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Gewissen – Heiligtum der Person oder moraltheologische Stopfgans?

Viel beschworen, wenig gekannt: das Gewissen. Neuerdings ist es auch der Katholiken liebstes Kind. Grund genug, es sich einmal genauer anzuschauen. Für eine Stopfgans der Moraltheologie ist es nämlich wirklich zu schade. Das Gewissen ist keine Ausrede für alle Fälle: Das ist ja ein Einzelfall! Ja, das wäre tragisch: Alle reden vom Gewissen und keiner hält sich daran. Das wäre so gefährlich wie Traumtänzerei beim Hochseilakt. Denn die katholische Lehre vom Gewissen ist filigran und präzise, nur so hält sie die Balance.

„Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes“ (Gaudium et Spes 16).

Was ist es nicht?

Was ist das Gewissen – oder vorweg die dankbarere Frage: Was ist es nicht?

  1. Selbstbestimmung, also Gewissensfreiheit? Zu wenig, denn „die Stimme des Gewissens“[1] tritt in ja gerade als ein Gegenüber auf. Es weckt, wo ich schlafe, es mahnt, wo ich in die Irre gehe, und es lässt sich nicht zum Schweigen bringen, wo ich eben selbst bestimmen will, was für mich richtig ist. Also niemals sagen: „Ich kämpfte mit meinem Gewissen, aber am Ende blieb ich Sieger.“
  2. Ein Warnschild: „Ich bin ein Einzelfall“? (Dieses Schild werden ja neuerdings in katholischen Lehrgebäuden geradezu inflationär aufgestellt.) Nein, gerade das Gegenteil: Gewissen richtet mich persönlich an dem aus, was Gut und Böse für alle ist. Insofern hält mir das Gewissen die universellen Gebote Gottes nicht einfach vom Leib, sondern erhebt in ihrem Namen gerade in mir ihren unbedingten Anspruch: „Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat“ (Gaudium et Spes 16, vgl. Mt 22,37-40; Gal 5,14). Dass der Gewissensspruch des einen sich vom anderen unterscheiden kann, liegt also nicht daran, dass er die vorgegebenen Gebote irgendwie unterhöhlt, so als wären diese nur niemals ganz erreichbare Ideale oder bloß Rohstoff, der in der einzelnen Situation zurechtgeschneidert werden müsste. Nein, dieser Spruch wendet diese objektiven, unwandelbaren Gebote ja gerade auf sich selbst an. Dass das Gewissen manchmal dem einen dieses, dem anderen jenes gebietet, hat vier andere Gründe: (a) Die eigene Person, die Situation und die Güter, die in ihr auf dem Spiel stehen, unterscheiden sich: Der Bademeister muss sich ins Wasser stürzen, um das Kind im 5-Meter-Becken zu retten, der Nichtschwimmer nicht. (b) Das Gewissen kann irren – aber dazu mehr weiter unten. (c) Es gibt persönliche Entscheidungen, die naturgemäß für jeden verschieden ausfallen müssen. Dazu zählt insbesondere die eigene Berufs- und Standeswahl (Ehe oder nicht; auch: dieser Partner oder er nicht; eine geistliche Berufung), aber auch innere Anregungen des Heiligen Geistes, etwas Besonderes zu tun, was nicht einfach unter ein Gebot fällt, z.B. einem Kranken beizustehen. (d) Schließlich hat jeder Mensch besondere Werte, die ihm etwas auftragen, was für ihn gilt, aber dadurch noch längst nicht für andere. So lebt etwa jemand aus Tierschutzgründen vegetarisch oder ein anderer setzt sich besonders für Flüchtlinge ein, weil in seiner Familie Vertreibung und neue Heimat eine bedeutende Rolle spielten.
  3. Ein Filter? D.h. eine etwas vornehmere Umschreibung dafür, dass jeder nach seiner Façon selig werden will? Also seine Vorlieben, Geschmäcker und Ziele hat und dementsprechend ein Recht auf ein eigenes Leben fordert? Nichts gegen die eigene Färbung des Glücks, aber Gewissen setzt dem „Hauptsache, ihr habt Spaß!“ etwas ganz anderes entgegen: „Tue das Gute und meide das Böse!“ Was ich auch tue, ich habe eine letzte sittliche Verantwortung. Was für den gläubigen Menschen heißt: Vor Gott stehe ich und ihm habe ich Rechenschaft für all mein Tun zu geben[2]: „Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern“ (Ps 139,1f.). Bittere Probe aufs Exempel dafür ist nach christlicher Überzeugung der Zustand der Verdammten in der Hölle. Das Schlimmste für sie ist der bittere Wurm des Gewissens, der in Ewigkeit nicht stirbt und ihnen vorwirft: „Ihr selbst habt euch hierher gebracht!“
  4. Gewissensfreiheit? Dieser Begriff schließlich stammt aus der Rechtssphäre. Moderne Demokratien basieren auf den Menschenrechten. Darum lassen sie dem Individuum Spielraum zur Entfaltung entsprechend seinem Gewissen. Niemand soll wegen seiner Überzeugungen diskriminiert werden. Eine wichtige Spielart der Gewissensfreiheit ist die individuelle Religionsfreiheit. Freilich, das Gemeinwohl und das Recht anderer begrenzen oft diese Gewissensfreiheit, etwa wenn Sektenangehörige ihren Kindern lebensrettende Bluttransfusionen verbieten wollten.

