideen gelingen? Seine Antwort: Nur auf der Grundlage einer Aneignung dessen, was Europa in mühevollen Erkenntnisprozessen über viele Epochen hinweg geschaffen hat: eine Kultur der Öffnung, die nicht gleichmacht und dadurch letztlich allen Wert zunichte macht, sondern universelle Prinzipien zu formulieren versteht, deren Beachtung allein den erbarmungslosen Kampf der Kulturen verhindern kann.

2 Gedanken zu “Jean-François Mattéi

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