(Quelle: Institut Jean-Marie-Lustiger)

Ob ich gerne Priester unter dem Erzbischof Lustiger gewesen wäre, weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Wie alle Propheten, ganz wie sein Freund Johannes Paul II., war er kein großer Verwalter, hatte er nicht den geringsten Sinn dafür, dass Leitung dann mit sich selbst zufrieden sein kann, wenn alles bloß läuft wie geschmiert. Wie heißt es irgendwo in einem lehrreichen Buch – ich habe vergessen, welches, das Wort wird so selten zitiert: „Weh euch, wenn euch alle Menschen loben!“ Wobei Lustiger sich sehr wohl bewusst war, wie er einmal bekannte, dass Aktenstudium, Konferenzregie und selbst gelegentlich ein bisschen Diplomatie und Lobhudelei zu den Amtspflichten eines Oberhirten gehören, so sehr es ihn drängte zu Predigt, Begegnung und Seelsorge. Welches Alphabet eines Priesters er übrigens mit Leidenschaft bereits als Studentenpfarrer an der Sorbonne (1954-1959) und in der Ausbildung für die Hochschulseelsorge (1959-1969), als Pfarrer von Sainte Jeanne de Chantal (1969-1979) und als Bischof von Orléans (1979-1981) erlernte. Aber zurück zum Thema. Er hatte ein glasklares Bild von dem, was er von der Kirche, den Gläubigen und den Priestern erwartete, und wer dem Bild nicht entsprach…. Andererseits, welche Gnade, an einer bescheidenen Stelle mitwirken zu dürfen, wo eben nicht nur die Kirchenmaschine läuft und man weiß zuweilen nicht mehr wofür und wohin.

Doch diese Möglichkeit eines Wirkens unser seinem Bischofsstab hat sich nie aufgetan, und so bleibt die ungetrübte, aber auf mehrere Begegnungen, Lektüren, Berichte von Freunden und zuletzt ein eindrucksvolles Lustiger-Symposium begrenzte Erinnerung. Erinnerung, da war die Teilnahme an Priester- und Diakonenweihen in Notre-Dame. Eine aufmerksame Seele hatte mich ihm zuvor in der Sakristei als „prêtre allemand“ vorgestellt, und beim Friedensgruß kam er dann mit kraftvollem Schritt auf mich zu, ergriff meine Schultern und sprach, indem er jedes Wort betonte: „Der Friede sei mit dir.“ Ob ihm bei jedem Deutschen seine Mutter in den Sinn gekommen ist, die in Auschwitz ermordet wurde? Oder das Drama eines Volkes, dessen Kultur er liebte und das er 1936/37 bei einer Gastfamilie in Heidelberg im Alltag beobachten konnte?

Großer Interviewband „Le Choix de Dieu“

Bei einer späteren Gelegenheit – der Kardinal war schon emeritiert und litt leider schon deutlich an seiner Krebserkrankung der Stimmbänder – durfte ich ausführlich mit ihm sprechen. Doch angesichts der beginnenden Gebrechlichkeit beeindruckte mich seine geistige Größe und Klarheit nur umso mehr. „Wenn unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so wächst doch der innere von Tag zu Tag“ (2 Kor 4,16). Bald waren wir bei seinem zweiten Deutschlandaufenthalt als Offizier in Berlin (1950). Damals war er bereits getauft, und seine Priesterberufung bereitete sich vor. Erzählt hat er von etwas anderem. Damals hatte er beobachtet, am Ende der Nachkriegszeit waren die einfachen Leute noch durchaus gläubig, wenn auch gewiss oft auf ihre Weise. Anders die Intellektuellen – bei dem Wort blitzte sein Auge auf, denn man muss wohl schon ein Franzose sein, um den Glanz dieses Standes ohne jedes Wenn und Aber von Gelehrtenmief und Elfenbeinturm zu begreifen. „Sie glaubten schon damals nichts mehr. Einfach nichts.“ Erst später kam mir die Frage, ob er damit nur Professoren, Literaten und Journalisten der westlichen Öffentlichkeit meinte oder auch tonangebende Theologen und Kirchenleute, liberale Protestanten und aufbruchsbereite Katholiken. Zum zweiten Mal: Ich weiß es nicht. Eines aber weiß ich: Seine prophetische Schau bezog sich auf das auserwählte Volk, dazu berufen, inmitten der gojim unserer Tage die großen Taten dessen zu verkünden, der uns aus ihrer Finsternis befreit hat. Die Absonderung Israels, ohne sie ging auch in der Kirche überhaupt nichts. Im Gegenteil, wie er in seiner großen Zusammenschau „La promesse (Die Verheißung)“ herausarbeitet: Allezeit sind die Christen in der Gefahr, sich nicht aus ihrer Sitte und Kultur heraus dem Gott Israels zuzuwenden, sondern sich diesen Gott zurecht zu schmieden nach Bedürfnis und Brauchbarkeit, etwa als liebenden Allversöhner ohne Zorn und Gericht. Aus diesem Grund war übrigens für ihn die Predigt, die er mit Hingabe pflegte, nichts als Auslegung der Schrift, genauer: Heraus-Ruf Gottes an sein Volk.

Collège des Bernardins (Paris)

Bei der Umsetzung dieser Vision erwies er sich dann doch als ein großer Organisator. Er entwarf die Priesterausbildung vollständig neu und gründete dafür auch eine eigene Hochschule, das heutige „Collège des Bernardins“. Und das als Großkanzler des schon bestehenden „Institut catholique“! Alles war hier anders:

  • eine durchgängig in allen Fächern biblische Theologie – die Bibel allerdings verstanden als Wort Gottes, das der Kirche anvertraut ist;
  • eine Seminarausbildung in verbindlichen Gruppen in einigen der großen Pfarrhäuser der französischen Hauptstadt, nahe am Pfarrleben und unter der Leitung jeweils des Pfarrers zusammen mit einem Kaplan;
  • Pfarrer und in der Seelsorge tätige Priester, die gleichzeitig als Professoren wirkten;
  • eigene Studiengänge für ehrenamtliche Laien, damit sie ihren Glauben verstehen und vertiefen können.

„Was können wir in der Kirche tun?“, fragte ich ihn an einem Punkt des Gesprächs. „Beginnen Sie mit etwas Neuem!“, für diese Antwort brauchte er, alles andere als ein Traditionalist und in vielem immer noch der Studentenpfarrer der Umbruchsjahre, nicht lange zu überlegen. „Vergeuden Sie nicht Ihre Energie damit, Festgefahrenes irgendwie wieder zum Laufen zu bringen! Trauen Sie dem Ruf Gottes und zögern Sie nicht!“ Ganz Lustiger. Wieso fällt mir da Abraham ein, der Vater im Glauben?

[Vor zehn Jahren, am 5. August 2007, ist Aron Jean-Marie Lustiger verstorben.]

Je suis né juif. J’ai reçu le nomde mon grand-père paternel, Aron. Devenu chrétienpar la foi et le baptême, je suis demeuré juif comme le demeuraient les Apôtres.J’ai pour saints patronsAron le Grand Prêtre, saint Jean l’Apôtre, sainte Marie pleine de grâce.
Nommé 139e archevêque de Paris par Sa Sainteté le pape Jean-Paul II, j’ai été intronisé dans cette cathédrale le 27 février 1981, puis j’y ai exercé tout mon ministère. Passants, priez pour moi.
+ Aron Jean-Marie cardinal Lustiger
Archevêque de Paris
[Inschrift über seinem Grab in der Kathedrale Notre-Dame in Paris]

 

Ein Gedanke zu „Aron Jean-Marie Lustiger (1926-2007)

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