    Spuren in jede Richtung – welche ist richtig?

„Die Stimme Gottes im Herzen“

„Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein“ (Mk 7,21-23).

Ein bisschen sind wir durch die negative Methode doch auch schon dem nahegekommen, was Gewissen positiv ist. Soviel ist schon klargeworden: Es ist eine Stimme tief im eigenen Inneren, persönlich und unverwechselbar, und gleichzeitig tritt diese Stimme mir gegenüber, vertritt den Anspruch der Gebote und sagt mir mit letzter Autorität, was ich zu tun und zu lassen habe (oder auch nach der Tat: ob es gut war oder ob ich Gewissens-„bisse“[3] dafür empfinden muss.). Wie schön drückt diese Erfahrung das einfache Wort vom Gewissen als der Stimme Gottes im Herzen aus (oder genauer mit J. H. Newman: das Echo der Stimme Gottes, denn beim Gewissen betätigt sich ja die eigene menschliche Vernunft)!  Damit leistet sie ein Zweifaches: Gut und Böse werden zur Stimme aus meinem Innersten und ich habe einen Maßstab für den Umgang mit äußeren Pflichten.

Als Gott den Menschen schuf, legte er einen göttlichen Keim in ihn, einen lebendigeren und lichtvolleren Funken, damit er den Geist erleuchtet und ihn Gut und Böse unterscheiden lässt. Er heißt Gewissen und ist das Naturgesetz” (Dorotheus von Gaza, Über das Gewissen)

Eine Stimme aus meinem Innersten

Der ethische Anspruch ist nichts Äußerliches, sondern er erhebt sich aus dem Kern meiner Person: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist“ (Gaudium et Spes 16). Ohne Übertreibung kann man sagen: „Ich bin mein Gewissen.“ Wiederum zeigt sich das am eindeutigsten beim Jüngsten Gericht. Die alten Bilder lassen die Menschen da nackt und bloß vor dem Richterstuhl Christi erscheinen. D.h. nichts, was sie haben, zählt da noch, kein Besitz oder Ansehen, auch kein Aussehen oder Macht, nur noch sie selbst in ihrer Verantwortung vor Gott; alles liegt bloß vor dem, der „auf Herz und Nieren prüft“. Was am Jüngsten Tag vor der ganzen Welt geschieht, ereignet sich aber jeden Augenblick in der verborgensten Mitte des Menschen, wie ein ewiges Licht im Heiligtum seines Gewissen: das Gegenüber zu Gott in seinem sittlichen Anspruch. Folge ich ihm oder nicht?

So erhebt sich Gottes Wille und Weisung in meinem Innersten. Darum macht der Gehorsam den Menschen aber auch nicht zum Sklaven. Er ist nicht bloß Manövriermasse von Gesetzen und Geboten, so als wären sie kalte Betonwände, und er muss sich irgendwie an ihnen vorbeischieben. Nein, das, was allgemein gut ist, wird es hier für mich ganz persönlich, wird meine Wahrheit und meine Pflicht. Wenn ich mir selbst treu sein will, muss ich dieser Stimme folgen. Die christliche Philosophie hat dies mit einer wunderbaren Unterscheidung klargemacht. Danach ist der Kern des Gewissens („conscientia“) das Urgewissen, die „synderesis“. Thomas von Aquin wird da geradezu mystisch, so sehr stellt es für ihn die Spitze des menschlichen Geistes dar. Mit ihr tritt der Mensch wahrhaftig ein in die heilige Nähe Gottes. Jeder Mensch, denn das Urgewissen ist ihm mit seiner Natur mitgegeben. In einer einfachen, ursprünglichen Intuition schaut er dabei all sein Handeln auf seinen sittlichen Wert hin an. Diese „synderesis“ ist sozusagen das Nachtsichtgerät, das noch die dunkelste, undurchschaubarste Situation daraufhin durchleuchtet, wo hier Gut und Böse liegen. Gleichzeitig – das hat vor allem die Franziskanerschule um Bonaventura herausgestellt – gibt sie dem Willen sozusagen einen ständigen push in Richtung auf das Gute und einen Abscheu vor dem Bösen. Das kann man täglich am eigenen Leib erfahren, nämlich in der Freude am Guten. Sie gehört zu den schönsten und reinsten Stimmungen des Menschen: die „große Freude derer, die Gott fürchten (magnum gaudium piorum)“ und die „Herzensruhe (tranquillitas cordis)“.[1a] Die Erziehung früherer Generationen war streng. Weise aber war sie, wenn sie bei allem die Freude an der Tugend zu wecken verstand. Dadurch wurde das Strenge süß und das Schwere leicht, beinahe wie von selbst, denn nur im Gutestun ist ein Mensch ja ganz er selbst. Wenn ich z.B. einen kranken Ehepartner pflege, jahraus, jahrein, und wenn sich dann vielleicht bittere Stimmen erheben („Da hast du wirklich das ganz große Los gezogen! Sieh doch, wie unbeschwert die anderen leben, und du… all diese Plage… Und was hast du davon? Oft nur Gejammer und Beschwerden!“), dann steht das Gewissen dagegen auf. Das Großartige ist nun, es mahnt nicht nur streng zu Pflicht und Treue bis zuletzt, sondern es lächelt mich an, tröstet mich und gibt mir Kraft über meine menschlichen Kräfte hinaus. Und wie? Indem ich ohne lange nachzudenken – erst recht ohne die Rechnung „Was bringt mir das alles?“ – weiß: „Es ist gut so. Das entspricht dem, was ich zutiefst bin. Dafür bin ich auf Erden. Wenn mir Gesundheit geschenkt wurde, dann dafür, dass ich die Hände frei habe zu helfen.“ Ja, die Stimme Gottes im Herzen spricht die Sprache der Liebe, und wenn ich sie höre, schmelze ich dahin, so schwer auch das erscheinen mag, was sie verlangt.

Oh, um in den Genuss von tausend Jahren weltlicher Feste zu kommen, hätte ich keine zehn Minuten meines unscheinbaren Dienstes der Nächstenliebe hergegeben…. (Therese von Lisieux)

Hl. Therese von Lisieux im Karmel (Quelle: Archives du Carmel de Lisieux)

Ein Maßstab für alle äußeren Ansprüche

Im Gewissen sortieren sich aber auch die äußeren Gesetze und Gebote nach menschlich und göttlich:

(a) Menschliche Ordnungen: Was daran ist bloß menschliche Satzung, irdische Ordnung, vielleicht sogar bloß Diktat des Man? Dem gegenüber schafft das Gewissen dann Abstand und Freiraum. „Mein Gewissen bedeutet mir mehr als der Leute Gerede“, gibt Cicero diese Würde und Charakterstärke des Gewissenhaften wieder.[4]

  • Zum einen ermisst das Gewissen hier die Tragweite dieser Ordnungen, also ob jemand in einer bestimmten Situation tatsächlich daran gebunden ist – hier denkt man etwa an die Widerständler des 20. Juli 1944 und ihr Ringen darum, ob Tyrannenmord auch gegen die Pflichten zur staatlichen Gewalt oder bei den Soldaten gegen ihren Fahneneid auf Hitler erlaubt sei. Doch es kann auch viel alltäglicher z.B. sagen: „Ich muss meine Frau in Wehen ganz schnell ins Krankenhaus fahren, da kann ich nach einmal rechts und links schauen auch die rote Ampel überfahren.“
  • Zum anderen bemisst es die sittliche Qualität dieser Ordnungen. Es gibt Vorschriften, Erwartungen und Gewohnheiten, die sind böse, und man darf ihnen nicht im eigentlichen Sinn folgen – den kniffligen Fragen der Mitwirkung bei etwas Bösen sind wir an anderem Ort nachgegangen. Selbst wenn Eltern, Lehrer, Vorgesetzte oder Freunde von mir etwas Böses verlangen, darf ich es niemals tun. Hier gilt das goldene Wort der Apostel: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Das gilt übrigens auch für kirchliche Anordnungen, sofern sie nicht wie etwa bei den Sakramenten nur Gottes heiliges Recht wiedergeben, sondern menschengemacht sind.

(b) Göttliche Ordnungen und Gebote: Etwas ganz anderes dagegen ist all das, was Gott in die Natur des Menschen gelegt hat (das Naturgesetz, die „lex naturae“) sowie die Ordnung der Erlösung in Kirche, Wort und Sakrament (die „lex gratiae“). Das ist besonders in den aktuellen Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche wichtig, weil es nicht immer genau verstanden wird. Da tritt ja Gott selbst mit seinem heiligen Willen in mein Inneres ein. Hier schafft das Gewissen nicht Abstand, sondern Nähe, ja, gewissermaßen verschmelze ich mit darin mit der Weisung des Herrn. Darum binden diese Gebote auch immer und ausnahmslos, genauer: Negativ-verbietend ziehen sie eine rote Linie gegenüber dem, was ich niemals tun darf (z.B. niemals lügen), und positiv-gebietend fragen sie, wie ich sie in einer bestimmten Lage verwirklichen kann (z.B. die Wahrheit sagen, aber unter bestimmten Umständen auch besser schweigen oder ausweichend antworten).

Unnachahmlich hat dies Thomas von Aquin formuliert, aber es im Wesentlichen ist die allgemeine Lehre bereits der Kirchenväter[5]: „conscientia est lex intellectus nostri, quae est lex naturae. – Das Gewissen ist das Gesetz für unsere Vernunft, d.h. das Naturgesetz.“ Die Gesetzmäßigkeit, die Ordnung der Natur und der darin liegende sittliche Anspruch sind von Gott selbst geschaffen. Sie sind ganz gut und vollkommen, kein Makel und keine Unvollkommenheit ist darin. Deshalb gelten sie auch ausnahmslos für alle Menschen aller Zeiten. Die Zehn Gebote sind ihre unübertroffene Ausformulierung. Der entscheidende Punkt ist aber nun: Dieses Naturgesetz trifft den Menschen nicht mit aller Wucht von außen wie mit dem Holzhammer. Im Gewissen wird es nämlich zum inneren Gesetz jedes Menschen. Makrokosmos und Mikrokosmos, Welt und Person, Außen und Innen, sie entsprechen sich vollkommen. Wessen Geist nicht von der Sünde verdunkelt ist, für den wird das Naturgesetz auch ganz vernünftig sein.[6] D.h. wenn ich mir selbst treu sein will, dann folge ich ihm. Damit hat Thomas die biblische Freude an der Weisung des Herrn in philosophische Sprache übersetzt: „Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust“ (Deut 30,14, vgl. Röm 10,9).

So weit, so wunderbar. Leider ist nach dem Sündenfall Adams die konkrete Vernunft eben doch oft von vielen anderen Einflüssen geprägt, die diese vollkommene Harmonie stören. Das kann zu Gewissensqualen führen, zu Ungewissheit bei Entscheidungen, zu „Selbstverständlichkeiten“ in bestimmten Kulturen wie Polygamie oder Sklaverei, die im Widerspruch zum Naturgesetz stehen, aber auch zu Irrtum und schließlich auch zur Sünde bei einem ganz eingelullten Gewissen. Dennoch, wer nicht vollkommen verderbt ist, hat darin immer noch einen Funken vom Licht der Engel. Er bleibt auf das Gute ansprechbar.

„… dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich (Röm 2,15).

Gewissen praktisch

Wie geht nun das Gewissen konkret vor? Wiederum in Anlehnung an Thomas von Aquin könnte man vier Schritte gehen:

  1. Synderesis: Bei den Überlegungen vor einer Handlung oder beim Rückblick auf sie schalte ich zunächst einmal das „Nachtsichtgerät“ ein – sicher auch mit der Bitte um Erleuchtung. Dadurch richte ich all mein Denken, Fühlen, Schauen und Wahrnehmen auf das Gute aus, letztlich auf Gott und seinen heiligen Willen, die Quelle alles Guten.
  2. Der Blick nach oben: Nun mache ich mich fest im Grundsätzlichen, also in meiner Liebe und Treue zu Gott, und vergewissere mich seiner Gebote und seines Rufes (ratio superior nennt Thomas das).
  3. Der Blick ins Konkrete: Nun schaue ich auf die einzelne Situation und alles, was in ihr mitspielt. Dabei dürfen durchaus auch Fragen wie „Was bringt’s?“ eine Rolle spielen (die ratio inferior des Thomas).
  4. Der Weg zur Tat: Das Gewissen überlegt, aber es löst ein Verhalten aus. Vor der Tat heißt das zu entscheiden, was gut und richtig ist, nach ihr, sich im gewählten Verhalten zu bestärken oder es andernfalls bereuen und sich einen guten Vorsatz nehmen.[7]

Das irrende Gewissen

„Irren ist menschlich.“ Auch das Gewissen kann irren. Nicht sein moralischer Sinn selbst, die synderesis, wohl aber die konkrete Anwendung für einen Fall. Manche finden das ganz praktisch: „Es mag ja sein, dass ich eigentlich etwas Böses tue. Aber ich sehe das eben anders, und da kann ich mich auf mein Gewissen berufen. Damit bin ich doch aus dem Schneider.“ Das wäre eine gefährliche Selbsttäuschung und eine schuldhafte Form des irrenden Gewissens. Äußerst gefährlich, denn davon kann mein Heil abhängen. Frei von Schuld wäre das irrende Gewissen dagegen, wenn sich jemand redlich um einen verlässlichen Gewissensspruch bemüht. Darum einige Hinweise zum irrenden Gewissen und dem Umgang mit ihm.

  1. Gewissensbildung: Das Gewissen muss immer offen bleiben für seine Korrektur. Niemals darf man das „Nachtsichtgerät“ ausschalten: „Jetzt weiß ich genug“ oder gar „So wie ich es augenblicklich sehe, passt mir das am besten. Deshalb will ich da gar nicht mehr weiter nachdenken.“ Ständige Gewissensbildung ist notwendiger Teil der Gewissensentscheidung (vgl. KKK 1783-1785). Sie bleibt im Gespräch – zuerst mit Gott, dann auch mit denen, die mir seinen Willen authentisch auslegen. Erst dadurch zieht man überhaupt eine Grenze zur Diktatur des Man, des heute Üblichen oder der Gewohnheit ans Böse, das in meinem Umfeld zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Ebenso fordert diese Gewissensbildung beständige Bekehrung, also ein Heraus aus aller Verblendung durch Stolz, Selbstgerechtigkeit, Sinnlichkeit, falsche Anhänglichkeit oder fehlenden Mut, sich quer zum Trend zu stellen. Erst nach und nach und unter vielen Rückschlägen wächst man hinein in die Haltung, bei allem nach Gott und seinem Willen zu fragen, der in seiner Kirche spricht. Das ist nun sicher keine Einladung zur Skrupulanz. Offenbleiben heißt, die gewöhnlichen Mittel einsetzen, nicht sich ständig selbst zu verunsichern. Gewöhnliche Mittel, das bedeutet für den Christen, die Gebote und ihre Anwendung in den wichtigsten Lebensbereichen zu verinnerlichen, die Lehre der Kirche gut zu kennen, aufmerksam auf die eigenen Handlungen schauen und täglich Gewissenserforschung halten, sich von Zeit zu Zeit etwa in Exerzitien oder vor einer Beichte auch ein „Großreinemachen“ vornehmen, in schwierigen Entscheidungen um Erleuchtung zu beten und zuverlässige Personen um Rat zu fragen.
  2. Diese Offenheit schließt seitens anderer Menschen, besonders aber Verantwortlicher (Eltern, Erzieher, besonders aber kirchliche Amtsträger wie Bischöfe und Pfarrer) die Verpflichtung zur „correctio fraterna (geschwisterliche Zurechtweisung)“ ein, Betroffene auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen. Natürlich kann dies nur im Rahmen des Möglichen geschehen (manchmal müssen die Verantwortlichen sogar klug schweigen), aber sie sind durch ihr Amt und ihre Aufgabe grundsätzlich dazu verpflichtet. Selbst da, wo jemand bei seinem irrigen Gewissensspruch bleibt, dürfen Verantwortliche damit nicht Elemente der öffentlichen Ordnung (z.B. Voraussetzungen zum Sakramentenempfang) außer Kraft setzen. Einen irrigen Gewissensentscheid kann man respektieren, aber naturgemäß bindet er nur den Betroffenen, nicht andere, z.B. Priester mit ihrer eigenen Verantwortung als Seelsorger und Verwalter der Sakramente. Unter Berufung auf das eigene Gewissen kann man z.B. nicht den Kommunionempfang verlangen.
  3. Wichtige Leitplanken für schwierige Entscheidungen sind: (a) Niemals darf ich etwas in sich Böses tun (z.B. lügen oder die Ehe brechen), um damit etwas Gutes zu tun. Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Gerade die Diskussion um das 8. Kapitel von „Amoris laetitia“ hat gezeigt, dass an diesem Felsen viele gut gemeinte Vorstellungen von der Akzeptanz vom Zweitehen nach Scheidung scheitern. (b) Eine Meinung, die gegen eine definitive Lehre der Kirche steht, kann für einen katholischen Christen niemals einen sicheren Gewissensspruch darstellen. (c) Die Goldene Regel („Was du nicht willst, was man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“), verbunden mit echter Gottes- und Nächstenliebe, ist der beste Anhaltspunkt für eine rasche Orientierung.

Beinahe wie die Engel

Das Gewissen, die Stimme Gottes im Herzen, das Heiligtum der Person, die letzte Instanz, die Würde und der Ernst jedes Einzelnen – ja, Großes hat die katholische Lehre über es zu sagen. Thomas von Aquin meinte sogar, im Urgewissen sei der Mensch am meisten den Engeln gleich, denn darin ist er geborgen im Sinn für das Gute und damit letztlich seiner Ausrichtung auf Gott. Wie wunderbar ist es, das eigene Gewissen zu entdecken: Nicht meine Sinnlichkeit, meine Bedürfnisse, mein Eigennutz oder bloße Gewohnheit beherrschen mich, ich ertrinke nicht in der Masse, ich lebe nicht gedankenlos vor mich hin, nein, bei allem, was ich tue, richte ich mich auf, stelle mich vor Gott und frage ihn: „Was willst du, Herr, dass ich tun soll?“ (Apg 9,6).


[1a] Augustinus, Sermo 270 : PL 31,1242; Enarr. Pss. LIII: PL 36,625.
[1] Schon die Stoa entwickelt die Vorstellung, dass der Weltgeist im Menschengeist durch die Stimme des Gewissens wie ein Funken wohnt: „homines divini esse spiritus, partem ac veluti scintillas quasdam astrorum in terram desiluisse. - Die Menschen seien göttlichen Geistes, gleichsam als wären Funken von Sternen auf die Erde heruntergesprungen“ (Seneca, Ep., 41,2, vgl. Ep. 81,20). - Bei den außerchristlichen Quellen folge ich dem dichten Beitrag von Hans Reiner, Art. „Gewissen“, in: HWPh  3, 575—592.

[2] „Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird“ (Gaudium et Spes 16, vgl. Röm 2,14-16). - Dieses Kapitel von „Gaudium et Spes“ fasst knapp, aber sicher die katholische Gewissenslehre zusammen; vgl. umfangreicher und lehrhafter KKK 1776-1802.

[3] Schon Cicero spricht davon, dass jemand vom Gewissen gebissen werden („morderi conscientia“, Tusc. IV,45).

[4] „mea mihi conscientia pluris est quam omnium sermo“ (Att. XII,28,2); deshalb « tuo tibi judicio est utendum - Stütze dich auf dein eigenes Urteil!“ (Tusc. II,64f.).

[5] Das folgende Zitat stammt aus Quodlibet. 12,26,1; ähnlich STh I-II 94,1. - Die wichtigsten Texte des Thomas zum Gewissen finden sich in De veritate 15-17; STh I,79; Quodlibet. 12,26f.; Sent. lib. 2 d. 7,1;  24,2; 39,3; auch STh I-II 94 (passim zum Gewissen in der "lex naturae"). Vgl. Thomas Schwartz, Zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung: das Gewissen in der Anthropologie und Ethik des Thomas von Aquin (= Dogma und Geschichte 3), Münster 2001; Lisa Holdsworth, Aquinas and the natural habit of synderesis: A response to Celano, in: Diametros 47 (2016) 35–49. 

[6] Man hat daraus fälschlich geschlossen, dass Thomas eine autonome Morallehre, bei der der Einzelne sich einfach auf seine eigenen Überlegungen verlassen und zu seinen eigenen Entscheidungen kommen könne. Das übersieht jedoch fundamental, dass die Vernunft hier als Spiegel der Weltordnung verstanden wird und nur in Treue zu ihr auch recht entscheiden kann.

[7] Bei der Ausführung schließt sich nun die Tugend der Klugheit an, welche die angemessenen Mittel zum Ziel erkennt. In der neueren Diskussion wird das da Gesagte manchmal irrtümlich mit der eigentlichen Gewissenslehre vermengt (vgl. auch Michael Mager, Gewissen und Klugheit. Das Verhältnis des Gewissensaktes zu den Akten der Klugheit in der Handlungstheorie bei Thomas von Aquin [= Pontes 3], Münster 1999).
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  1. […] hin also zutiefst so, wie ich selbst vor Gott stehe, als ich selbst unter dem Anspruch meines Gewissens und damit restlos offen vor Gott. Meine Stimme darf in keiner Weise mein inneres Wort verleugnen. […]

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